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BERICHT/188: Es schreit das Volk - Kobani-Demonstration Düsseldorf (SB)


Spielball mächtiger Interessen - Kobani im Auge des Sturms

Bundesweite Großdemonstration für Kobani am 11. Oktober 2014


Demonstrationszug mit grün-gelb-roter Flagge - Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Kurdistan im Exil
Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Auf mehr als 80.000 schätzt das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., Civaka Azad [1], die Zahl der Demonstrationsteilnehmer, die am Sonnabend in Düsseldorf gegen die Angriffe des IS auf die im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei gelegene Stadt Kobani und die Bedrohung des gesamten, mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiets Rojava protestierten. Die Nachrichtenorganisation gelangte zu dieser Zahl, indem sie mehrere Personen auf der Höhe der Oberkasseler Brücke postierte, die den ganzen Demonstrationszug an sich vorbeiziehen ließen und dabei zählten. Die von der Polizei genannte und von den meisten Presseangaben verwendete Zahl von 20.000 bis 30.000 Demonstranten traf eher auf die Abschlußkundgebung vor dem Düsseldorfer Landtagsgebäude zu. Dieser Platz wurde jedoch von der Polizei wegen Überfüllung gesperrt, als erst ein Teil des insgesamt drei Kilometer langen Demonstrationszuges dort angekommen war.

In dieser beeindruckenden Manifestation internationaler Solidarität war zwischen kurdischen Nationalfarben, antifaschistischen und antikapitalistischen Sprechchören und den vielen roten Fahnen der türkischen Linken alles vertreten, was in diesem Kampf Gesicht und Stimme zeigt, um den vom IS bedrängten Menschen in Kobani den Rücken zu stärken. Der spektrenübergreifende Charakter der Demonstration zeigt auch, daß ideologische Prämissen zurückzustehen haben, wenn es um die Unterstützung der Bevölkerung eines Gebiets geht, dessen politische und gesellschaftliche Fortschritte weit über die kurdische Bewegung hinausstrahlen.

Bei grundsätzlicher Einigkeit in der Ablehnung des religiösen Fanatismus, des faschistischen Staatsterrors und der militärischen Aggression können die Strategien und Zielsetzungen, die zur Verteidigung Kobanis und Rojavas für notwendig erachtet werden, stark voneinander abweichen. So befinden sich unter den Unterstützern der Autonomie Rojavas Befürworter eines direkten Eingreifens der NATO wie strikte Gegner eines solchen Interventionismus. Antiimperialistische und internationalistische Parolen sind ebenso zu vernehmen wie Stimmen, die die Sache der in Syrien lebenden Kurden in den Kontext eines Regimewechsels in Damaskus oder einer Annäherung der kurdischen Bewegung an Israel stellen wollen.

So uneins man sich in den weiteren Konsequenzen dieses Kampfes sein mag, so einig sind sich die Unterstützerinnen und Unterstützer Kobanis und Rojavas darin, daß die türkische Regierung ihr Doppelspiel aufgeben und dem IS keine weitere militärische oder logistische Hilfe zukommen lassen soll. Auch wenn das konkrete Ausmaß dieser Kollaboration nicht bekannt ist, künden doch zahlreiche Beobachtungen und Indizien davon, daß die Regierung Erdogan nichts gegen die Nutzung der Türkei als Transit- und Hinterland für den IS unternimmt, sondern ein aktives Interesse daran hat, daß dessen Kämpfer die kurdische Bewegung zerschlagen. Insbesondere Rojava ist den islamistischen Fundamentalisten ein Dorn im Auge, wird mit dem dort entwickelten System der Geschlechtergerechtigkeit und der säkularen demokratischen Selbstverwaltung doch alles in Frage gestellt, für das die Adepten einer patriarchalischen, vermeintlich religiös legitimierten Diktatur im Namen des Islam stehen.

Transparente mit Solidaritätsadressen, gegen Staatsterror und PKK-Verbot - Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Fotos: © 2014 by Susanne Fasbender

Auf der Abschlußkundgebung in Düsseldorf wurde denn auch festgestellt, daß das militärische Eingreifen insbesondere der türkischen Streitkräfte in Kobani nicht erwünscht ist, aber auch Bodentruppen anderer Staaten sich als eher hinderlich für die künftige Entwicklung Rojavas erweisen könnten. Was die kurdischen Volksverteidigungskräfte YPK/YPJ allerdings benötigen, sind panzerbrechende und andere schwere Waffen. Ihre Angreifer verfügen über hochentwickelte Rüstungsprodukte US-amerikanischer Herkunft, die dem IS bei der Eroberung der nordirakischen Kurdenmetropole Mossul in die Hände gefallen sind. Dem Beschuß aus Panzerartillerie und mit Mörsergranaten haben die Verteidigerinnen und Verteidiger Rojavas nichts außer ihrer Entschlossenheit, diesen Kampf unter allen Umständen durchzustehen, entgegenzusetzen.

