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BERICHT/085: Petersberg II - Afghanische Frauenrechtlerinnen berichten (SB)


Arbeitsgruppe zu Feminismus und Militarisierung am 4. Dezember 2011 in Bonn


In Zeiten, in denen Aggressionskriege im Namen von Frauenrechten geführt werden, besteht doppelter Aufklärungsbedarf. Zum einen dazu, daß Frauen in Kriegen stets Opfer männlicher Gewalt werden, ob nun durch die ungeplante Willkür einer marodierenden und vergewaltigenden Soldateska oder durch die nicht nur ihnen, sondern ihren Familien gezielt zugefügte Demütigung systematischer Massenvergewaltigungen. Zumindest seelische Schmerzen müssen Frauen darüber hinaus erdulden, wenn sie als Mütter erleben, wie ihre Kinder durch Hunger, medizinische Unterversorgung oder direkte militärische Gewalt umgebracht werden. Greift ein Aggressor wie die NATO mit der vorgeblichen Absicht zu den Waffen, die Unterdrückung von Frauen durch patriarchalische Gewalt zu beenden, dann tritt ein Gewaltakteur an die Stelle des anderen, um den Betroffenen im schlimmsten Fall noch mehr Leid zuzufügen, als ihnen ohnehin aus ihrer tradierten Unterdrückung heraus erwächst.

Die Unterstellung, in derartigen Kriegen ließe sich die Win-Win-Situation einer vom Erreichen imperialistischer Ziele profitierenden Zivilbevölkerung erwirtschaften, negiert die Selbstbestimmung der betroffenen Bevölkerungen. Der daraus resultierende Formwandel politischer Herrschaft verbessert im Ergebnis so gut wie nichts, verschlechtert dafür aber vieles, wie die Folgen der Kriege in Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak und in Libyen für die soziale Entwicklung der betroffenen Bevölkerungen belegen. Der Ethos von Freiheit und Demokratie macht niemanden satt, und er verhindert nicht einmal, daß die Lage der Frauen noch schlechter wird als vor der militärischen Intervention. Zweifellos finden sich in jedem Land Frauen, die die Eroberung und Besetzung ihres Landes moralisch legitimieren. Welche Schicksale außerhalb des Kreises sorgsam selektierter Kronzeuginnen erlitten werden, war Thema einer Arbeitsgruppe auf der Internationalen Konferenz "Für ein selbstbestimmtes Afghanistan" im LVR LandesMuseumBonn.

Podium der Arbeitsgruppe 'Feminismus und Militarisierung' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sidiqa Faizy, Kristine Karch, Afifa Rahbar
Foto: © 2011 by Schattenblick

Unter der Moderation von Kristine Karch vom Netzwerk No to War - No to NATO, die seit vielen Jahren mit Frauenrechten und weltweiten Emanzipationsbestrebungen befaßt ist, schilderten zwei Vertreterinnen des Vereins der demokratischen Frauen Afghanistans ihre persönlichen Erfahrungen und gaben Aufschluß über die gesellschaftliche Lage der Frauen in ihrem Heimatland. Ihre Biographien stehen dabei stellvertretend für den Leidensweg, den viele afghanische Frauen in den 30 Jahren fortwährender Kriege in ihrem Land beschreiten mußten.

Sidiqa Faizy und Afifa Rahbar leben seit 24 bzw. 21 Jahren in der Bundesrepublik. Faizy absolviert im Augenblick eine Ausbildung zur Altenpflegerin. In ihrer Heimat mußte sie ihr Studium nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen abbrechen. Sie floh nach Pakistan, arbeitete zwischenzeitlich in einem Flüchtlingslager und konnte schließlich nach Deutschland ausreisen. Als Mitbegründerin des Vereins engagiert sie sich für die Rechte der Frauen und die Abschaffung patriarchalischer Strukturen in ihrem Land. Ihre Mitstreiterin Rahbar hat in Heidelberg Gynäkologie studiert. Nach der Geburt ihrer Kinder sieht sie in Deutschland ihre zweite Heimat. Eine Verbesserung der Lage in Afghanistan liegt ihrer Ansicht nach in so ferner Zukunft, daß sie nicht glaubt, dies noch erleben zu können. In Afghanistan gäbe es nicht einmal einen Begriff von Emanzipation, geschweige denn feministische Gruppierungen. Unerläßlich für einen politischen Neuanfang sei die Entmilitarisierung der Gesellschaft und der Abzug aller ausländischen Besatzungstruppen, sonst werde sich für die Frauen nichts ändern.

