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BERICHT/131: Kapitalismus final - Beliebigkeitsökonomie (SB)


Plädoyer für die Rekonstruktion der Marxschen Geld- und Kredittheorie

Veranstaltung am 6. November 2012 in Hamburg-Eimsbüttel



Wenngleich unter Linken Einigkeit darüber herrscht, daß die aktuelle Krise eine zwangsläufige und immanente Erscheinung des Kapitalismus sei, scheiden sich doch die Geister insbesondere an der Frage, welche Rolle der Finanzsektor in diesem Zusammenhang spielt. Es handelt sich dabei mitnichten um einen marginalen Expertenstreit um die Marx-Exegese, als der die Diskussion Außenstehenden auf den ersten Blick erscheinen mag. Das wird deutlich, wenn mögliche Handlungskonsequenzen zur Debatte stehen. Glaubt man im Finanzsektor den Kern des Übels identifiziert zu haben und verlangt man der Politik eine Regulierung und Kontrolle dieser Sphäre ab, postuliert man nichts weniger als die Reformierbarkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Doch auch wenn man dieser Vorstellung eine entschiedene Absage erteilt, besteht beträchtlicher Klärungsbedarf, was die Bedeutung des Finanzwesens hinsichtlich der Entstehung und des Verlaufs der gegenwärtigen Krise betrifft.

Ist der Finanzsektor der Auslöser oder der Motor der Krise? Wird hier Wert generiert oder im Gegenteil vernichtet? Welche Rolle spielen die Banken in diesem Zusammenhang? Kann man den Finanzsektor regulieren? Diese und andere Fragen wurden gemeinsam mit dem Ökonomen und Politikwissenschaftler Guenther Sandleben diskutiert. Die DKP hatte ihn im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [1] am 6. November ins Magda-Thürey-Zentrum in Hamburg-Eimsbüttel eingeladen, wo er zum Thema "Ursache, Motor, Endzweck? Die Rolle des Finanzsektors in der aktuellen Krise" sprach.

Projektion des Veranstaltungstitels - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

Eingangs trug Ulf Brandenburg, Leiter der Arbeitsgruppe marxistische Theorie und Bildung bei der MASCH Hamburg, im Namen der Vorbereitungskommission zwei Themenkomplexe vor, nämlich wie der Kapitalismus heute funktioniert und wie die gegenwärtige Krise abläuft. Bei der ersten Frage geht es unter anderem darum, wo Wert produziert wird, welche Rolle der Kredit bei einer möglichen Wertschöpfung spielt und ob eine Trennung zwischen Warenproduktion auf der einen und dem Finanzbereich auf der andern Seite überhaupt Sinn macht. Handelt es sich bei Banken um Auswüchse des Kapitalismus, die gebändigt werden müssen, oder sind sie unverzichtbare Bestandteile des heutigen Kapitalismus? Was versteht Marx eigentlich unter fiktivem Kapital und welche Bedeutung hat es? Fragen, die sich konkreter mit der gegenwärtigen Krise beschäftigten, waren zum Beispiel: Welche grundlegenden Widersprüche sind für die heutige Krise verantwortlich? Wie ist das Verhältnis von Warenproduktion, Verkauf und Finanzsektor in der Krise?

Guenther Sandleben trug dezidiert eine Position vor, die seines Erachtens dem linken Mainstream kritisch gegenübersteht. Der erste Abschnitt seines dreiteiligen Referats war einer kurzen Skizze der linken Krisendebatte gewidmet, die sich zur Frage des Finanzsektors herausgebildet hat. Im zweiten Teil folgte eine empirische Untersuchung, welche Rolle der Finanzsektor in der aktuellen Krise seit 2007 gespielt hat. Der dritte Teil befaßte sich mit der Frage, was begrifflich so falsch gelaufen ist, daß man den Kapitalismus inmitten seiner schärfsten Krise durch die These eines finanzmarktgetriebenen Kapitalismus derart verharmlost.