Sie benötigen daher die Öffnung eines Versorgungskorridors zum Kanton Cizir, der über türkisches Gebiet verläuft und von der Regierung Erdogan blockiert wird. Freien Zugang für humanitäre Hilfe, Truppen und vor allem Waffen zu erhalten, wäre längst möglich gewesen, wenn die türkische Regierung es nicht darauf anlegte, den IS ein blutiges Massaker an der in Kobani verbliebenen Bevölkerung verrichten zu lassen, um anschließend mit eigenen Truppen einzurücken und auf syrischem Gebiet eine 25 Kilometer tiefe Sicherheits- und Flugverbotszone einzurichten. Wenn deutsche Politikerinnen und Politiker den türkischen Präsidenten Erdogan heute quer durch die Bank dafür kritisieren, daß er seine an der Grenze zu Syrien postierten Panzer nicht in Marsch setzt, um Kobani zu retten, dann leiten sie damit Wasser auf die Mühlen eines türkischen Nationalismus, der sich, ob unter islamistischem oder kemalistischem Vorzeichen, die Zerschlagung der kurdischen Autonomiebewegung auf die Fahne geschrieben hat.

Lediglich Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke und Mitglied im Auswärtigen Ausschuß [2], stellt sich gegen das Eingreifen des türkischen Militärs und die darin enthaltene Option, die Kriegführung der NATO-Staaten in Syrien in den schlußendlichen Sturz Assads und eine territoriale Neuordnung des Landes münden zu lassen. Mit ihrer Forderung nach Einstellung aller militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Kooperation mit der Türkei, nach dem sofortigen Abzug der Bundeswehr und ihrer Patriot-Raketen aus dem Land wie der Einstellung der Beitrittsverhandlungen zur EU macht die Bundestagsabgeordnete deutlich, daß nur eine klare Gegenposition zur Instrumentalisierung des IS zum Zwecke eigener geostrategischer Absichten durch Erdogan hilfreich für die Verteidigung Kobanis wäre. Nur mit einer solchen Kampfansage könnte sich Ankara genötigt sehen, der Öffnung eines Sicherheitskorridors für Kobani und der Aufrüstung der kurdischen Verteidigungskräfte zuzustimmen.

Transparent 'Weg mit dem PKK-Verbot' - Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Überfällige Aufhebung politischer Repression
Fotos: © 2014 by Susanne Fasbender

Dagdelens Fraktionskollege Wolfgang Gehrcke forderte auf der Abschlußkundgebung unter anderem die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland. Dessen Aufrechterhaltung trotz der Zugeständnisse, die die Arbeiterpartei Kurdistans an die Regierung in Ankara in Form der am 21. März 2013 erklärten Waffenruhe und des Rückzugs der PKK-Einheiten aus der Türkei gemacht hat, belegt die Mitverantwortung der Bundesregierung für die Fortsetzung dieses Minderheitenkonflikts. Die von der Regierungspartei AKP betriebene Reislamisierung des Landes sorgt zudem dafür, daß auch diese Auseinandersetzung in die Konfrontation zwischen einem säkularen und einem religiösen Gesellschaftsentwurf integriert wird.

Der kulturalistische Charakter der Offensive des IS scheint die von der US-Regierung nach den Anschlägen des 11. September 2001 ausgegebene Devise, man habe es mit einem Angriff auf die eigenen zivilisatorische Werte zu tun, der mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden müsse, zu bestätigen. Diese Position war jedoch schon vor diesem Datum unglaubwürdig, bediente sich die US-Regierung doch in Afghanistan wie in anderen Ländern der reaktionärsten Kräfte, um ihre Interessen durchzusetzen. Wenn sich der stellvertretende Vorsitzende der PYD, Salih Muslim, ausdrücklich für die Bombardierung von IS-Stellungen bei Kobani durch die USA bedankt, dann ist das angesichts der höchst bedrängten Lage der nordsyrischen Enklave allemal verständlich. Die auf der Demonstration geäußerte Meinung [3], daß die vorherige Strategie der US-Streitkräfte, Luftangriffe in größerer Distanz zu Kobani zu fliegen, für dessen Verteidigung eher kontraproduktiv war, erinnert wiederum an das bis dahin eher zögerliche Eingreifen der US-Regierung. So gab das Pentagon noch vor wenigen Tagen bekannt, daß Luftangriffe auf die Kommandostäbe und Transportwege des IS Vorrang vor dem Schutz Kobanis hätten.

