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BERICHT/136: Kapitalismus final - und dafür sind die Kriege da (SB)


Wolfram Elsner über "Krisenstrategien des Kapitals"

Veranstaltung am 21. November 2012 in Hamburg-Altona



Ein hervorstechendes Merkmal des Kapitalismus im sechsten Jahr seiner manifesten Krise besteht im verstärkten Zugriff auf Produktions- und Reproduktionsvoraussetzungen, deren begrenzte Verfügbarkeit dem hektisch nach verbliebenen Anlagemöglichkeiten suchenden Kapital geradezu als Goldgrube erscheint. Eine Goldgrube wohlgemerkt nicht im Sinne der Fülle, sondern des Mangels, werden die Preise auf dem Gebiet essentieller Ressourcen und Lebensmittel doch durch einen Bedarf getrieben, der ihre Verfügbarkeit zumindest perspektivisch weit übersteigt. Fossile Energieträger und Rohstoffe für die chemische Industrie, Nahrungsmittel, landwirtschaftlich nutzbare Flächen, Wasser - was noch zum Verkauf steht, und das tut es immer, wenn der Preis nur hoch genug ist, findet Interessenten nicht nur im Bereich spekulativer Kapitalakkumulation, sondern auch der strategischen Ressourcensicherung.

Was unter dem Begriff der ursprünglichen Akkumulation nach Marx als "historischer Scheidungsprozeß" der Produzenten von ihren Produktions- und Subsistenzmitteln den Beginn kapitalistischer Wertschöpfung markiert, bezeichnet im wesentlichen einen gewaltsamen Enteignungsprozeß, den einige marxistische Theoretikerinnnen und Theoretiker nicht auf ein bloßes Übergangsstadium zur Entfaltung kapitalistischer Produktionsweisen auf Basis des Klassenantagonismus zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Verkäufern der Ware Arbeitskraft reduziert wissen wollen. So hat der marxistische Geograph David Harvey in Anknüpfung an Rosa Luxemburg, die die ursprüngliches Akkumulation als permanentes Merkmal kapitalistischer Reproduktion verstand [1], die These aufgestellt, daß diese sich in einer mit der Krise des Fordismus entstandenen Form der erweiterten Akkumulation fortsetze, die unter anderem Privatisierungsprozesse, die Kommodifizierung bislang noch nicht verwertbar gemachter Immaterialgüter wie die Codes der roten und grünen Gentechnik als auch die Ausbildung neuer Eigentumsansprüche auf kulturelle Praktiken, historische Vermächtnisse und künstlerische Schaffenskraft umfaßt.

Die fortgesetzte Praxis der ursprünglichen Akkumulation erhält ihre primäre Bedeutung allerdings über den konstitutiven Charakter, den die "Logik der Trennung" der Arbeit von ihren Bedingungen für den im kapitalistischen Sinne der industriellen Produktivkraftentwicklung und der vom Kapital ausgeübten Verfügungsgewalt über die Lohnarbeit ausgebildeten Akkumulationsprozeß innehat. Für Werner Bonefeld erklärt sich die ursprüngliche Akkumulation in Umkehrung der üblichen Kausalität historischer Entwicklung aus dem entwickelten Kapitalismus, dem eine "Arbeit getrennt vom Boden, ihren Mitteln der Subsistenz, Produktion und Existenz; einer Arbeit getrennt von ihrem Gegenstand, ihren Resultaten, und ihren Bedingungen gesellschaftlichen Daseins" [1] immanent sei. Das sich im archaischen Raub der Lebensmittel manifestierende Gewaltverhältnis nimmt mit der vertraglichen Grundlage des Kaufs und Verkaufs der Ware Arbeitskraft zivilisierte Formen an und erhält über den Schein geregelter Verhältnisse eine Qualität unangreifbarer Legalität, die dem kapitalistischen Privateigentum zentrale Bedeutung für die Überwindung herrschender Verhältnisse zuweist.

Podium der Veranstaltung - Foto: © 2012 by Schattenblick

Moderator Uli Ludwig (links), Wolfram Elsner (rechts) Foto: © 2012 by Schattenblick

Dessen sind sich auch die Sachwalter dieser Verhältnisse bewußt, wie die zusehends repressive Durchsetzung der Sicherung jener Ordnung dokumentiert, ohne die die weitere Konzentration und Zentralisation der Kapitalmacht in Frage gestellt wäre. Das vorletzte Treffen der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" war der Analyse der "Krisenstrategien des Kapitals" gewidmet. Prof. Dr. Wolfram Elsner vom Institut für Institutionelle Ökonomik und Innovationsökonomik (iino) an der Universität Bremen war zwar nach Hamburg gekommen, um die Frage des Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie vor diesem Hintergrund näher zu beleuchten, doch wurde dies durch die von dem Ökonomen vorgetragene Analyse der unzureichenden Möglichkeit des neoliberalen Kapitalismus, eine seinen Bestand weiterhin sichernde Profitrate zu erwirtschaften, praktisch im Nebenherein in seiner absehbaren Entwicklung greifbar gemacht.

