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BERICHT/172: Renaissancen der Kritik - Der antideutsche Schuldmißbrauch (SB)


Deutsche Befindlichkeiten aus der Sicht Moshe Zuckermanns

Vortrag am 4. November 2013 an der Universität Kiel


Plakat mit Veranstaltungsankündigung - Foto: 2013 by Schattenblick

Foto: 2013 by Schattenblick

Deutsche Befindlichkeiten nehmen mitunter den verschrobenen Charakter einer schuldträchtigen Moral an, die behauptet, keine zu sein, um das Ziel der Bezichtigung desto wirksamer zu diskreditieren. Im Schatten eines Gesinnungsverdachts, der seine Urheber qua simpler Ausgrenzung ihrer Adressaten automatisch in den Stand unberührbarer Urteilsfähigkeit zu heben scheint, wird der Schuldturm nicht zu beschönigender und in ihrer Monstrosität daher auch nicht wiedergutzumachender historischer Verbrechen zur Zitadelle neuer Machtentfaltung ausgebaut. Daß der Aufbruch zur Restauration nie zureichender, da in der Überbietungslogik der Nationenkonkurrenz stets nach Suprematie strebender nationaler Größe im Verbund mit den führenden Militärmächten der Welt auf eben jenen Rollbahnen verläuft, an deren Rande Millionen Menschen elendiglich verhungert und erfroren, beraubt und vertrieben, massakriert und geschändet, ermordet und vergast zurückbleiben, bedarf eines Nationalethos, der anhand der Gleichung zwischen Schuldeingeständnis und Tilgungsanspruch Wunder neuer Legitimation wirkt.

In Deutschland bietet der Antisemitismus, gerade weil im rassistischen Ressentiment durchaus virulent, Handhabe für einen Gesinnungsvorwurf, in dem sich der Schein historischen Fortschritts aufs Vorteilhafteste mit dem Sein gesellschaftlicher Gewinner in Übereinstimmung bringen läßt. Fernab von notorischen Holocaustleugnern und rassistischen Nazis wird eine gesellschaftliche Minderheit ins Visier mancher Antisemitismusjäger genommen, die in ihrem Widerstand gegen Kapitalismus und Krieg mit Hilfe eines geradezu zivilreligiösen Eifers zur Strecke des genuin Bösen gebracht werden. Der allein auf die Fähigkeit, ihn zu verwirklichen, gestützte Dezisionismus, über Leben und Tod Dritter zu befinden, setzt denn auch die Letztbegründung eigener Definitionsmacht mit der Willkür, die demjenigen obliegt, der die Position der Stärke für sich in Anspruch nehmen kann, in eins.

Was an der Hinrichtungspraxis angeblicher Terrrorbekämpfung zur Praxis des völkerrechtlich entregelten und entuferten Krieges gerät, bedient sich der Ausschließlichkeit jener imperialen Dichotomie, daß wer nicht für uns sei, nur gegen uns sein könne und damit jegliches Anrecht auf Schonung verwirkt habe. Die Schuld des zu Tode Gekommenen expliziert sich aus der Tatsache, daß er gewaltsam seines Lebens beraubt wurde. Nicht unbedingt zu diesem Zwecke, aber doch dem legalistischen Zwang unterworfen, die Voraussetzungslosigkeit eigener Existenz kapitalistisch zu vergesellschaften und damit fremden Interessen verfügbar zu machen, soll ein hypertropher Antisemitismusverdacht die Schärfe jenes Fallbeils erlangen, das Gut und Böse unumkehrbar voneinander scheidet.

Um die für die politische Kultur der Bundesrepublik spezifische Zurichtung dieses Gesinnungsvorwurfs einmal aus der Sicht desjenigen, der damit angeblich vor weiteren Nachstellungen deutscher Antisemiten geschützt werden soll, zu kommentieren, war der israelische Historiker, Politologe und Soziologe Moshe Zuckermann dieser Tage in Kiel zu Gast. In einem rhetorisch geschliffenen Vortrag brachte der bekannte Autor mehrerer Bücher zum Thema frischen Wind in die von erstickender intellektueller Enge gelähmte Stadt an der Förde. Dort war es im Vorfeld einer Veranstaltung mit dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung [1] zu letztendlich vergeblichen Zensurforderungen gekommen, die für die Veranstalterinnen und Veranstalter des Abends Anlaß waren, das Thema "Krisenherd Naher Osten - historische und aktuelle Aspekte im Kräftefeld des Umgangs mit Schuld, Antisemitismus und deren Instrumentalisierung" zusammen mit dem Gast aus Israel zu diskutieren.