Der Verein wurde 1999 von verschiedenen Gruppierungen aus der gesamten Bundesrepublik gegründet, von Hamburg bis Heidelberg sowie in Bonn und Köln. Von den Gründungsorganisationen ist ein Teil nach dem 11. September 2001 wieder in die Heimat zurückgekehrt. Der Verein finanziert sich aus den Beiträgen seiner Mitglieder, erhält aber ansonsten keinerlei Unterstützung durch andere Organisationen oder Staatshilfen. Ein wesentliches Ziel des Vereins ist der Ausbau und die Förderung der Mädchenschulen in Afghanistan.

Die Gründung des Vereins war eine Reaktion auf die Herrschaft der Taliban in Afghanistan. Nachdem die westliche Welt kaum Notiz vom Schicksal der afghanischen Frauen unter dem Willkürregime der religiösen Fanatiker nahm, organisierten die Mitgliederinnen im deutschen Exil Demonstrationen, um auf die unerträgliche Situation der Frauen in Afghanistan aufmerksam zu machen und das Thema auf die politische Tagesordnung zu bringen.

Afifa Rahbar - Foto: © 2011 by Schattenblick

Afifa Rahbar
Foto: © 2011 by Schattenblick
In ihrem Vortrag über Freiheit und Emanzipation der afghanischen Frauen warf Faizy einen Blick zurück in die Geschichte ihrer Heimat, wobei sie den Schwerpunkt auf die letzten 30 Jahre legte. Aus der Rückschau heraus verdeutlichte sie die Gründe für die aktuelle Situation der Frauen in Afghanistan und machte darüber hinaus klar, mit welchen Problemen und Herausforderungen Frauenrechtlerinnen dort konfrontiert sind. Nach der Befreiung von der britischen Kolonialmacht und der Unabhängigkeit Afghanistans 1919 erlebte das Land eine kurze Phase der Reformen und des zivilen Aufblühens. So wurde bereits 1920 das erste Mädchengymnasium gegründet. Frauenzeitschriften erschienen und brachten einen westlich orientierten Lebensstil an den Hindukusch. In der Folgezeit unternahmen Frauen die ersten Auslandsreisen in die Türkei und sogar nach Deutschland. So besuchten afghanische Mädchen in den 50er Jahren beispielsweise ein Essener Gymnasium.

Auch in Afghanistan selbst setzte Faizy zufolge in den 60er und 70er Jahren hinsichtlich der Frauenrechte eine soziokulturelle Renaissance ein. An den politischen und zivilen Organisationsstrukturen vor allem der größeren Städte waren Frauen nicht unwesentlich beteiligt. Sie besuchten die Schule und studierten in Kabul an den Universitäten. Auch in den Parlamenten waren Frauen vertreten und stellten gar Ministerämter in der Regierung. Unvorstellbar vor dem heutigen Hintergrund, aber in jenen Jahren kleideten sich afghanische Frauen im Stil westlicher Mode und trugen Minirock, wofür es laut Faizy auch Fotobeweise gibt. Allerdings geschah dies nur in den urbanen Zentren, während auf dem Land die alten Stammesgesetze und religiösen Bräuche weiterhin Geltung besaßen.

Afghanistan ist eine Feudalgesellschaft, in der die Frauen seit jeher unterdrückt und in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Ihnen stehen in der patriarchalischen Hierarchie nur untergeordnete Rollenbilder zu. Zu den restriktivsten Formen männlicher Dominanz gehört nach wie vor die Zwangsheirat. Frauen müssen sehr früh heiraten und Kinder gebären, hüten Haus und Hof, dürfen allerdings am sozialen Leben nur in ihnen zugewiesenen Bereichen teilnehmen. Ehrenmorde, die in ländlichen Regionen sicherlich häufiger vorkommen als in den Metropolengesellschaften, können nach althergebrachter Sitte zuweilen, wie sich Faizy ausdrückte, aus den banalsten Gründen erfolgen. Zur Illustration führte sie eine tragische Geschichte aus ihrer Kindheit an. Eine junge Frau wurde verheiratet, aber in der Hochzeitsnacht stellte sich heraus, daß sie keine Jungfrau mehr war. Am nächsten Morgen zwang sie ihr Ehemann, sich vor den Dorfbrunnen zu stellen. Er hat sie dann einfach niedergeschossen, und die Tote fiel tief in den Brunnenschacht hinunter. Dieses blutige Ereignis verfolgte Faizy in ihrer Kindheit wie ein nicht enden wollender Alptraum. Fehlende Jungfräulichkeit war beileibe nicht der einzige Grund, weshalb ein Ehemann seine Frau ohne Furcht vor juristischer Verfolgung töten konnte. Faizy erzählte, daß schon ein unschuldiger Flirt außerhalb des Hauses mit einem anderen Mann ein Tötungsmotiv darstellen konnte, vor allem wenn die Frau dabei kein Kopftuch trug.