Stellvertretend für die von ihm kritisierte Position zitierte der Referent eine Aussage des Wirtschaftswissenschaftlers Rudolf Hickel, der in seinem Buch "Zerschlagt die Banken" schreibt:

Kennzeichen des heutigen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist die Spaltung des Geldes. Dem realen, durch die Produktionswirtschaft gedeckten Geld steht das irreale fiktive Geld gegenüber. Die Jagd nach hohen und schnellen Renditen auf den Finanzmärkten dominiert.

Hickel spricht von Produktionswirtschaft, nicht aber von kapitalistischer Produktion, was kein Zufall sei, so Sandleben. Er betrachte die Produktionswirtschaft vor allem stofflich und identifiziere die kapitalistische Produktionswirtschaft mit dem einfachen Arbeitsprozeß. Indem er die Kapitalbestimmung herausnimmt idealisiere er die kapitalistische Ökonomie und blende das Kapitalverhältnis geradezu aus. Damit sei der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital wegdefiniert. Widersprüche, die sich in Krisen entladen, verschwinden bei dieser Definition. Die negativen Auswirkungen der herrschenden Produktionsweise werden von Hickel in den Finanzsektor geschoben. Einer angeblich guten Produktionswirtschaft auf der einen Seite wird eine aggressive Finanzökonomie auf der anderen Seite gegenübergestellt. Im Finanzsektor sollen alle möglichen politischen Eingriffe möglich sein, wozu Hickel eine ganze Reihe von Vorschlägen macht, während vom kapitalistischen Verwertungsprozeß keine Rede mehr ist. Er schreibt von einer "krisentreibenden Hierarchisierung der Märkte", wobei derzeit die Anlageentscheidungen auf den Finanzmärkten die Güter- und Arbeitsmärkte dominierten. Die Akteure der Finanzmärkte würden ihre überzogenen Profitbedürfnisse der Wirtschaft aufzwingen. Hickels politisches Ziel lautet: "Die Produktionswirtschaft braucht wieder Vorrang vor der Finanzwirtschaft. Die Neuordnung des Bankensystems sowie der Finanzmärkte dient der Stärkung der Produktionswirtschaft." Zu diesem Zweck schlägt er vor, die Banken zu zerschlagen, um sie wieder seriös zu machen: "Drängt den Finanzsektor zurück, dann verschwindet die Krise!"

Als zweites Stichwort erörterte der Referent, daß es Hickel nicht um die Kritik sämtlicher Kapitalsorten gehe, die in ihrer Gesamtheit erst das Kapitalverhältnis bilden. Er kritisiere in Gestalt der Banken lediglich eine Kapitalfraktion, um das Interesse einer anderen zu fördern. Die These von der Dominanz der Finanzmärkte stamme nicht von Marx, sondern von den Monetärkeynesianern, die diese These zum Dogma erhoben hätten. "Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort sich ein zur rechten Zeit. Mit Worten läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten", zitierte Sandleben aus Goethes "Faust". Die begriffslosen Modeworte von heute lauteten: Raubtierkapitalismus, finanzinvestorengetriebener Kapitalismus oder finanzdominiertes Akkumulationsregime. Soll damit etwa dem Haustierkapitalismus, eingehegt und zurechtgestutzt auf den schönen rheinischen Kapitalismus, das Wort geredet werden, gönnte sich der Referent eine polemische Spitze. Diese Auffassung übersehe, daß das Kapital den Verwertungszwang in sich trägt, und externalisiert diesen. Der Grundwiderspruch bleibe ausgeblendet, bestenfalls schimmere noch die Verteilungsfrage durch, die jedoch nicht mehr als Konsequenz der Produktionsverhältnisse, sondern eine davon abgehobene politisch willkürlich regelbare Angelegenheit gesehen wird.