Das rege Interesse des fast 300 Menschen umfassenden Publikums zeigte, daß das Thema keineswegs sich links maskierenden und ideologiekritisch gerierenden, im Desiderat eigener Gesellschaftskritik aber nationalreaktionär und sozialchauvinistisch argumentierenden Gruppen und Personen überlassen werden darf, die allem emanzipatorischen Gestus zum Trotz ihr Heil im Dunstkreis neofeudaler Saturiertheit suchen. Dafür ist es einerseits zu wichtig, was die im deutschen Imperialismus aufscheinenden Kontinuitäten des Faschismus betrifft, und andererseits zu unwichtig, denkt man an die notwendigen sozialen Kämpfe einer in ihren materiellen Grundlagen gleich mehrfach in Frage gestellten Zukunft der Menschheit.

Am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Mechthild Klingenburg-Vogel führt in den Abend ein
Foto: © 2013 by Schattenblick


Von der Notwendigkeit der Zwei-Staaten-Lösung

In ihren einleitenden Worten schlug Mechthild Klingenburg-Vogel von der IPPNW (Internationale Ärzte gegen Atomkrieg/Ärzte in sozialer Verantwortung), die gemeinsam mit mehreren anderen Kieler Friedensinitiativen zu der Veranstaltung eingeladen hatte, einen thematischen Bogen von der Pogromnacht des 9. November 1938, die sich zum 75. Mal jährt, und der darauf folgenden Vernichtung von sechs Millionen jüdischen Menschen zu den daraus gezogenen Konsequenzen in Israel und Deutschland. Unter Verweis auf das kollektive Trauma im Land der Opfer wie dem der Täter zog sie eine klare Grenze zwischen dem Wunsch nach Schutz und einer Wachsamkeit gegenüber antisemitischen Strömungen auf der einen und einer Funktionalisierung des Holocaust zu politischen Zwecken auf der anderen Seite. Weder dürfe die Menschheitskatastrophe dazu herhalten, die Vertreibung von Hunderttausenden Palästinensern auszublenden und jede Kritik an der israelischen Regierungspolitik niederzuschlagen, noch deutsche Angriffskriege zu legitimieren. So verständlich die Sorge vor wiedererstarkten Großmachtgelüsten Deutschlands sei, dürfe sie doch nicht unter dem Vorwand einer bedingungslosen Solidarität mit "Israel" in einen neuen Rassismus münden, der sich gegen den Islam richtet. Die Veranstaltung solle dazu beitragen, den Raum wieder zu öffnen und dem Referenten zuzuhören, ohne sofort in Schwarz-Weiß-Polarisierungen zu verfallen. Hauptanliegen bleibe indessen, von Moshe Zuckermann mehr über die Situation in Israel und Palästina wie auch Perspektiven eines Friedens in Nahost zu erfahren.

Daß Zuckermann in diesem Sinne ein vorzüglicher Gesprächspartner ist, hatte sich bereits in der vorangegangenen Pressekonferenz gezeigt. Er ging dabei unter anderem auf die Zwei-Staaten-Lösung ein, die er gegenwärtig für die einzig historisch machbare hält. Weder das jüdische noch das palästinensische Kollektiv sei an einem binationalen Staat interessiert. Man müsse also die realpolitische Frage stellen, was die Protagonisten beiderseits wollen. Entstünde hingegen eine nicht gewollte, sondern aufoktroyierte binationale Struktur, sei das ein Konzept der Katastrophe. Denn nehme man die Zwei-Staaten-Lösung nicht politisch in Angriff, entstehe objektiv eine binationale Struktur, die entweder auf einen Apartheid-Staat oder schwere Konflikte innerhalb dieses Hoheitsgebiets hinauslaufe. Für eine politische Lösung, die für sich genommen schon schwer genug sei, gelte es, die vier Bedingungen des Oslo-Prozesses zu erfüllen: Räumung eines Großteils des Westjordanlands, Abbau der Siedlungen, Jerusalem wird Hauptstadt beider Staaten und Lösung des Flüchtlingsproblems zumindest in Form einer symbolischen Anerkennung. Gegen eine bloße Fortsetzung des Status quo spreche die objektive Entstehung einer binationalen Struktur, die ein zentrales zionistisches Postulat konterkariert, da Juden zur Minorität im eigenen Land würden. Auf palästinensischer Seite gebe es durchaus Stimmen, die dazu raten, weiter auszuharren und auf die Demographie zu setzen. Das würde aber die Fortsetzung von Gewalt und Gegengewalt einschließen und dennoch zu einer binationalen Struktur führen. Würde sich Israel offen als Apartheid-Staat deklarieren, verlöre es die Unterstützung der USA und der EU. Das sei den meisten israelischen Politikern durchaus bewußt.