So kam Elsner recht schnell nach einem kurzen Aufriß zum Inhalt und Ergebnis des Neoliberalismus, den er für weder neo noch liberal hält, sondern als auf Jahrzehnte angelegtes, staatlich-bürokratisches Projekt der Transformation des Kapitalismus zugunsten der Umverteilung von Einkommen, Vermögen, Macht und Ansehen von unten nach oben charakterisiert, auf den Niedergang der sogenannten Realökonomie zu sprechen. Die produzierende Ökonomie werde durch den Neoliberalismus zerstört, indem dieser eine Profitexplosion bewirkt habe, die sich auf jeglichen Anreiz, Kapital auf konventionelle Weise in industrieller Produktion zu verwerten, negativ auswirke. Die Plünderung des öffentlichen Vermögens und des Industriekapitals wie die Flucht der Industriekonzerne in die sogenannten Finanzialisierung führe zu einer Inflation bloßer Kapitalwerte und generiere dabei eine verfestigte und sich selbst verstärkende Gläubiger-Schuldner-Ökonomie.

Mit der Intensität der Ausbeutung nimmt der Widerstand zu

Dieses fiktive, nicht mehr der Mehrwertproduktion entspringende Kapital blähe sich zu Blasen an profitheischendem Geldkapital auf, das als quantitativ größter Betrag weltweit vorhandener Gelder darauf abonniert sei, den kurzen Weg seiner Vermehrung über den Zinssatz zu beschreiten. Seine zentrale These, daß die über neoliberale Umverteilungsprozesse entstandenen Geldkapitalmengen rein quantitativ keine historisch übliche Profitrate mehr erbringen können, erklärte er anhand der Marxschen Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate.

Diese läßt sich ganz allgemein als vermeintliches Paradoxon beschreiben, daß nicht etwa die geringere, sondern die höhere Produktivität der Arbeit die Profitrate des dafür eingesetzten Kapitals verringert. Während die technische Produktivkraftentwicklung die Arbeitsproduktivität erhöht, entfällt ein immer größerer Teil des eingesetzten Kapitals auf Anlagen, Maschinen und andere stoffliche Agentien, in der Marxschen Terminologie als "konstantes" dem "variablen" als dem Kauf menschlicher Arbeit gewidmeten Kapital gegenübergestellt. Mit der Veränderung der "organischen Zusammensetzung des Kapitals" - mehr konstantes, weniger variables Kapital - verringert sich der Anteil desjenigen Kapitals, das durch die Mehrwertproduktion - den Anteil der gekauften menschlichen Arbeit, der über die Kosten ihrer Reproduktion hinausgeht und vom Käufer der Arbeit abgeschöpft wird - überhaupt zur Akkumulation in der Lage ist.

So weist Marx laut Jürgen H. Mendner "darauf hin, daß mit der zunehmenden Entfaltung der Produktivkräfte der Anteil der notwendigen Arbeitszeit im Verhältnis zur Mehrarbeitszeit bei gegebenem Gesamtarbeitstag immer geringer werde. (...) Dies bedeutet aber mit anderen Worten, daß zwischen der Steigerung der Mehrwertrate und der sie bewirkenden Produktivitätserhöhung kein proportionaler Zusammenhang unterstellt werden kann. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß die Steigerung der Mehrwertrate eine überproportionale Steigerung der Arbeitsproduktivität erfordert, und daß sich dieser Zusammenhang mit fortschreitender Entwicklung progressiv beschleunigt. Je höher bereits die Mehrwertrate, desto stärker muß zu ihrer weiteren Steigerung die Arbeitsproduktivität anwachsen. Da hierzu die entsprechende technologische Umwälzung der Produktionsbedingungen durchgeführt werden muß, also ein direkter Zusammenhang zwischen Produktivitätssteigerung und technischer Zusammensetzung des Kapitals besteht, ist zu folgern, daß auch die organische Zusammensetzung des Kapitals gegenüber der Mehrwertrate ein beschleunigtes Wachstum aufweist. Ein relativ schnelleres Ansteigen der organischen Zusammensetzung des Kapitals gegenüber dem der Mehrwertrate ist somit immanente Tendenz der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung. Ein Fallen der Profitrate wird bei dieser Entwicklung unvermeidlich." [2]

Referent vor Folie - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wolfram Elsner erläutert das Konzept der Marxschen Profitrate Foto: © 2012 by Schattenblick