Referent engagiert beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Herbe Schelte für Keynes und Konsorten
Foto: © 2012 by Schattenblick

Im zweiten Teil seines Vortrags ging Sandleben zunächst auf die Vorgeschichte der Krise ein, also den Zeitraum zwischen den achtziger Jahren und 2007. Neue Technologien und Anlagesphären des Kapitals in China, Osteuropa und der Golfregion führten vor allem in den neunziger Jahren zu einer stärkeren Expansion des Weltmarktes. Die USA erlebten den längsten Wirtschaftsaufschwung ihrer Geschichte. Der Akkumulationsprozeß durfte nicht durch Kreditrestriktionen gehemmt werden, wie sie im US-Bankensystem nach der Weltwirtschaftskrise 1932 eingeführt worden waren. So war der Kreditmarkt stark aufgesplittert, vielfach bestand Niederlassungsverbot in anderen Bundesstaaten, auch war die Zahl der Filialen reglementiert. Das generierte Kapital sollte der jeweils eigenen Region zur Verfügung stehen. Dies führte zu einer Disproportionierung von Leihkapital, von dem regional oftmals zu viel oder zu wenig vorhanden war. Die Kapitalakkumulation machte die Beseitigung dieser Schranken erforderlich.

Bereits in den frühen achtziger Jahren wurden Käufergesellschaften gegründet, die Kreditpakete der Banken erwarben und sich ihrerseits durch die Herausgabe von Wertpapieren finanzierten. Diese Verbriefung beschleunigte sich immer weiter, später kam noch der Derivatehandel hinzu. Diese Liberalisierung war keine Konsequenz falscher Politik, vielmehr drängte das Kapitalbedürfnis dahin, die Finanzmärkte zu öffnen. Das wachsende Kreditbedürfnis wurde vor allem durch die Verbriefung von Schuldtiteln gestillt, was die überzyklische Expansion des Finanzsektors in mehrfacher Hinsicht beflügelte. Die Verbriefung erhöhte die Zahl der Wertpapiere und bediente sich insbesondere der Hypothekenkredite. Zudem wurden immer mehr Aktien und Unternehmensanleihen emittiert. Zentralisierungstendenzen förderten den Aufkauf anderer Unternehmen und damit den Bedarf an weiteren Krediten. Privatisierungswellen lösten weiteren Kreditbedarf aus, Börsengänge erweiterten die Finanzmärkte. Neue Informationstechniken schufen Bedingungen für eine globale Zentralisierung des Kreditwesens. Gelder, konzentrierbar in leihbares Geldkapital, ließen sich weltweit mobilisieren, um dann als Kredit ausgeliehen zu werden. Die Fonds- und Vermögensverwaltung expandierte überproportional.

Von der Sache her hat sich laut Sandleben nur das ereignet, was Marx als allgemeine Tendenz des Kreditsystems formulierte:

Mit der Entwicklung des zinstragenden Kapitals und des Kreditsystems scheint sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweise zu verdreifachen durch die verschiedene Weise, worin dasselbe Kapital oder auch nur dieselbe Schuldforderung in verschiedenen Händen unter verschiedenen Formen erscheint.

Die erste Finanzmarktkrise setzte Mitte 2007 ein. Schon zwei Jahre zuvor war die Nachfrage nach Häusern zurückgegangen. Die Immobilienpreise fielen, die Nachfrage sank bis Juni 2007 um fast 50 Prozent. Diese Absatzkrise sprang auf den Kreditsektor über, wobei vor allem die verbrieften Hypothekenkredite mit geringer Bonität (subprime loans) nicht bedient werden konnten. Notenbankchef Ben Bernanke warnte, daß die Subprime-Krise bis zu 100 Milliarden Dollar kosten könnte. Einer der größten Unternehmensdarlehenanbieter meldete Konkurs an. EZB und Fed versorgten Banken mit Liquiditätszuschüssen von 120 Milliarden Euro. Besorgte Kunden stürmten im September 2007 die Schalter der britischen Bank Northern Rock.