Die massenhafte israelische Friedensbewegung habe sich schlafen gelegt und sei nicht wieder aufgewacht, so Zuckermann. Die Mehrheit der Bevölkerung habe die Schnauze voll, doch setze sich das nicht in eine politische Praxis um, was sich an den Wahlergebnissen und Koalitionen ablesen lasse. Wenngleich die Klassenklüfte die tiefsten seien, die man in entwickelten Ländern antrifft, wollte die Protestbewegung des Mittelstands im Jahr 2011 drei Dinge nicht: Über Kapitalismus, die Besatzung und eine Rebellion reden. So sei diese Bewegung, die 400.000 Menschen auf die Straße brachte, sang- und klanglos untergegangen. Der Mittelstand empört sich zwar gegen die Tycoons, fragt aber nicht nach dem System, das diese hervorbringt. Im Unterschied zu Deutschland seien in Israel die soziale und die Sicherheitsfrage auf eine Weise miteinander verschränkt, daß mittlerweile keine Linke in sozialen Fragen mehr existiere. Nicht einmal mehr die milliardenschwere Subventionierung des Siedlungsbaus werde ernsthaft kritisiert.

Im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
Foto: © 2013 by Schattenblick


Instrumentalisiert zur Waffe der Bezichtigung

So entschieden Moshe Zuckermann in seinem Vortrag Stellung bezog und mit analytischer Schärfe Sein von Schein schied, so leichtfüßig entzog er mit wohldosierter Ironie der Kontroverse den klebrigen Nährboden deutschen Beharrens auf letztgültige Deutungsmacht. Um beispielhaft zu veranschaulichen, mit welch unterschiedlichen Resultaten ein vielschichtiger Komplex aus politischen Realitäten und geschichtlichen Prozessen von interessengeleiteter Wahrnehmung gespiegelt wird, kam der Referent auf den ehemaligen ägyptischen Staatspräsidenten Mursi zu sprechen. Sei man antiislamisch eingestellt, nehme man ihn ausschließlich als Islamisten wahr, der glücklicherweise entmachtet und vor Gericht gestellt wurde. Mursis Anhänger hingegen meinen, er solle an die Regierung zurückkehren. Als zweite Dimension komme hinzu, daß Mursi demokratisch gewählt und in einem Staatsstreich gestürzt worden ist. Man könne argumentieren, er sei zwar demokratisch gewählt worden, vertrete aber undemokratische Positionen, weshalb man Demokratie eben in bestimmten historischen Situationen beschränken müsse. Andererseits könne man aber auch darüber hinausgehen und fragen, warum Mubarak vertrieben wurde und Mursi an die Macht gekommen und wieder entmachtet worden ist. Aus israelischer Sicht war Mubarak eine gute Lösung, während man sich für die sozialen Verhältnisse in Ägypten nicht im geringsten interessierte. Mubarak garantierte den Frieden mit Israel und sorgte so dafür, daß kein Krieg mehr geführt wurde. Im Nahen Osten spielen sich gegenwärtig jedoch Prozesse ab, die noch noch vor wenigen Jahren aus westlicher Sicht für unmöglich gehalten worden wären. Die vermeintliche Gewißheit, daß Araber lethargisch, fatalistisch und unfähig zu sozialen Bewegungen seien, stand jeder anderen Prognose im Wege. Da nun aber der Arabische Frühling das westliche Kalkül nicht erfüllt hat, setzen dessen führende Mächte über Kriege durch, was sie sich erhofft haben.