Problematisch sei die Situation der afghanischen Frauen auch deshalb, weil Männer noch heute in bestimmten Regionen mehrere Frauen heiraten dürfen. Nach dem orthodoxen Islam ist die Mehrehe in der Zahl der Gemahlinnen zwar auf vier begrenzt, aber in der afghanischen Kulturtradition können es auch mehr sein. Ein anderes Relikt aus archaischen Zeiten ist, daß Frauen im Sinne von Schadensersatzleistungen regelrecht verhökert werden können. Wenn beispielsweise Krieg um den Verlauf einer territorialen Grenze geführt wird, muß die Familie, die den Streit verursacht hat, eine ihrer Töchter der anderen Familie als Abfindung übergeben. Diese Frauen würden Faizy zufolge lebenslang gequält, geschlagen und mißbraucht. Man würde sie nicht als Mensch, sondern als Besitz, als ein bloßes Ding ansehen und könne mit ihr tun und lassen, was man wolle.

Dennoch räumte Faizy ein, daß die Situation der afghanischen Frauen trotz all dieser Bitterkeit immer noch besser gewesen sei im Vergleich zu den Verhältnissen nach der Invasion der Sowjets. Besatzungstruppen, auch wenn sie Freiheit und Demokratie auf ihre Fahnen schreiben, stürzen die Frauen stets in äußerstes Elend. Die Sowjetunion rechtfertigte ihren Einmarsch zwar damit, von der Kabuler Landesregierung gerufen worden zu sein, aber die Folgen für die afghanische Gesellschaft waren nichtsdestotrotz verheerend. Zur Tragödie der Okkupation kam die Internationalisierung des Konflikts hinzu. Auf den Schlachtfeldern Afghanistans tobten geopolitische Machtkämpfe vor dem Hintergrund neu aufgebrochener Stammes- und Religionsfehden.

Um die Eskalationslage ins rechte Bild zu setzen und darüber zu verstehen, warum Afghanistan sich zu einem zerrissenen Land mit hohem Blutzoll und schier unversöhnlichem Bürgerkrieg entwickelt hat, müsse man laut Faizy den Antagonismus der rivalisierenden Gruppen und Machtblöcke von damals genauer in Augenschein nehmen. Als die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, habe sich die Bevölkerung mit aller Entschiedenheit zur Wehr gesetzt, aber es gab, so Faizy, zwei Arten des Widerstands. Diese beiden Widerstandsgruppierungen wurden in den westlichen Medien immer verschwiegen. Da war zunächst der nationale Widerstand der demokratischen Kräfte, die sich in ihrem Freiheitskampf nicht abhängig machten wollten von den Machtinteressen anderer Staaten. Im Gegensatz dazu ging der andere Widerstand Allianzen mit westlichen Ländern, besonders mit den USA, ein. Auch war ihre Art des Umgangs mit Frauen eine andere.

Im nationalen Widerstand waren von Anfang an viele Frauen involviert. Es war eine Erhebung des ganzen Volkes gegen eine fremde Besatzung. Männer und Frauen kämpften Seite an Seite oder zumindest in der Logistik zusammen. Der andere Widerstand gegen die Sowjets, der von der CIA und der pakistanischen Regierung initiiert und alimentiert wurde, setzte sich aus sieben fundamentalistischen Parteien zusammen. Diese waren es auch, die nach dem Abzug der Sowjets und dem Sturz der Kabuler Regierung die Burka in Afghanistan eingeführt haben und zum Teil noch heute in Afghanistan mitregieren. Diese islamischen Gruppierungen erhielten im wesentlichen von den USA Kriegsmaterial für ihren Widerstand gegen die sowjetische Besatzungsarmee. Faizy erklärte dazu, daß die US-Regierung die Sowjetunion am Hindukusch in einen langen und aufreibenden Krieg verwickeln wollte, und zwar ihrer Ansicht nach aus Rache dafür, daß diese den Vietcong mit Geld und Waffen im Vietnamkrieg gegen die USA unterstützt hatten. Daß die USA sich später dafür rühmten, den Kommunismus mit eigenen Waffen und afghanischem Blut bezwungen zu haben, änderte nichts an der großen Tragödie, daß Afghanistan stets im Schnittpunkt imperialistischer Einflußsphären lag.