Die Krise auf dem US-Häusermarkt ging also der Finanzmarktkrise voraus, wie der Referent betonte. Faul gewordene Kredite konnten nicht mehr bedient werden. Die Verbriefung der Kredite und der Verkauf von Ausfallrisiken (credit default swaps) hatte die Kredite über die ganze Welt gestreut. Die Finanzkrise von 2007 sprang keineswegs von den Banken auf die Industrie über, da die Notenbanken eine solche Kreditklemme verhinderten, die damit als Ursache der zweiten Krise im Jahr 2008 nicht in Frage kommt. Die Lehman-Pleite im September 2008 werde zu Unrecht als Auslöser der weltweiten Krise bezeichnet, da es sich empirisch gesehen genau umgekehrt verhalten habe. Das Bruttosozialprodukt der USA war bereits dramatisch zurückgegangen, als es zu dieser Pleite kam. Gleiches gelte für Deutschland, wo die Nachfrage seit Januar 2008 zurückgegangen war, während die Finanzmarktkrise erst im September eintrat. Sowohl die erste Finanzmarktkrise Mitte 2007 als auch die zweite vom September 2008 wurde also von einem Absatzrückgang ausgelöst. Von einem Überspringen der Finanzmarktkrise auf den warenproduzierenden Sektor, wie das auch in der linken Debatte vielfach vertreten wird, könne nicht die Rede sein, so der Referent.

Eine Kreditkrise entstehe nur dann, wenn sehr viele Kredite nicht mehr rückzahlbar sind. Das geschieht massenhaft immer dann, wenn die Warenproduktion stark rückläufig ist, also in der Überproduktionskrise der Rückfluß der Gelder ins Stocken gerät. In der Kreditkrise sind die Banken stark betroffen, weil sie der wichtigste Kreditgeber sind. Eine Kredit-, Banken- und Börsenkrise ereignete sich im September 2008. Die Kreditketten waren aufs äußerste gespannt und drohten zu zerreißen. Der Anlaß war indessen beliebig, es hätte auch eine andere Großbank oder ein Unternehmen wie General Motors sein können.

Guenther Sandleben und Ulf Brandenburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kongenial und kompetent
Foto: © 2012 by Schattenblick

Damit kam der Referent zum dritten Punkt seines Vortrags, nämlich der Frage, was in der linken Debatte begrifflich schiefgelaufen ist, wenn eine Finanzmarktkrise als Ursache der Krise gedeutet wird. Geld aus dem Nichts zu schaffen, sei kein Marxscher Begriff. Marx weist das Geld als Produkt der Ware aus, es ist die selbständige Form des Warenwerts. Die Warenverkäufer erkennen nur das als Geld an, was für sie wiederum als Kaufmittel dienen kann. Es sind also die Warenproduzenten, die dem Geld den Geldcharakter geben, nicht die Notenbanken. Bei dem Berliner Politikwissenschaftler Michael Heinrich existiere hingegen das Geld unabhängig von der Warenform. In seiner monetären Wertlehre fungiert das Geld als Voraussetzung des Werts.

Hingegen schreibt Marx:

Geld ist der selbständige Ausdruck des Werts. Die Waren werden nicht durch das Geld kommensurabel. Umgekehrt, weil alle Waren als Werte vergegenständlichte menschliche Arbeit und daher an und für sich kommensurabel sind, können sie ihre Werte gemeinschaftlich in derselben spezifischen Ware messen. Der Preis ist nur der Geldname, ein objektiver Ausdruck gleichartiger Arbeit verausgabt in der Produktion der Ware.

Das leugne Michael Heinrich, denn er fasse Arbeit als reine Privatarbeit auf, deren gesellschaftlichen Charakter er nicht anerkennt. Seiner Meinung nach gelangen die produzierten Güter in den Austausch, ohne Wert zu besitzen: "Gebrauchswerte werden erst innerhalb und durch den Austausch zu Waren." Dieser Auffassung zufolge hat man es mit einer Realökonomie zu tun, in der Produkte und keine Waren hergestellt werden. Vom Standpunkt des Bankers aus gesehen, handelt er mit Geld und Ansprüchen auf Geld. Heinrich nehme diese Sicht des Bankers für bare Münze, so Sandleben.