Das sei nicht neu, so Zuckermann, der in einem kurzen Abriß auf die historischen Voraussetzungen des Nahostkonflikts einging. 2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal, an dessen Ende auch in der Nahostregion die gesamte Konstellation im Sinne des Westens verändert wurde. Die Aufteilung in eine britische und eine französische Einflußsphäre machte sich den Nahen Osten postkolonialistisch untertan und verwandelte ihn in ein Spielfeld der Großmächte, was im Kalten Krieg mit Wucht zum Tragen kam. Unter britischem Mandat erfüllte sich die Hoffnung der zionistischen Bewegung, einen jüdischen Staat zu gründen, womit sich die nationale Lösung gegen die konkurrierenden Strategien, nämlich Sozialismus oder Assimilation, durchsetzte. Die nationale Heimstätte wurde jedoch nicht im luftleeren Raum realisiert: Das Grundpostulat des Zionismus, ein Volk ohne Land komme in ein Land ohne Volk, war die erste politische Lüge, welche die palästinensischen Bewohner kurzerhand ausblendete. Da ein Problem des Abendlands in den Nahen Osten ausgelagert wurde, handelt es sich bei der Auseinandersetzung zwischen Juden und Arabern letztlich um ein Epiphänomen des ursprünglichen Konflikts in Europa.

Wie Zuckermann hervorhob, rede er nicht gegen den Zionismus, wohl aber davon, daß an den Palästinensern ein historisches Unrecht begangen wurde. Die Aufteilung des Landes durch die UNO sei für keine der beiden Seiten akzeptabel gewesen, am allerwenigsten aber für die Palästinenser. Wenngleich man von der Imperialismusthese ausgehend fragen könne, in wessen Interesse der Zionismus zu Zeiten des Kalten Krieges lag, reiche diese These für sich genommen nicht aus, da sie von dem unmittelbaren Territorialkonflikt abstrahiere. Da es sich um das neuralgischste Gebiet der Welt handelte, war ein möglicher Ausbruch des Dritten Weltkriegs dort so virulent wie nirgendwo sonst, so der Referent.

Zuckermann mit Publikum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Von der Perpetuierung historischen Unrechts
Foto: © 2013 by Schattenblick

Nie vergaß Zuckermann in seinem Vortrag, sein Publikum gewissermaßen als deutsches Kollektiv anzusprechen, dessen instrumentalisierte Irrungen und Wirrungen er aufs Korn nahm. Für die Deutschen habe sich die Lage verkompliziert, weil Deutschland eine historische Last auf sich geladen hat, doch zugleich die Konstellation entstanden war, daß Juden nach 1945 ohne die Deutschen nicht mehr zu denken waren. Man sei von der Last der Geschichte befrachtet, ob man nun will oder nicht: "Ihr Problem ist, daß Sie mitbedenken müssen, daß (...) durch die Lösung für die Juden, die Sie mitverteidigen müssen, ein neues historisches Unrecht begangen wurde." Diese Grundkonstellation brachte es mit sich, daß zwischen Deutschland und Israel ein Pakt entstand. Die Sühne, die man leisten zu wollen vorgab, wurde mit dem Wiedergutmachungsabkommen materialisiert, das einen Tauschwert installierte. So wurde in der festesten und verdinglichsten Form Sühne am Staat Israel geübt. Israel wurde mit Zionismus und dieser mit Juden, hingegen Antisemitismus und Antizionismus mit Kritik an Israel gleichgesetzt. Das sei falsch, weil dabei eine Matrix der Befindlichkeit hergestellt werde, die weder mit der realen Geschichte des jüdischen Volkes noch mit der Realität des Nahostkonflikts etwas zu tun habe, so der Referent. Sich mit Juden zu solidarisieren, schließe nicht zwangsläufig Solidarität mit Israel und gegen Palästinenser, Araber oder Islamisten ein. Eine solche Verkürzung vergehe sich an der historischen Realität der Judenverfolgung, da nicht alle Holocaust-Opfer Zionisten waren. Überdies lebe ein Großteil des jüdischen Volkes bis heute nicht in Israel.