Die in der deutschen Linken heftig diskutierte Frage, inwiefern man überhaupt einer militärischen Unterstützung der kurdischen Verteidigungskräfte durch die NATO zustimmen könne, erscheint dem notgedrungenen Ruf nach Hilfe gegenüber als Ergebnis einer distanzierten, wenn nicht leichtfertigen Beurteilung der Lage. Sie reflektiert allerdings auch Fragen der strategischen Positionierung der diversen Kriegsparteien im Nahen und Mittleren Osten wie deren Auswirkung auf die Zukunft kleinerer Akteure wie der kurdischen Bewegung, die in den verschiedenen Teilen ihres sich über mehrere Länder erstreckenden Siedlungsgebietes ganz unterschiedlichen politischen Bedingungen ausgesetzt ist.

Die Verteidigerinnen und Verteidiger Rojavas befinden sich über ihre akute Notlage hinaus in dem Dilemma, größtenteils von Feinden umgeben zu sein und mit großem politischen Geschick manövrieren zu müssen, um in dieser Gemengelage überhaupt einen eigenständigen Weg gehen zu können. So stehen sich mit dem Iran und Saudi-Arabien wie den anderen arabischen Golfstaaten zwei regionale Kontrahenten gegenüber, die im Bürgerkrieg in Syrien allein ihre eigenen Interessen im Sinn haben. Daß der IS überhaupt zu einer nennenswerten Größe in diesem Kampf erstehen konnte, ist wesentliches Ergebnis der Eroberung des Iraks durch die US-geführte Kriegskoalition und der erklärten Absicht der NATO-Staaten, einen Regimewechsel in Syrien herbeiführen zu wollen. Wenn es zutrifft, daß der syrische Präsident Bashir al-Assad den IS weitgehend gewähren läßt, dann wäre das lediglich ein weiteres Beispiel für die Instrumentalisierung einer Kriegspartei für ganz andere Zwecke, als diese selbst im Schilde führt.

Frau mit Transparent 'Stoppt den Genozid an Eziden!' - Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Fast schon wieder vergessen ... bedrängte Eziden
Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Der offene Kriegseintritt der USA und ihrer arabischen Verbündeten in Syrien ist eben nicht nur dem Niederkämpfen des IS gewidmet, sondern der Fortsetzung des vor einem Jahr abgebrochenen Vorhabens, die Regierung in Damaskus mit eigenen Interventionskräften zu beseitigen. Dies wiederum richtet sich gegen den mit Syrien und der libanesischen Hisbollah verbündeten Iran, der seinerseits versucht, mit eigenen Truppen im Kampf gegen den IS im Irak strategischen Boden zu gewinnen. Im globalen Maßstab stehen sich die NATO auf der Seite der sunnitischen arabischen Staaten und Rußland als Schutzmacht des Irans und Syriens feindselig gegenüber. All das hat das Potential, zu einem Krieg zu entufern, der den Nahen und Mittleren Osten auf längere Zeit hinaus in Atem halten wird und in die von Washington angestrebte Neuordnung der Region unter eigener Hegemonie münden könnte.

Transparent 'Freiheit für Palästina und Kurdistan' - Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Brennpunkte kolonialistischer Vergangenheit und Gegenwart
Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

In dieser von machtpolitischen Hebelwirkungen, die den Verlauf lokaler und regionaler Konflikte von höherer strategischer Warte aus beeinflussen, bestimmten Situation wäre etwa ein Kriegseintritt der Bundeswehr im Rahmen des von der Türkei betriebenen Bündnisfalls der NATO von unabsehbarer Konsequenz. Läßt man die Kriege seit 1991, als der Irak mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung von den bis dahin mit Saddam Hussein verbündeten USA angegriffen wurde, Revue passieren, so haben die Kriege der ehemaligen Kolonialmächte und imperialistischen Führungsmacht in diversen arabischen Staaten regelmäßig von islamistischen Gruppen beherrschte und auf feudalistische Strukturen zurückgeworfene Trümmerwüsten hinterlassen. Die in den westlichen Metropolengesellschaften anhaltende Krise des Kapitals gibt wenig Anlaß zur Hoffnung, daß sich an der Neigung, die eigenen Probleme in andere Weltregionen zu exportieren, absehbar etwas ändert.