Was Wolfram Elsner als theoretisches Kernstück einer Rede [3] im November 2011 auf einer Demonstration von Occupy Bremen, die zum Anlaß seines Vortrags in Hamburg wurde, verwendete und nun anhand der Formel vom tendenziellen Fall der Profitrate erklärt, führt seiner Ansicht nach dazu, daß lange Jahre übliche Renditeansprüche von bis zu 30 Prozent heute global im Durchschnitt nicht mehr realisierbar seien. Dies führe zu verschärften Umverteilungskämpfen nicht nur zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch zwischen den Einzelkapitalen, was vor allem zu Lasten der kleinen Existenzgründer gehe. Selbst wenn diese ökonomisch auf die Beine kämen, würden sie dem Konzernsystem auf die eine oder andere Weise einverleibt. Gleichzeitig belaste dies die privaten Einkommen, der Staatshaushalte und öffentlichen Vermögen.

Bei dieser Umverteilung verlören vor allem Kleinanleger, die beim Implodieren einer Blase vielleicht 30 bis 40 Prozent dessen einbüßten, was sie an Nominalwert investiert hatten. Beim Aufpumpen der Blase gehe es zu wie beim Reiten eines Tigers - da niemand im Kapitalismus wirklich etwas im Griff habe, gelte es, die Risiken erfolgreich umzuverteilen, bevor die Gewinnrallye wieder abstürze. Die großen Banken und Investoren arbeiteten ohnehin mit unlauteren Mitteln, wie die zahlreichen strafrechtlichen Klagen der US-Finanzaufsicht gegen diese Akteure belegten. Sie kämen allerdings mit verschmerzbaren Verlusten davon, endeten diese Prozesse doch meist mit Vergleichen, für die in den letzten drei Jahren mehr als eine Billion Dollar an den US-Staat gezahlt wurden, was das Ausmaß der Manipulationen belege.

Daß Großunternehmen sich zu Finanzspekulanten transformieren und Kapital aus der industriellen Wertschöpfung über explodierende Managergehälter, hohe Boni und Dividendenzahlungen, die noch nie so hoch wie heute waren, herausziehen, führe zur Auszehrung realökonomischer Investitionen. Elsner verweist auf die Exportüberschüsse der Bundesrepublik, die sich von 2000 bis 2009 auf eine Billion Euro beliefen. Davon seien 700 bis 800 Milliarden Euro direkt durch deutsche Banken auf den US-amerikanischen Spekulationssektor gegangen, was zur Folge habe, daß deutsche Geldhäuser in der Krise besonders gefährdet seien.

Da sich die Renditen in der traditionellen Industrie nach Steuern und Abschreibung zwischen 5 und maximal 10 Prozent bewegten, gehe man auch dort zu spekulativen Geschäften auf dem Finanzmarkt über. Große Industrieunternehmen benötigten teilweise keine Banken mehr, weil ihnen über diese Geschäfte genügend Kapital zur Verfügung stehe, allerdings hätten sich viele Unternehmen mit dieser Erweiterung ihrer Geschäftsgrundlage auch verschuldet. Die Banken profitierten in jedem Fall, denn die Kreditbeziehungen würden aufrechterhalten. Auch wenn eine Spekulationsblase implodiert, müßten die Schulden beglichen werden.

Mit dem Griff nach knapper werdenden Ressourcen die Profitrate mästen

Um letztendlich alles in die Profitrate zu pumpen, schlägt der Kapitalismus den Bogen zurück zu seinen Anfängen. Das große Kapital gehe dazu über, sich an allem zu vergreifen, was noch irgendeine Aussicht darauf bietet, in der Zukunft von Menschen gebraucht zu werden, so daß die Finanzkriminalität fugenlos in Sozial- und Naturplünderung übergehe. Nachdem die Staatshaushalte und öffentlichen Vermögen weitgehend überschuldet sind, stehe jetzt die ursprüngliche Akkumulation auf dem Programm - vom klassischen Bauernlegen zum modernen Land Grabbing. Nahrungsmittel, Wasser, vielleicht sogar die Luft würden verstärkt zum Gegenstand eines Verwertungsinteresses, dem es letztlich gleichgültig ist, wie das Kapital akkumuliert, wenn es denn überhaupt Anlageobjekte findet. Zu erinnern wäre hier auch an die Kommodifizierung der Gewebe und Organe des Körpers selbst. Was zur Ware Arbeit hinzuzurechnen ist, dokumentiert die Totalität eines Zugriffs, dem, konventionell gesprochen, nichts so heilig ist, daß es nicht unter die Kuratel zu verbrauchenden Eigentums gestellt werden könnte.