Israel betreibe seit 45 Jahren ein brutales Okkupationsregime gegenüber den Palästinensern. Wer das in Klammern setze, weil er meint, sich unabdingbar mit Juden, sprich Zionisten, sprich Israel identifizieren zu müssen, unterstützt etwas, das in keinem anderen Zusammenhang zu rechtfertigen wäre. Wer die Palästinenser nicht in die Gleichung einbringe, verrate eine Grundmatrix des Gedenkens. Wenn man der Opfer im Stande ihres Opfer-Seins gedenke, ohne in Anschlag zu bringen, daß dieser Staat selber neue Opfer herstellt, dann verrate man das Angedenken an die historischen Opfer. Denn das einzig denkbare Andenken an die Opfer sei doch, daß man keine Opfer in der Weltgeschichte mehr dulden will.

Moshe Zuckermann am Rednerpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Auschwitz ist nicht wiedergutzumachen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Was wäre eine Friedenslösung aus israelischer Sicht? Die Zwei-Staaten-Lösung werde von Israel seit Jahrzehnten unterminiert. Netanjahu führe sie zwar im Munde, tue aber strukturell alles, um sie zu untergraben. Nehme man diese Lösung jedoch nicht in Angriff, entsteht zwangsläufig eine binationale Struktur. Nach demographischen Maßgaben sei abzusehen, wann die Juden zur Minorität im eigenen Land werden, womit ein Grundpostulat des Zionismus vernichtet würde.

Was bedeutet das für Deutschland? Wer für die Juden und ihren Staat eintritt, müsse die Beendigung des Nahostkonflikts zur Voraussetzung seiner persönlichen Einstellung machen. Die deutsche politische Kultur brauche den jüdischen Staat, um die eigene Vergangenheit wiedergutzumachen, so der Referent: "Ich möchte Ihnen etwas verraten: Sie werden nie etwas wiedergutmachen! Das Loch, das durch Auschwitz in das jüdische Volk eingerissen wurde, ist nicht wiedergutzumachen - schon gar nicht durch Geld." Nehme man den neuen kategorischen Imperativ Adornos ernst, so zu denken und zu handeln, daß Auschwitz oder alles, was ihm ähnelt, sich nicht wiederhole, dann könne man nicht eine einseitige Solidarität mit Juden üben, wenn diese in ihrem eigenen Land die Sicherheit bekommen sollen, die sie durch Auschwitz verloren haben. Prüfe man ernsthaft, womit sich Deutsche eigentlich solidarisieren, gehe es sehr oft um sie selber, nicht jedoch um Juden und Palästinenser. Wer aus Solidarität mit Juden eine Solidarität mit Israel und ein Ressentiment gegen Palästinenser und den Islam ableite, trage zur Tabuisierung des Antisemitismus bei und befördere die Islamophobie in Deutschland. Juden seien heute in kaum einem anderen Land so sicher wie in Deutschland - ganz gewiß sicherer als in Israel, so der Referent. Anders verhalte es sich freilich für Schwarzafrikaner und Muslime. Es scheine also vor allem darum zu gehen, was Deutsche sich selbst gegenüber empfinden. Ist das Ressentiment, das ehemals gegen Juden gerichtet war, nicht dasselbe, das sich heute gegen den Islam und Muslime richtet?

Sicht auf das Publikum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Großes Interesse am Gast aus Israel
Foto: © 2013 by Schattenblick

Zuckermann erinnerte aus persönlicher Erfahrung an die Zeit, als Wiedergutmachung auch die Aufnahme von Flüchtlingen einschloß und man Deutschland als Einwanderungsland für einen Schutz vor erneuter Diktatur hielt. Seine deutsche Abiturklasse im Jahr 1970 habe zu 100 Prozent den Wehrdienst verweigert. Woher rühre die später einsetzende Bewunderung der militärischen Stärke und Begeisterung für die Kriege Israels? Gibt es bellizistische Unterströmungen in Deutschland? "Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, mir schwant Übles! Ich habe das Gefühl, daß etwas zutiefst Unaufgearbeitetes wieder ins Vorbewußtsein rückt." Die Tatsache, daß man heute mit einer solchen Vehemenz Israels Militär feiert, sei für ihn ein noch größerer Verrat an den Opfern als der zuvor genannte.