Dies sei ein Begrüßungsakt für die keynesianische Theorie. Indem die monetäre Werttheorie den inneren Zusammenhang von Ware und Geld wegdiskutiere, schaffe sie Raum für die keynesianische These, wonach Geld eine exogene Angelegenheit der Notenbank sei. So treffe sich Heinrichs These von der wertstiftenden Macht des Geldes mit der keynesianischen Überhöhung desselben. Schaffe das Geld die Warenform, so throne es wie bei Keynes und noch klarer bei Silvio Gesell über der Ware. Geld und Finanzmärkte bestimmen nach dieser Vorstellung das Geschehen auf den Güter- und Arbeitsmärkten. Heinrich setze direkt an den Marxschen Texten an und wolle Inkonsistenzen und Mängel beseitigen, während er in Wirklichkeit keynesianische Gesichtspunkte einschleuse.

Für die Mehrwertproduktion, fuhr der Referent fort, spiele es keine Rolle, ob die Maschinen mit eigenem oder geliehenem Kapital angeschafft worden sind. Der Leihkapitalist habe mit der unmittelbaren Produktion überhaupt nichts zu tun. Die Profitquellen des Finanzsektors seien Zins, Dividende und Grundrente, die aus der Wertschöpfung kommen. Steigen die Aktienkurse, habe das nichts mit Wertschöpfung zu tun, es sei lediglich ein Anstieg der Vermögenspreise. Marx diskutiert das im dritten Band des Kapitals anhand der Rohstoffpreise. Das fiktive Kapital ist bei ihm nichts anderes als die Kapitalisierung eines regelmäßig auftretenden Geldstroms, und er nennt das zinstragende Kapital "die Mutter aller verrückten Formen".

Zwei Mystifikationen des fiktiven Kapitals geistern im linken Lager herum, warnte Sandleben. Das Gerede vom fiktiven Geld vermenge das Geld mit dem fiktiven Kapital. So schreibe Lucas Zeise ausdrücklich, daß zum Wesen des Geldes nicht nur die Zahlungsmittelfunktion gehört, sondern auch, daß Geld aus sich selbst heraus Zins schaffen, also fiktives Kapital sein kann. Ernst Lohoff und Norbert Trenkle wiesen das fiktive Kapital als reale Verdopplung des Kapitals aus und unterstellten eine Akkumulation des fiktiven Kapitals, das ihrer These zufolge künftigen Wert anzapft und damit die Wertproduktion in der Gegenwart vergrößert. Ihr Fehler besteht Sandleben zufolge darin, daß sie nicht zwischen verleihen und verkaufen unterscheiden. Beim Verleihen werde ein wirklicher Wert fortgegeben, ohne daß man dafür wie beim Warentausch ein Äquivalent erhielte. Der Anspruch auf Zins und die spätere Rückzahlung seien kein wirkliches Kapital. Marx schreibt: "Die selbständige Bewegung bestätigt den Schein, als bildeten sie wirkliches Kapital neben dem Kapital." Man kann keine Werte realisieren, die noch nicht vorhanden sind, so der Referent. Autoren, die behaupten, der Finanzsektor sei eine Gefahr für die reale Produktion, verfügten über keinen wissenschaftlichen Begriff mehr und gingen beliebig an die Thematik heran.