Diese Umverteilungserfordernisse überstiegen letztlich die Kapazitäten der Staatshaushalte wie auch des gesamten Sozialprodukts und am Ende die Kapazitäten der Erde mit ihren natürlichen Ressourcen. Daher könnten sie auch nicht mehr mit demokratischen Mitteln vollzogen werden, was für Elsner bedeutet, daß man sich auf dem Weg von der Postdemokratie in die Prädiktatur befinde. Dieser Prozeß beruhe nicht nur auf Gier, Betrug und Räuberei, wie die bürgerliche Presse glauben macht, sondern sei Folge des tendenziellen Sinkens der Profitrate. Da der Mehrwert dabei kumulativ ins konstante Kapital fließe, bestehe die klassische Korrektur dieses Problems in einer Schlankheitskur für das konstante Kapital. Massenhafte Entwertung bei reduzierter Mehrwertproduktion durch Lohnsenkungen und Arbeitslosigkeit sollen die Profitrate sanieren. Wenn das Blut auf der Straße liegt, sagen die Banker, dann geht die Profitrate wieder hoch und es gilt, frühzeitig zu investieren.

Wolfram Elsner vor Folie - Foto: © 2012 by Schattenblick

Schuldenklimax und Kriegsgefahr
Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Hauptproblem des keynesianischen Wohlfahrtstaates, der durchaus Wachstum schaffen könne, bestehe aus Sicht des Kapitals darin, daß die Arbeiter in einem Staat, der sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt, aufbegehren und Forderungen stellen. Dies wiederum führe zum Sinken der Profitrate, und damit habe der Keynesianismus dem Neoliberalismus in den 70er Jahren den Boden bereitet. Mit der Deregulierung der Märkte, mit Konzentration, Zentralisation und Oligopolisierung des Kapitals wurde ein exklusiver globaler Handlungsrahmen für die größten Kapitale mit dem Ziel geschaffen, weltweit die Kontrolle über die Arbeit herzustellen. Die von seinen Herolden gepredigte Effizienz des Marktes wie des internationalen Wettbewerbs sei bloßer Mythos, ginge man doch aus der nationalen Überproduktion heraus in die Märkte der Konkurrenz, so daß es sich letztlich um eine Form der Eroberung handelt.

Privatisierung steigere die Profitrate, indem dem Kapital über Jahrhunderte angesammelte öffentliche Vermögen, wie das Beispiel der vier den deutschen Markt dominierenden Energiekonzerne zeige, als gesicherte Monopole überlassen würden. Das propagierte Entrepreneurship und die staatliche Innovationsförderung stellen laut Elsner verdeckte Formen der Subventionierung großer Konzerne dar, werde mit derartigen Strategien zur Förderung von Unternehmensgründungen doch eine kostengünstige Zulieferstruktur für große Produzenten durch kleine Unternehmen etabliert.

Als besonderes Merkmal neoliberaler Austeritätspolitik stellt der Referent die Entfernung der Geldpolitik aus dem politischen System der parlamentarischen Vertretungsdemokratie, in der ein Oligopol regierungszugelassener Parteien Entscheidungen trifft, dar. Austerität meine nicht nur Sparpolitik, sondern bekräftige die Ideologie der Geldwertstabilität. Diese Doktrin sei in den 70er Jahren durch den von einem Vordenker des Neoliberalismus, Friedrich Hayek, beratenen Militärdiktator Chiles, Augusto Pinochet, erstmals zur offiziellen Politik eines Staates erhoben worden. Nur der Sturz der sozialistischen Regierung unter Salvador Allende und die blutige Unterdrückung der Opposition durch ein Regime, dessen diktatorischen Charakter Hayek durchaus guthieß, machten die Durchsetzung einer Wirtschaftspolitik möglich, die in einer drastischen Vergrößerung der sozialen Ungleichheit und Verarmung der Lohnabhängigen und Bezieher von Sozialtransfers resultierte. Die Machtstellung der Zentralbank, aus der sich die Rahmenbedingungen für Ökonomie und Gesellschaft unter dem Primat der Geldwerstabilität diktieren lassen, firmiert seither als Vorbild neoliberaler Geldpolitik, auch wenn heutige Politiker nicht mehr so vollmundig wie einst die britische Premierministerin Margaret Thatcher das Lob auf die ökonomischen Errungenschaften der chilenischen Militärdiktatur singen mögen.