"Es erhebt sich die Frage, warum dem so ist, und ich möchte diese Frage heute abend nicht beantworten. Ich möchte sie in der Luft hängen lassen", so Zuckermann, der die Zuhörerschaft damit zu einer eigenständigen Auseinandersetzung mit der Thematik ermutigte. "Wenn Sie den Antisemitismusvorwurf in einer Art und Weise verwenden, wie er inflationärer gar nicht verwendet werden kann, und wenn man mittlerweile jeden Israelkritiker als Antisemiten bezeichnet, wenn man sogar den Sohn von Auschwitz-Überlebenden als Antisemiten oder als einen sich selbst hassenden Juden apostrophiert, dann stimmt irgend etwas bei Ihnen nicht mehr!" Das sei ein Diskurs, der alles verzerrt, alles entstellt, was ursprünglich emanzipativer Kampf war. Man entleere den Begriff des Antisemitismus und begehe eine politische Perfidie, die früher oder später in die entgegengesetzte Richtung explodieren werde. So zu verfahren, führe geradezu zwangsläufig dazu, das ohnehin wabernde Ressentiment wieder zum Leben zu erwecken. "Das müssen Sie bekämpfen!" Andernfalls werde nicht nur das historische Unrecht im Nahen Osten seine Strukturen perpetuieren und der Konflikt in etwas ausarten, das keiner sich je vorgestellt hat. Darüber hinaus werde der deutsche Partner in der Triade mit Israel und den Palästinensern keinen Seelenfrieden finden - doch vielleicht gehe es ja gar nicht um Seelenfrieden. Nichts wird wiedergutgemacht, aber was wichtig ist: Der Frieden zwischen Israelis und Palästinensern wäre in der Tat das einzig mögliche Gedenken, wenn nämlich der Kampf um eine befreite Gesellschaft auch in Deutschland seine Früchte zeitigt, schloß Moshe Zuckermann seinen Vortrag.

Auf dem Podium - Foto: © 2013 by Schattenblick

Moderatorin Susann Witt-Stahl mit Moshe Zuckermann
Foto: © 2013 by Schattenblick


Kontroverse Fragen im resonanzlosen Raum

Die Autorin und Journalistin Susann Witt-Stahl legte als Moderatorin der anschließenden Diskussion Moshe Zuckermann zunächst vier Fragenkomplexe vor. Die erste Frage bezog sich auf die Rolle der Hamas im Nahostkonflikt, die in Deutschland nahezu tabuisiert wird. Zuckermann erinnerte daran, daß die religiösen Kräfte zunächst von Israel unterstützt wurden, um die PLO zu schwächen und die Palästinenser zu spalten. Es ist also im Interesse der israelischen Regierung, daß die Hamas existiert. Die Hamas kann Israel nicht in seiner Existenz bedrohen und führt in militärischer Hinsicht einen aussichtslosen Kampf. Sie ist fähig, Realpolitik zu machen, doch wurde dies von Israel verhindert, um den Vorwand aufrechtzuerhalten, es gebe keinen Gesprächspartner auf palästinensischer Seite. Man muß indessen mit Hamas als Teil der palästinensischen Lösung verhandeln, um einen Friedensschluß herbeizuführen.

Gibt es Anzeichen, daß sich im Zuge einer Verrohung die Zivilgesellschaft Israels in ein Heer hochgerüsteter Hopliten verwandelt, lautete die zweite Frage. Dem stellte Zuckermann zunächst den Eindruck entgegen, daß man Tel Aviv als eine der interessantesten und liberalsten Städte weltweit erlebe. Erhebliche Teile der Zivilgesellschaft verurteilten rassistische Tendenzen und Übergriffe. Das Problem sei die fehlende Umsetzung solcher Kritik in Politik. Die politische Klasse läßt seit Jahren rassistische oder gar faschistische Tendenzen zu, die Eingang in die Legislative und Exekutive gefunden haben. Übt man jahrelang Gewalt gegen Palästinenser aus, schlägt diese in die Gesellschaft zurück. Dies treibt Israel in eine Sackgasse, aus der es nur den Befreiungsschlag einer Friedenslösung geben kann. Andernfalls wird es immer schlimmer, und dies scheint inzwischen offizielle Regierungspolitik zu sein.