Guenther Sandleben beendete seinen Vortrag mit dem folgenden Schlußplädoyer: Um die Geld-, Kapital- und Kreditform wieder begrifflich zu fassen, sie zu entkleiden von allerlei Mystik, bedürfe es einer Rekonstruktion der Marxschen Geld- und Kredittheorie. Keynes sei dazu nicht nötig. Rekonstruktion bedeute vielmehr, die bürgerlichen Teile zu entfernen. Das sei unverzichtbar, um den Blick auf die wirklichen Krisenursachen und deren Beseitigung zu richten. Eine Unterscheidung in gute nützliche Kapitale und gefährliche schädliche Kapitale liege ihm fern, so der Referent. Alles Kapital kenne nur einen Zweck: Seine Erhaltung und Vergrößerung, also die Verwertung von vorgeschossenem Wert. Das sei der Charakter des Kapitals, wo immer es angelegt wird. Seine Kritik beinhalte eine Kritik sämtlicher Kapitalsorten, in deren Zusammenwirken das Kapitalverhältnis besteht. Das sei auch die Marxsche Position, und hinter diese Kritik der Politischen Ökonomie sollte man nicht zurückfallen.

Referent beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Nicht hinter die Marxsche Position zurückfallen!
Foto: © 2012 by Schattenblick


Denkanstöße auf fruchtbaren Boden gefallen

Nachdem der Referent den wohlverdienten Beifall für seine aufschlußreichen und engagiert vorgetragenen Ausführungen erhalten hatte, schloß sich eine angeregte Diskussion an. Handelt es sich bei der aktuellen Krise um eine zyklische Überproduktionskrise, der ein Aufschwung folgt, oder vielmehr um eine tiefgreifende Systemkrise des Kapitalismus, war eine der Fragen, die dabei erörtert wurden. Ist der Kapitalismus eine Abfolge des immer gleichen zyklischen Verlaufs, und luge dahinter nicht so etwas wie ein "buddhistischer Marxismus" hervor, wollte ein anderer Teilnehmer von dem Referenten wissen.

Sandleben erinnerte daraufhin daran, daß Staat und Notenbanken im Verlauf der aktuellen Krise massiv interveniert und die Kapitalentwertung dadurch aufgehalten haben. Der Staat legte riesige Konjunkturprogramme auf, die Notenbanken stellten massenhaft Liquidität bereit und übernahmen die Risiken, wodurch sie selber eine Art "Bad Bank" wurden. Daraus resultierte eine sprunghafte gewachsene Staatsverschuldung, es kam zu einer Staatsschuldenkrise bis hart an den Rand des Staatsbankrotts. Im Sommer 2008 setzte eine zyklische Erholung ein, die jedoch aufgrund der ausgebliebenen Entwertungsprozesse schwach ausfiel und in diversen Ländern vor allem Südeuropas völlig ausblieb. Die Industrieproduktion ist selbst in Deutschland schon wieder rückläufig, es existiert aufgestautes Krisenpotential und die Staaten können immer weniger intervenieren. Daher sei zweifelhaft, daß die nächste Krise bewältigt werden kann. In den neunziger Jahren führten zudem neue Technologien und Anlagesphären wie insbesondere in China zu einem Nachfrageboom aufgrund von Infrastrukturprojekten und Fabrikbauten. Inzwischen trete der gegenteilige Effekt ein, nämlich eine verlangsamte Akkumulation. Natürlich gebe es eine Entwicklung im Kapitalismus, dessen Widersprüche langfristig zunehmen. Jede Produktivkraftentwicklung sei ein Schritt in Richtung einer anderen Gesellschaft.

Dagegen wandte ein Diskussionsteilnehmer ein, ob nicht im Gegenteil eine innovative Vertiefung der kapitalistischen Vergesellschaftung zu beobachten sei. Beispielsweise würden Städte zu neuen strategischen Geschäftsfeldern erklärt und das privatisierte Gesundheitswesen werde der Profitmaximierung unterworfen.

Dies griff Sandleben in der Weise auf, daß er die Weiterentwicklung der Produktivkräfte unterstrich, jedoch hinsichtlich der Produktionsverhältnisse von einer begrenzten Entwicklung sprach. Das Privateigentum und die Klassen hätten sich seit Marx' Zeiten nicht geändert. Der Arbeitsprozesse habe sich geändert, die Verwertungsseite sei geblieben. Dadurch gerieten die Produktivkräfte immer stärker in Konflikt mit den Produktionsverhältnissen. Sowohl Emanzipation als auch Barbarei sei möglich, da sich in der tiefen Krise wie etwa in Griechenland auch faschistische Kräfte formierten.