Umverteilung im Netzwerk der Kapitalmacht

Thatcher war mit ihrem berühmten Diktum, so etwas wie Gesellschaft gebe es nicht, auch Initiatorin eines Marktprimats, dem jegliche Vorstellung davon, daß der Menschen für soziales und gemeinschaftliches Handeln oder die Zukunft des Gemeinwesens verantwortlich sein könnte, fremd ist. Der bürokratisch-autoritäre Herrschaftsstaat bilde den politischen Rahmen eines Neoliberalismus, der sich nicht nur abstrakt in Prinzipien und Regulativen manifestiere, sondern dem ganz konkrete Interessen zugrundelägen. So verweist Elsner auf eine großangelegte, an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich erstellten und 2011 unter dem Titel "The network of global corporate control" veröffentlichte Studie [4], für die 43.000 der größten internationalen Unternehmen daraufhin untersucht wurden, wie weitgehend sie miteinander vernetzt und voneinander abhängig sind.

Die Autoren der Studie Stefania Vitali, James B. Glattfelder und Stefano Battiston fanden heraus, daß die 147 größten Konzerne, die mehr als 40 Prozent aller erfaßten Unternehmen kontrollieren, so eng miteinander interagieren, daß alle davon betroffen sind, wenn eines von ihnen bankrott geht. Dieses Netzwerk bildet, so gibt der Referent die Ergebnisse der Studie wieder, ein in sich geschlossenes System, das von außen nicht mehr kontrollierbar sei und in dem 200 bis 400 Topentscheider, die sich weitgehend über ihre Funktionen und Ämter in Aufsichtsräten und Vorständen kennen, den Ton angeben. Zu diesem Netzwerk, dessen Wirkmächtigkeit Elsner zufolge selbst die Mutmaßungen sogenannter Verschwörungstheoretiker in den Schatten stelle, gehörten weiterhin einige hundert der reichsten privaten Investoren, Kreditgeber und Anteilseigener der Banken, Investmentfonds und Versicherungsgesellschaften.

Was in der Imperialismustheorie Lenins bereits vor einem Jahrhundert als Konzentrations- und Zentralisationstendenz des monopolistischen Kapitals und seiner Entwicklung zum Finanzkapital diagnostiziert wurde, hat heute, wie Elsner unter Verweis auf die UN-Berichte zur Weltentwicklung darlegt, zur ungleichsten Verteilung von Löhnen und Einkommen seit 200 Jahren geführt. Die deutsche Lohnquote am Sozialprodukt habe sich in 25 Jahren um 10 Prozent reduziert, doch allein in den sieben Jahren der rot-grünen Regierung, die sich besonders verdient gemacht hat um die Bevorteilung des Finanzkapitals, habe sie sich um acht Prozent verringert. Auf 25 Jahre, so rechnet Elsner vor, seien auf diese Weise 2 Billionen Euro von der Seite der Lohnabhängigen zur Seite des Kapitals umverteilt worden.

Fiktives Kapital bleibt seinen materiellen Voraussetzungen verhaftet

Dort setzt die Überakkumulationskrise, um die es sich laut Elsner handelt, immer mehr fiktives Kapital frei, das aufgrund seines Mißverhältnisses zur realökonomischen Wertschöpfung nicht einmal mehr eine historisch durchschnittliche Profitrate erbringt. Der Referent macht die Dimensionen dieses Problems der Kapitaleigner deutlich, indem er das globale fiktive Kapital annäherungsweise beziffert. 750 Billionen Euro in Derivaten, 60 Billionen in CDS-Versicherungspolicen, die sogenannten High und Ultra High Net Worth Individuals verfügten weltweit über 200 Billionen Euro an liquidem Geldkapital, des weiteren müßte man das gehandelte Aktienvermögen wie die nicht institutionell gehaltenen Vermögensbeständen der Banken daraufhin untersuchen, inwiefern sie zum fiktiven Kapital zu rechnen seien.

Laut dem tax justice network, einer internationalen Organisation für Steuergerechtigkeit, blieben 60 Prozent des Gesamtvermögens aus besteuerbaren Einkommen ohnehin statistisch unsichtbar, weil das Geld in Steueroasen gebunkert ist, was bedeute, daß sich das 200 Billionen-Euro-Vermögen der Reichsten eigentlich auf 500 Billionen aufsummiere. Letztendlich lasse sich das Volumen des globalen fiktiven Kapitals nicht genau beziffern, weil es nicht zu erforschen sei. Lege man die vorhandenen Zahlen zugrunde, dann stehe einem globalen Kapital einschließlich des gehandelten industriellen Aktienkapitals von insgesamt einer Trillion Dollar ein Lohneinkommen des Weltsozialprodukts von 75 Billionen Dollar in Höhe von 45 Billionen Dollar gegenüber. Das bedeute letztlich, daß 30 Billionen Dollar Mehrwert - also das Weltsozialprodukt, das nicht zum Arbeitseinkommen gerechnet wird - auf eine Trillion Dollar fiktives Kapital zu beziehen wären. Das beliefe sich auf eine Profitrate von drei Prozent, was weniger wäre als im herkömmlichen Kapitalismus erreichbar.