Auf die Frage, wie sinnvoll die in jüngerer Zeit eskalierenden Attribute und Erweiterungen des Antisemitismusbegriffs für die Forschung sind und welche Funktion sie in der politischen Diskussion haben, erwiderte Zuckermann folgendes: Juden mußten stets für beides herhalten, sie wurden als Kapitalisten diskreditiert und als Sozialisten verfolgt. Sie wurden zum Paradigma der gesamten Moderne. Weitet man den Antisemitismusbegriff aus, wird einer Funktion das Wort geredet, die mit Juden per se nichts mehr zu tun hat. Vielmehr wird eine Kampfparole zur effektiven Erledigung von Gegnern in Stellung gebracht und der Kapitalismus verteidigt. Statt sich klar zu diesem zu bekennen, zieht man unzulässigerweise die Juden und den Antisemitismus heran.

Ulrike Meinhof hat 1967 in dem Artikel "Drei Freunde Israels" geschrieben, daß Erfolg und Härte des israelischen Vormarsches einen Blutrausch im konservativ-bürgerlichen Deutschland ausgelöst haben. "Nicht die Erkenntnis der Menschlichkeit der Juden, sondern die Härte ihrer Kriegsführung, nicht die Anerkennung ihrer Rechte als Mitbürger, sondern die Anwendung von Napalm, nicht die Einsicht in die eigenen Verbrechen, sondern der israelische Blitzkrieg, die Solidarisierung mit der Brutalität, der Vertreibung, der Eroberung führt zu fragwürdiger Versöhnung." Zudem, zitierte die Moderatorin, war Meinhof der Ansicht: "Die Fehler der Vergangenheit wurden als solche erkannt, der Antisemitismus bereut, die Läuterung fand statt. Der neue deutsche Faschismus hat aus den alten Fehlern gelernt, nicht gegen - mit den Juden führt Antikommunismus zum Sieg."

Dazu sagte Moshe Zuckermann, daß diese Aussage von 1967 auf eine ganz andere Konstellation als die des Jahres 2013 verwiesen habe. Für viele Israelis war damals der Ausgang des Krieges ungewiß, und eine Niederlage wurde mit dem nächsten Holocaust assoziiert. Israels militärischer Erfolg wird in gewissen deutschen Kreisen mit der eigenen Kriegsführung assoziiert und bewundert: Ihr seid die Schüler Rommels. Es gibt etwas Unverarbeitetes in der politischen Kultur Deutschlands, meint Zuckermann in Anbetracht dessen, wie man nach zwei verlorenen Weltkriegen geläutert auftritt. Bei deutschen Bellizisten wabert etwas von diesem Grundmuster nach, zu dem man sich nicht offen bekennen darf.

Weitere Fragen aus dem Publikum rundeten einen Abend ab, der nicht so kontrovers verlief, wie angesichts der im Vorfeld auch dieser Veranstaltung laut gewordenen Einwände gegen den Auftritt eines die Regierungspolitik Israels kritisch reflektierenden Menschen erwartet worden war. Die sogenannten Antideutschen, aus deren Reihen wiederholt gegen Zuckermann polemisiert wurde, glänzten durch Abwesenheit oder hielten sich bedeckt, was insofern bedauerlich war, als daß eine kontroverse Diskussion zur Klärung der Standpunkte hätte beitragen können. Inwiefern tatsächliches Interesse daran besteht oder ob es vielmehr darum geht, den Antisemitismusvorwurf in seiner Anwendung gegen antikapitalistische und internationalistische Aktivistinnen und Aktivisten, gegen Friedensbewegte und eine an die Adresse der israelischen Regierung gerichtete Kritik operabel zu halten, bleibt mithin offen. Die Erfüllung desjenigen Anspruchs, dem nicht gerecht zu werden anderen angelastet wird, anhand der eigenen Theorie und Praxis zu überprüfen, wäre in jedem Fall zu empfehlen. Das gilt auch für eine Publizistik, die derartige Veranstaltungen weitgehend ignoriert, gerade weil in ihnen ein in der Kritik substantieller und unerschrockener Diskurs geführt wird.


Fußnote:

[1] BERICHT/151: Frieden, der Ratschluß des Stärkeren (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0151.html

11. November 2013