Die im Widerstand gegen die sowjetischen Besatzungstruppen stehenden demokratischen Kräfte wären in den Kriegswirren von beiden Seiten regelrecht massakriert worden. So hätten die Sowjets und ihre afghanischen Bündnispartner dafür gesorgt, daß die demokratischen Widerstandskämpfer in Gefängnisse gesteckt und umgebracht wurden. Aber auch die Fundamentalisten hätten später Jagd auf diese Kämpfer gemacht. Nur eben unter einem anderen Vorsatz: Für die islamischen Gotteskrieger war ein Demokrat ebenso verwerflich wie ein Kommunist, denn beide würden nicht an Gott glauben. In einer Gesellschaft wie der Afghanistans bedeutete dies unweigerlich das Todesurteil. Die demokratischen Kräfte in Afghanistan hätten aus dem Ausland keinerlei Unterstützung bekommen. Faizy führte aus, daß selbst in den linken Organisationen Deutschlands die Vorstellung vorgeherrscht habe, die Sowjets würden in Afghanistan gegen feudale Machthaber kämpfen.

Dieser Krieg habe das Schicksal der afghanischen Frauen im besonderen Maße geprägt, vor allem weil während der sowjetischen Besatzung 1,5 Millionen Afghanen ums Leben kamen und Tausende in den Gefängnissen zu Tode gefoltert wurden. Soviele Männer in diesem Krieg starben, soviele Witwen hinterließ er. Viele Frauen mußten auf sich allein gestellt mit ihren Kindern und Eltern das Land verlassen. Die meisten flüchteten nach Pakistan, andere gingen über die Grenze in den Iran. Die afghanischen Frauen kamen dabei vom Regen in die Traufe. Faizy, die selber in Pakistan Zuflucht gesucht hatte, schilderte, daß die Fundamentalisten in den überfüllten Flüchtlingslagern bei Peshawar die Kommandogewalt an sich rissen und die Frauen zwangen, sich mit dem Tschador zuzudecken. Aus dieser Verschleierung durften nur die Augen herausblicken, selbst der Mund mußte bedeckt werden. Für Faizy bedeutete es die schlimmste Demütigung, daß sie unter dem Tschador nicht laut lachen durfte. Selbst im besetzten Kabul, so die Frauenrechtlerin, hätte es Zwangsmaßnahmen dieser Art nicht gegeben.

Dem Euphemismus freilich, unter dem sowjetischen Besatzungsregime hätten alle Mädchen zur Schule gehen dürfen, erteilte sie eine klare Absage. Ohnehin würde es nicht einen einzigen Stiefeltritt auf afghanischem Boden rechtfertigen. Vielmehr sei dies in einem Land mit 90 Prozent Analphabetentum unter den Mädchen illusorisch gewesen. Überhaupt hätten in keinem Land der Welt, so Faizy, Besatzungstruppen jemals Frauen und Mädchen freien Zugang zu den Schulen ermöglicht. Dagegen wurden die Frauen in der sowjetischen Besatzungszeit massenweise vergewaltigt und in Gefängnisse gesteckt. Sie selbst sei unter den Sowjets neun Monate lang in Haft gewesen. Dabei machte sie die verblüffende Erfahrung, daß viele der inhaftierten Frauen sowohl den demokratischen Fraktionen als auch linken Gruppen und fundamentalistischen Kreisen angehörten und zuweilen jahrelang im Gefängnis saßen.