Gefragt nach der Bedeutung von Monopolbildung und Verschmelzung kam Sandleben darauf zu sprechen, daß die immanente Bestimmung des Kapitals in der Konkurrenz als Zwangsgesetz durchgesetzt werde. Es gebe zweifellos Kartelle, die größeren Einfluß als kleine auf den Staat haben, doch ändere das nichts an den Durchsetzungsmechanismen der Kapitalverwertung durch Konkurrenz. Als Lenin vom Imperialismus als der letzten Phase des Kapitalismus sprach, analysierte er die Kriege als imperialistische und drückte zugleich aus, daß die Revolution durch die Vergesellschaftsprozesse nähergerückt sei. Wer heute Korrekturen an den Banken und Finanzmärkten anmahne, habe hingegen nicht die proletarische Revolution im Sinn, deren Notwendigkeit er bestreite. Der Staat sei ein kapitalistischer und seine Politik die des Kapitals. Die Demokratie sei durchaus geeignet, die verschiedenen Interessen des Kapitals auszugleichen, wobei die kräftigsten Kapitale den politischen Kurs bestimmten.

Ulf Brandenburg verwies darauf, daß die Existenz der sozialistischen Länder dem Kapitalismus eine bestimmte Form aufgezwungen habe. Heute agiere er anders, und seine inneren Gesetzmäßigkeiten könnten sich seit dem Wegfall der sozialistischen Staaten voll entfalten.

Eine der zentralen Fragen der Diskussion war in Anlehnung an die Kritik an Lohoff und Trenkle, ob nicht über die Vermehrung der Geldmenge die Verhältnisse insofern gestreckt werden, als der letztendliche Zusammenbruch verschoben wird. Die heute vorhandene Geldmenge übersteige längst die realen Güter um ein Vielfaches. Der postulierte Vorgriff auf die Kaufkraft der Zukunft klinge auch bei Tomasz Konicz an. Darüber hinaus stelle sich die Frage, ob die Krise nicht bei ihrer Ausbreitung über den Globus unterschiedlich in Erscheinung trete. Während das US-Kapital als relativer Verlierer aus der Krise hervorgehe, weil dort produktives Kapital in den Finanzsektor verlagert worden sei, trete ersteres verstärkt in Südostasien auf den Plan. Grundsätzlich sei indessen zu klären, ob der Kapitalismus an seine Grenzen stößt, weil ihm die wertschaffende Arbeit ausgeht.

Sandleben unterstrich, daß Lohoff und Trenkle in der Tat postulierten, daß die produktive Arbeit seit der dritten technologischen Revolution zurückgehe und der daraus resultierende Zusammenbruch durch das fiktive Kapital kompensiert werde. Er bestreite jedoch die These der schrumpfenden Wertbasis. Auch in den USA habe es in den neunziger Jahren hohe Wachstumsraten gegeben, wobei der Denkfehler in der Beschränkung der produktiven Arbeit auf den industriellen Sektor bestehe. Es seien massenhaft Bereiche ausgelagert worden, die fortan als Dienstleistungen erscheinen. Produktiv sei jede Arbeit, die sich gegen Kapital tauscht. Man müsse zudem die steigende Intensität der Arbeit berücksichtigen, da bei dieser mehr Arbeitsmenge verausgabt und somit mehr Wert geschaffen wird. Das gilt insbesondere für Deutschland, so daß die Wertbasis also keineswegs geschrumpft sei.