Durch das weitere Anwachsen des fiktiven Kapitals nehme die durchschnittliche Profitrate global weiter ab, so daß das Kapital auf der einen Seite massiv zunehme, während sich das Arbeitseinkommen weiter verringere. Die damit abnehmende Mehrwertproduktion führt zu einer tendenziell weiter sinkenden Profitrate, die weit unterhalb der bislang auf dem Finanzmarkt üblichen Renditeansprüchen in Höhe von 25 Prozent und mehr lägen. Um eine solche Rendite auf eine Trillion Dollar zu erzielen, müßte das Umverteilungsvolumen von den 30 Billionen Mehrwert am Weltsozialprodukt auf 250 Billionen hochgeschraubt werden, so das imaginative Rechenexempel Elsners. In der Größenordnung des dreimaligen Weltsozialprodukts bewege sich somit der Umverteilungsdruck, der eingesetzt wird, um das so vielzitierte wie numinos bleibende Vertrauen der Finanzmärkte wiederherzustellen.

Für den Referenten wirkt sich dieses Dilemma in einer Verfestigung der Gläubiger-Schuldner-Ökonomie aus. Das fiktive Kapital suche verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten, die außerhalb riskanter Kreditgeschäfte nicht mehr so reichhaltig vorhanden seien wie noch im 19. Jahrhundert, als sich der kapitalistischen Expansion ganz andere Räume und Chancen boten. So sei bei einem verfügbaren Volumen von 45 Billionen Dollar Arbeitseinkommen nicht mehr viel aus der konventionellen Mehrwertabschöpfung zu holen, und auch die Staatshaushalte lösten das Problem bei einem Weltsozialprodukt von 75 Billionen Dollar nicht, von dem auf die Staaten nach Steuern 30 bis 40 Prozent entfielen.

Wolfram Elsner vor Folie - Foto: © 2012 by Schattenblick

Komplizierte Materie verständlich gemacht
Foto: © 2012 by Schattenblick

So entstünden zwecks fortgesetzter Umverteilung immer neue Blasen, die dazu genutzt würden, in der Phase ihrer Aufblähung Kapital zu akkumulieren, das rechtzeitig vor ihrer Implosion zum Beispiel in reale Werte wie Rohstoffe und Lebensressourcen investiert wird, wozu innovative Ressourcenfonds aufgelegt würden. Elsner stellt die provozierende Frage, wann Afrika aufgekauft sei, und ob man dann nach anderen Planeten greifen wolle, um neue rentable Anlagemöglichkeiten zu erschließen. Das fiktive Kapital habe längst begonnen, Amok zu laufen, um eine geforderte, gewünschte, die Konkurrenten übertrumpfende und daher im Kern unbestimmte, nach oben hin offene Profitrate zu realisieren. Dies jedoch werde immer schwieriger und gelinge tendenziell immer seltener, wie die Bankenkrise zeige.

Deren Bewältigung durch staatliche Interventionen verschärfe die Krise zugunsten der Gewinne von Banken und Kapitaleignern, denen die Zentralbank neues Geld zu minus zwei Prozent Zins - realer Zinsfuß abzüglich der Inflationsrate - zur Verfügung stellt. Dies kann in mit 5 Prozent verzinste Staatsanleihen investiert werden, so daß innerhalb von einer Minute 7 Prozent Zinsdifferenz in die Taschen der Investoren fließen. Die EZB hat den Banken zwischen Dezember 2011 und Februar 2012 zweimal 500 Milliarden Euro zu besonders günstigen Konditionen auf drei Jahre zur Verfügung gestellt und nimmt dafür Schrottpapiere entgegen, um die Solvenz und damit die Gewinne der Banken zu sichern. Die Bundesrepublik, deren Schuldenstand sich seit 2008 um 550 Milliarden Euro erhöht habe, habe Bankhilfen inklusive Bürgschaften von insgesamt 790 Milliarden Euro mobilisiert, die zum deutschen Anteil an der EZB-Billion hinzuzuzählen sei. Dies belaufe sich mit weiteren Belastungen wie dem deutschen Anteil am IWF-Haushalt und sogenannten Target 2-Krediten, bei denen die Bundesbank Kredite an Handelspartner gibt, die die Exporte der deutschen Wirtschaft nicht mehr bezahlen können, auf eine Belastung des Steuerzahlers von etwa zwei Billionen Euro.