Für die akute Bedrohung der durch den IS auf drei Seiten und von der Türkei auf der vierten Seite eingekesselten Stadt Kobani ist der Blick auf die größere strategische Lage so wenig relevant, wie er es für die weitere Zukunft des von der kurdischen Bewegung vorgeschlagenen Konföderalismus unter demokratischer Selbstverwaltung seiner Subjekte ist. In diesem Widerspruch ist auch die Antwort auf die Frage nach der Art und Weise verortet, mit der Kobani und Rojava zu unterstützen sind. Während Waffenlieferungen an die Verteidigerinnen und Verteidiger Kobanis allgemeine Zustimmung erhalten, zeigen die Stellungnahmen deutscher Regierungspolitiker, daß sie keineswegs gewillt sind, dazu einen Druck zu entfalten, der den Bruch mit dem Bündnispartner Türkei riskierte. Was zu diesem Zwecke bliebe, ist die Sammlung von Geldern für die Verteidigungskräfte Rojavas, die ohne staatliche Einmischung an diese transferiert werden können, in zivilgesellschaftlicher Eigenregie.

Fronttransparent 'Es geht nicht nur um Kobane! Merkt ihr das nicht !?' - Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Eine Frage, die aufrütteln könnte ...
Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Für demokratische und fortschrittliche Kräfte in der Bundesrepublik ist es im Sinne der Devise, daß der Krieg im eigenen Land beginnt und der Widerstand dagegen auch dort zu formieren ist, folgerichtig, seiner Ausweitung durch Bundeswehr und NATO entgegenzutreten. Um sich auf andere Weise, als der Staatsgewalt einen Freibrief für das Führen von Kriegen auszustellen, die von Anfang an ganz anderen Zwecken als der behaupteten Nothilfe dienen, solidarisch mit Kobani und Rojava zu zeigen, bietet sich an, entschieden für die Aufhebung des PKK-Verbots und die Aufkündigung des Bündnisverhältnisses mit der Türkei einzutreten. Nicht zu vergessen ist der soziale Charakter des Kampfes um demokratische Selbstbestimmung, wie die meist kurdische Herkunft der 39 Todesopfer und Hunderten von Verletzten der jüngsten Proteste innerhalb der Türkei gegen die antikurdische Politik der AKP-Regierung belegen. Darin, daß Erdogan Angreifer und Verteidiger Kobanis unterschiedslos als Terroristen bezeichnet und damit zum Ziel staatlicher Gewalt erklärt, setzt sich die mit gleicher Sprachregelung betriebene Kriminalisierung der im Juni 2013 vom Gezi-Park und Taksim-Platz in Istanbul ausgehenden Demokratiebewegung fort.

Auch bei dieser ging es um neue, weniger repressive und ungerechte Formen gesellschaftlicher Organisation. Dementsprechend ist der Versuch, das säkulare Gesellschaftsmodell in Rojava [4] zum Spielball verschiedenster Interessen zu machen und damit zu beenden, für alle Menschen von größter Bedeutung, die die Absicht nicht aufgegeben haben, den herrschenden Verhältnissen die Möglichkeit abzuringen, auf eigenständige und selbstbestimmte Weise zu leben. Dies ohne Grenzen jenseits von Staat und Nation zu tun, ist ein Traum, dessen Realisierung zu erkämpfen desto unverzichtbarer wird, je mehr die Wirklichkeit von Ausbeutung und Unterdrückung, von sozialer Isolation und globaler Zerstörung dagegenspricht.

Seitentransparent 'Gegen jede Unterdrückung und Ausbeutung' - Foto: © 2014 by Susanne Fasbender

Foto: © 2014 by Susanne Fasbender


Fußnoten:


[1] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/ticker/btik0053.html

[2] http://www.sevimdagdelen.de/de/article/3781.erdogan_die_nibelungentreue_aufkuendigen.html

[3] http://www.youtube.com/watch?v=8uFqrI4ft3k

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0239.html

12. Oktober 2014