Sofern es eine Emanzipation in jenen Kriegsjahren gegeben hat, so für die afghanischen Frauen und Mädchen im Widerstand, die im Aufstand gegen die Besatzer eine wichtige Rolle spielten, obwohl sie in der afghanischen Stammes- und Patriarchalgesellschaft eigentlich nur für den Herd und die Aufzucht der Kinder zuständig waren. Faizy wies darauf hin, daß die Freiheitskämpfer in jedem Dorf, in dem sie Halt machten, und in jedem Tal, das sie durchquerten, von den Frauen mit frischer Wäsche und Proviant versorgt wurden. Die Männer kämpften gegen die Eindringlinge. Das sei Tradition bei den Afghanen von altersher und auch der Grund, daß niemals eine fremde Armee in Afghanistan Fuß fassen konnte. Aber ohne die logistische Unterstützung der Frauen wäre dies nicht möglich gewesen.

Und die Frauen selbst hätten mit Protesten Widerstand gegen die sowjetischen Besatzer geleistet. Deshalb gab es ihr zufolge auch Frauengefängnisse. So erinnerte sich Faizy an die Zeit, als sie in Kabul zur Schule ging. Das Schulsystem in Afghanistan ist so gegliedert, daß Jungs und Mädchen von der ersten bis zur sechsten Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Danach besuchen die Mädchen, getrennt von den Jungs, bis zur zwölften Klasse das Mädchengymnasium. An der Universität studieren die Geschlechter wieder zusammen. Eines Tages hätte sich die Mädchenschulen entschlossen, gegen die Sowjets und ihr Statthalterregime auf die Straße zu gehen. Sie forderten die Jungs auf, sich ihrem Protest anzuschließen. Die afghanische Regierung hätte es nicht gewagt, auf die Mädchen schießen zu lassen aus Furcht vor einem unkalkulierbaren Aufstand. Bei den Protestmärschen hätten die Mädchen eine Phalanx gebildet, mit den Jungs in der Mitte, um so zu verhindern, daß diese verhaftet oder erschossen wurden. Dann seien jedoch sowjetische Helikopter aufgestiegen und hätten die Jungs hinter ihren Reihen aus der Luft unter Beschuß genommen.

Für Faizy waren dies die starken Gesichter der afghanischen Frauen im Widerstand, die immer wieder Parolen gegen die Sowjets skandierten und auf die Straße gingen, bis es zu einem großen Massaker kam. Nachdem die Sowjets abzogen, kamen die fundamentalistischen Gruppen an die Macht und die Lage der Frauen, die nachts wachgeblieben waren und auf den Dächern Ausschau nach dem Feind gehalten hatten, damit die Männer sicher schlafen konnten, veränderte sich drastisch. In dem anschließenden Bürgerkrieg stritten sieben islamischen Fraktionen um die Macht im Lande. Für Faizy war es berechnendes Kalkül gewesen, daß die USA zu Zeiten der sowjetischen Besatzung die verschiedenen Gruppen der Fundamentalisten jeweils mit Kriegsgerät und harten Dollars unterstützt hatten, um sie zum richtigen Zeitpunkt gegeneinander ausspielen und aufhetzen zu können. Und genau das passierte in Kabul. Die sieben Gruppierungen bekämpften sich in blutiger Rivalität. Ein Stadtteil nach dem anderen wurde mit Raketen beschossen und die Zivilbevölkerung, die in einem nicht geringen Maße aus Witwen und Kindern bestand, geriet zwischen die Fronten.

In jener Zeit kam es auch zu Massenvergewaltigungen in Kabul. Frauen seien die Brüste abgeschnitten und an die Wände genagelt worden. Junge Mädchen, in Kellern zusammengetrieben, wurden tagelang geschändet. Viele hätten sich danach selber umgebracht oder seien aus Schande von der eigenen Familie getötet worden. Der Schmerz und das Schicksal dieser Frauen würden heutzutage dadurch verhöhnt, daß die fundamentalistischen Gruppierungen, die an diesen Kämpfen und Greueln beteiligt waren, wieder in der afghanischen Regierung sitzen. Nur daß sie sich inzwischen die Bärte rasiert und den Turban abgelegt hätten. Nunmehr in Krawatte und Anzug besetzten sie das Parlament und hohe Posten. Während Kriegsverbrecher in der ganzen Welt gejagt und wie Saddam Hussein und Muammar Gaddafi zur Strecke gebracht wurden, arbeite man in Afghanistan mit ihnen zusammen, resümierte die sichtlich aufgewühlte Friedensaktivistin. Das sei kein Weg zum Frieden in Afghanistan.