Ein Diskussionsteilnehmer stellte den von Tomasz Konicz bei einer der vorangegangenen Veranstaltungen beschriebenen Schuldenkreislauf zur Disposition, der sich von den USA ausgehend weltweit entwickelt hat. Konicz beschrieb den Aufschwung der USA durch den Verkauf von Schuldtiteln, der einen Kreislauf mit chinesischen Waren auslöste. Gigantische private und staatliche Verschuldung der USA, befeuerte Warenproduktion in China waren die Folge. Sandleben erkläre hingegen das Ansaugen von künftigem Wert für unmöglich.

Man müsse mit Marx sauber unterscheiden, so der Referent: Fiktives Kapital ist nur ein Anspruch auf Geld, nicht selbst Geld. Wenn ein Unternehmen eine Anleihe zeichnet, wird diese mit Geld erworben. Verkauft man die Anleihe, realisiert man das Geld wieder. Bürgerliche Theoretiker sprechen vom Vermögenseffekt wenn sich Wertpapiere verteuern oder Deflation eintritt und dieser größere reale Wert Nachfrage auslöst. Man sollte diesen Effekt jedoch nicht überschätzen: Denkt man an den Börsencrash 1987, bei dem sich die Kurse halbierten, hatte das keinen Effekt auf die sogenannte Realwirtschaft. Das fiktive Kapital könne das reale nicht aus dem Sumpf ziehen, so Sandleben.

Dem fügte Brandenburg hinzu, daß auch ein Wertpapier zirkulationsfähig sei, da man es gegen Geld verkaufen könne. Sein Wert speise sich jedoch allein aus dem, was aus der Produktion komme. Die größere Summe, die durch solche Papiere scheinbar in die Welt komme, sei lediglich die Kapitalisierung dessen, was regelmäßig aus dem produktiven Sektor hereinströme.

Diese Erklärung führte zu der Frage, ob nicht Geld grundsätzlich eine Anleihe auf die Zukunft sei, da es längerfristig durch Inflation oder Währungsreform entwertet werden kann. Handelt es sich folglich um ein bloßes Versprechen, das durchaus aufgehoben werden kann?

Dazu müsse man zunächst klären, welches Geld gemeint sei, so Sandleben. Kreditgeld kehre zum Ausgangspunkt zurück. Geld als Wertzeichen habe mit Zukunft nichts zu tun und werde durch die Warenverkäufer bestätigt. Das Geldsystem könne jedoch durchaus umkippen, wenn das Vertrauen in Notenbank und Staat schwinden. Geht beispielsweise das Vertrauen in das britische Pfund verloren, flüchten die Besitzer von Anleihen in andere Währungen, was den Verfall des Pfunds beschleunigen würde. Inflation im Inland wäre die Folge. Grundsätzlich wäre ein Kapitalismus ohne Bankkredit praktisch nicht möglich, da große Mengen gesellschaftlichen Kapitals erforderlich sind, um beispielsweise Fabrikanlagen zu errichten. Marx sagt, daß das Bankwesen die Produktivkräfte entwickeln hilft. Kredittransaktionen sind zentral für den heutigen Zahlungsverkehr. Unternehmen untereinander verwenden so gut wie kein Bargeld mehr. Bricht das Vertrauen zusammen, bricht der Kredit zusammen.

Damit endete die Veranstaltung aus zeitlichen Gründen, nicht aber eine Diskussion, die nicht nur manche Klärungen, sondern darüber hinaus weiterentwickelte Fragestellungen hervorgebracht hatte. Wie die lebhafte Debatte zeigte, waren die Denkanstöße Guenther Sandlebens auf fruchtbaren Boden gefallen. Dabei unterstrich der mehrfach vorgenommene Rückbezug auf vorangegangene Themenabende der Veranstaltungsreihe, daß sich längst ein laufender Diskussionsprozeß entfaltet, der allen Beteiligten die Möglichkeit eröffnet, ihre Kenntnisse zu vertiefen, sie auf den Prüfstand zu stellen und ihre Argumentation zu präzisieren.

Publikum von hinten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gastlicher Ort Magda-Thürey-Zentrum
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fußnote
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

19. November 2012