Wolfram Elsner ist trotz der deflationären Entwicklung in der produzierenden Wirtschaft der Ansicht, daß inflationäre Folgen langfristig nicht ausbleiben werden, da die Zentralbank diese Unmengen an Geldern nicht mehr zurückerhalten werde. Ohnehin werde das Kapital, mit dem die Banken geflutet werden, kaum in die Privatwirtschaft investiert, sondern auf dem Finanzmarkt geparkt. Eine Trillion Dollar an hypernervösem fiktiven Kapital könne auf Dauer nicht dadurch ruhiggestellt werden, daß die Politik ein spekulatives Wettrennen über die Rettungsschirme inszeniere. Der Steuerzahler, der dieses Rennen mit der Spekulationsindustrie bestreiten müsse, habe nur eine Kriegskasse von einigen Billionen, während auf der anderen Seite eine Trillion stehe, die beruhigt werden will. Diese Schlacht sei also längst verloren, so der pessimistische Ausblick Elsners.

Indem der Staat fast jede Bank rette, werde nicht nur die klassische zyklische Reinigungskrise oder die Beteiligung der Spekulationsindustrie und ihrer Gläubiger an den Kosten der Krise verhindert. Die Alimentierung des Finanz- und Großkapitals, das seinerseits in Konkurrenz zueinander stehe, verhindere auch jeglichen Strukturwandel zugunsten eines sozialen oder kollektiven Interesses. Der Kapitalismus habe damit keine historische Funktion mehr, seine Größenordnungen seien mit demokratischen Mitteln nicht mehr darstellbar. Da die formale Vertretungsdemokratie schon vor der Krise zur Postdemokratie degeneriert sei, befinde man sich mit einer Geldpolitik, die mit demokratischen Mitteln nicht mehr zu beeinflussen ist, auf dem Weg in die Prädiktatur, bekräftigte Elsner noch einmal seine pessimistische Sicht auf die gesellschaftliche Zukunft.

Administrative Verfügungsgewalt provoziert sozialen Widerstand

Dieser Prozeß bilde sich institutionell unter anderem in der Economic Governance der EU ab. Dort trifft ein Zirkel aus EZB-Präsident, EU-Kommissionpräsident, dem Präsidenten des ESM-Rettungsschirms, der Präsidentin des IWF, der Wirtschafts- und Finanzminister und den Spitzen der großen Privatbanken Entscheidungen wirtschafts- und finanzpolitischer Art, die die Souveränität der Mitgliedstaaten insbesondere hinsichtlich der Hoheit über ihre Haushaltspolitik mit Mitteln wie dem des Europäischen Semesters stark einschränkt. Was mit den von willfährigen Regierungen und Expertenkabinetten durchgesetzten Spardiktaten in südeuropäischen Mitgliedstaaten vorgemacht wird, nimmt auch in den sogenannten Kernstaaten der EU die Gestalt einer antidemokratischen Politik an, die in öffentlichen Diskussionen zur Krisenbewältigung längst mit dem Zaunpfahl faktischer Militärregierungen winkt. Auf der Straße wird die dazu anfallende Drecksarbeit von Faschisten erledigt, während die Regierungen ihre Legitimation dadurch sichern, daß sie die Option des offenen Faschismus noch nicht in Betracht ziehen.

Der Referent beschließt seine trotz anderthalb Stunden konzentrierten Vortrags niemals ermüdend oder langweilig werdenden Ausführungen mit der Forderung, den Neoliberalismus durch ein auf Jahrzehnte angelegtes politisch-ökonomisches Rückverteilungsprojekt vollständig umzukehren, die finanziellen Massenvernichtungswaffen zu entschärfen und zu zerstören, das fiktive Kapital zu vernichten und für die Realwirtschaft zugänglich zu machen. Dies löste in der anschließenden Diskussion einigen Widerspruch aus, konnten sich viele Zuhörerinnen und Zuhörer nicht vorstellen, den Kapitalismus unterhalb seiner revolutionären Überwindung auf irgendeine Weise zu zähmen oder zu bändigen, wie sich Elsner auch ausdrückte.

Auf den Einwand, er unterstelle einen guten oder schlechten Kapitalismus, entgegnete der Referent, ihm gehe es darum, den Kapitalismus zu produktiver Tätigkeit zu zwingen, indem man ihn in institutionelle Regelungen einbindet. Dazu führte er seiner Ansicht nach untersuchenswerte Beispiele wie Finnland, Dänemark, Norwegen, Venezuela und vor allem China an, dessen Politik er keineswegs rundheraus gutheißt, das aber als Untersuchungsgegenstand der Zukunft nicht wichtiger sein könnte, um herauszufinden, was man hierzulande besser machen könne. Er wolle verhindern, daß der Kapitalismus vor seinem Ende alles zerstört, und sprach damit einer Regulation das Wort, die in Anbetracht herrschender Machtverhältnisse erreichbar sei. Der Kapitalismus könne keine progressive Rolle mehr spielen, er tendiere viel mehr stark dahin, die Welt zu zerstören, doch man könne ihn mit Glück und Klugheit dazu zwingen, dies nicht zu tun.