Faizy kam dann nochmals explizit auf die Taliban zu sprechen. In jeder Moschee in Afghanistan lebe ein Mullah und mit ihm ein kleiner Junge, der Talib genannt wird, ein Koranschüler, der von ihm lernt und irgendwann selbst Mullah wird. Die Mehrzahl davon ist Taliban, und diese seien ursprünglich kleine Kinder gewesen, die in den 80er Jahren mit ihren Familien in Flüchtlingslagern in Pakistan gelebt hätten und deren Väter zumeist im Krieg gefallen waren. Die Pakistanis hätten diesen Familien nach Absprache mit den Amerikanern angeboten, ihre Kinder im Austausch gegen monatliche Rationen von Mehl und Öl in Koranschulen zu schicken. Die Mütter hätten zugestimmt, denn in einem islamischen Land sei nichts so verdienstvoll wie den Kindern den Koran beizubringen. Aus diesen Koranschülern seien später die bewaffneten Taliban-Milizen gebildet worden, die im innerafghanischen Bürgerkrieg die Macht ergriffen und in einer kultur- und frauenfeindlichen Lesart des Islam das diktatorische Islamische Emirat Afghanistan errichteten.

Sidiqa Faizy - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sidiqa Faizy
Foto: © 2011 by Schattenblick
In der Folgezeit drehten die Taliban den Zeiger der Zivilisation zurück und beseitigten auch die letzten Reste frauenrechtlicher Errungenschaften. Frauen, die Nadellack benutzt hatten, wurden Finger abgehackt, oder sie wurden mißhandelt, weil sie mit weißen Schuhen auf der Straße gingen. Mit der Taliban-Herrschaft wurden die Frauen, ohnehin durch das Tragen der Burka vom öffentlichen Leben isoliert, unter Hausarrest und damit patriarchale Kontrolle gestellt, was vor allem für die Witwen katastrophale Folgen hatte. So gab es im Regierungssitz Kabul etwa 50.000 Witwen, die meisten davon Lehrerinnen oder Ärztinnen. Um ihre Kinder zu ernähren, mußten sie heimlich arbeiten und wurden nicht selten Opfer von Denunziationen.

Mit dem Sturz der Taliban und dem für viele Afghanen vor allem im Exil marionettenstaatlichen Status der Regierung Hamid Karsai hat sich die Situation der Frauen in diesem zerklüfteten Gebirgsland von den Ebenen am Amudarja bis hinunter zu den Salzseen von Sistan allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz zum schlechteren gewendet. Einer Statistik zufolge sind von 4.700 befragten afghanischen Frauen 87 Prozent Opfer einer Vergewaltigung geworden. Was das kulturelle Trauma aber noch verschlimmert, ist, daß im afghanischen Grundgesetz Vergewaltigung als Willkürtat gegen Frauen gar nicht aufgeführt ist. Der spezielle Paragraph setzt eine bedingte Einwilligung der Frauen in den Geschlechtsakt voraus. Das ist der zweite, viel tiefer verhüllende Schleier, den die Frauen tragen müssen: der Schleier des Schweigens über die Mißhandlung. Andernfalls müssen sie fürchten, von ihren Familienangehörigen aus Gründen der Schande und verletzten Ehre getötet zu werden. Und für Ehrenmord in Afghanistan kann ein Mann nach der Artikel 398, wenn es denn überhaupt dazu kommt, im Höchstfall zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt werden.

Die Zeit für diese Arbeitsgruppe war viel zu kurz, als daß ausführlicher über die Schlußfolgerungen diskutiert hätte werden können, die aus der nach wie vor desolaten Situation der Frauen Afghanistans zu ziehen wären. Die in der Ankündigung der Arbeitsgruppe formulierte Ablehnung des Versuchs der NATO, die zum Schutz von Frauen in Kriegsgebieten und zu ihrer Beteiligung an Konfliktbewältigungsprozessen aufrufende UN-Resolution 1325 im Sinne des von der Militärallianz propagierten Sicherheitsbegriffs zu instrumentalisieren, und die daran anknüpfende Frage, ob sich diese Resolution für den Abzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan nutzen ließe, bedürfen also der weiteren Erörterung. Das gilt auch für die Frage, wie einem herrschaftsförmig gewendeten Feminismus entgegenzutreten ist, der die Bundeswehr zu einem Hort emanzipatorischer Entwicklungschancen verklärt [1], anstatt den Kampf gegen patriarchalische Gewalt synonym mit dem Kampf gegen jeglichen Militarismus zu führen.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1530.html


4. Januar 2012