Die Linke blicke fast ausschließlich auf Niederlagen zurück, zudem sei neoliberales Denken in Gewerkschaften wie Linkspartei weit verbreitet. Aber auch die antikapitalistische Linke sei damit konfrontiert, daß die Herrschenden keine Sekunde zögerten, alles mit in den Abgrund zu reißen, wenn sie ihre Felle davonschwimmen sehen. Man solle sich keine Illusionen über das Aggressivitätspotential der Rechten und Herrschenden machen, die miteinander kooperierten, warnte Elsner eindringlich. Der Kapitalismus profitiere vom Opportunismus auch vieler Linker. Was passiere, wenn engagierte Linke in die Parlamente kämen, schilderte er unter Verweis auf persönliche Erfahrungen, die er in der öffentlichen Verwaltung in den neunziger Jahren mit Politikerinnen und Politikern der Grünen gemacht hat. Dies illustrierte Elsner, der sich rundheraus einer unterhaltsamen und kommunikativen Gesprächsführung bediente, auf so charakteristische Weise, daß einem das Lachen im Halse steckenbleiben konnte.

Fahne der Kommunistischen Plattform 'Clara Zetkin' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Veranstaltung im Parteibüro "Die Linke" in Hamburg-Altona
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Adaptionsfähigkeit des Kapitalismus wird unterschätzt

Was immer der einzelne von der politischen Einstellung des Referenten, der keinen revolutionären Anspruch erhebt, den er im praktischen Leben nicht decken kann, halten mag, so waren seine Ausführungen nicht nur in Hinsicht auf die herrschenden Machtverhältnisse aufschlußreich. Die bis zu erbitterter Gegnerschaft unter Linken eskalierende Diskussion der Frage, inwiefern Kapitalmacht personifiziert werden darf, ohne in reaktionäre Deutungsmuster zu verfallen, spielte aus der Sicht des Ökonomen und Wissenschaftlers keine besondere Rolle. Er erschließt den Klassenantagonismus in der Kategorie realer, über Kapital vermittelter Verfügungsgewalt, die schwerlich zu leugnen ist, wenn es um die krude Bemittelung der Durchsetzung jeweiliger Klassenpositionen geht.

Indem er den anwachsenden Widerstand greifbar machte, der sich dem Akkumulationsinteresse aus der Immanenz seines Prinzips, den Menschen von den Bedingungen seiner Reproduktion zu trennen und ihm das fremde Interesse aufzuherrschen, Arbeit um ihres Lohnes willens zu verrichten, entgegenstellt, hat Elsner auch einen Beitrag dazu geleistet, den fundamentalen Charakter kapitalistischer Vergesellschaftung zu durchschauen und damit überwindbar zu machen. Die Befreiung des Menschen nicht nur vom Kapitalverhältnis, sondern vom Wert als Mittel seiner Beherrschbarkeit stand an diesem Abend nicht zur Debatte, ist damit aber nicht aufgehoben. Elsners Erklärung zur Aktualität der ursprünglichen Akkumulation läßt ahnen, daß die Adaptionsfähigkeit des Kapitalismus mit der bloßen Umverteilung von unten nach oben längst nicht erschöpft ist. Wenn nichts anderes bleibt als die Konstante der Herrschaft aufgrund der fortschreitenden Aushöhlung ihrer konstitutiven Bedingungen durch die Verschärfung von Not und Unterdrückung auch dort zu garantieren, wo man sich bis heute fern vom globalen Elend wähnt, sind durchaus direktere Formen der Kontrolle und Verfügung vorstellbar. Ob man dann noch von Kapitalismus reden mag oder seine begriffliche Hülle der quantifizierten und komplizierten Aufrechterhaltung der Herrschaft des Menschen über den Menschen zu eng geworden ist, ändert nichts am konsequenten Vollzug einer zerstörerischen Logik.

Fußnoten:
[1] siehe Werner Bonefeld: Ursprüngliche Akkumulation und kapitalistische Akkumulation http://www.rosalux.de/gesellschaftsanalyse/nachrichten/nachricht/publication/37246/maulwurfsarbeit.html

[2] Jürgen H. Mendner: Technologische Entwicklung und Arbeitsprozeß, Frankfurt am Main 1975, S. 86 f.

[3] http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/111130_rede_demokratie_jetzt_bremen_11_11.pdf

[4] http://arxiv.org/PS_cache/arxiv/pdf/1107/1107.5728v1.pdf

18. Dezember 2012