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BERICHT/062: Eurokrake Sicherheit - Widerspruchsregulation im Staatsprojekt Europa (SB)


Staatsprojekt Europa

Workshop auf dem entsichern-Kongreß in Berlin am 29. Januar 2011

Werbewand hinter Reststück der Berliner Mauer - © 2011 by Schattenblick

Blendende Aussichten für das Europa des Konsumismus
© 2011 by Schattenblick

Die Europäische Union auf den Begriff ihrer Staatlichkeit zu bringen, fällt auch den damit befaßten Wissenschaften nicht leicht. Als vertraglich fixiertes Konglomerat von 27 Nationalstaaten nicht mehr nur ein Staatenbund, aber noch kein Bundesstaat, handelt es sich keineswegs um das Äquivalent der administrativ und gesellschaftlich ungleich integrierteren Vereinigten Staaten von Amerika, wie es sich Vordenker der europäischen Einigung einmal gewünscht haben. So befinden die Regierungen der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat auf intergouvernementaler Ebene über grundsätzliche Fragen der europäischen Einigung, sprich wägen Vor- und Nachteile der Übertragung nationaler Kompetenzen an die Europäische Kommission ab, die eine supranationale Regierungsbürokratie mit exekutiven Vollmachten aller Art darstellt. Im Europäischen Parlament sitzen die Unionsbürgerschaft repräsentierende Abgeordnete, die zwar nur über eingeschränkte gesetzgeberische Möglichkeiten verfügen, aber erheblich zur demokratischen Legitimation der EU beitragen. Über strittige Fragen der Auslegung des im Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag) gesetzten Gemeinschaftsrechts wird vor dem Gerichtshof der Europäischen Union verhandelt, und auf internationaler Ebene besitzt die EU mittlerweile Rechtspersönlichkeit, das heißt sie kann völkerrechtlich als Staatssubjekt handeln.

Zwischen intergouvernementaler und suprastaatlicher Organisation entfaltet sich mithin ein Hybrid aus vertrauten und innovativen staatlichen Elementen, das den meisten EU-Bürgern nicht von ungefähr völlig fremd ist. Ihr kommunaler, regionaler und nationalstaatlicher Bezugsrahmen wurde quasi mit einem Überbau versehen, in dem sich die byzantinische Komplexität dieser Verwaltungssysteme noch einmal zu vervielfältigen scheint. Der sich für die in Europa lebenden Menschen nicht - bis vielleicht auf die Erleichterungen im Grenzverkehr im Rahmen der sogenannten Schengen-Freiheit - ohne weiteres erschließende Vorteil dieser administrativen Superstruktur ergibt sich denn auch vor allem aus der Stellung der EU im kapitalistischen Weltsystem. Was nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Neutralisierung der Bundesrepublik als potentieller Aggressor und ihrem Ausbau zum Frontstaat im Kalten Krieg seinen Anfang nahm, ist heute vor allem der Ausbildung ökonomischer und militärischer Stärke in Konkurrenz zu anderen großen staatlichen Akteuren geschuldet. Vor dem Hintergrund der global wirksamen Krisen des Klimawandels, des Hungers, der Verknappung fossiler Brennstoffe, der Weltwirtschaft und der Staatshaushalte verschärft sich die Konkurrenz zwischen den USA, der EU, Japan und den sogenannten BRIC-Staaten. Die gemeinsame Handlungsfähigkeit zur Krisenbewältigung schwindet in gleichem Maße, in dem das Überlebensprimat auf Staaten als wesentliche Akteure der internationalen Politik bezogen wird.

Gänzlich ausgeblendet in diesem globalen Szenario werden die sozialen Widersprüche innerhalb dieser Staaten respektive Staatenblöcke. Während die wirtschaftlich und militärisch stärksten Staaten im Rahmen der G20-Gruppe übereinkommen, daß die zur Krise der Staatshaushalte ausgewachsene Finanz- und Wirtschaftskrise nach neoliberalem Strickmuster auf dem Rücken ihrer lohnabhängigen und versorgungsbedürftigen Bevölkerungen bewältigt werden soll, verfügen diese lediglich in Ansätzen wie etwa der Bewegung der Sozialforen über grenzüberschreitende organisatorische Zusammenschlüsse, mit denen den maßgeblich von Kapitalinteressen vorangetriebenen Konzepten der Bestands- und Herrschaftssicherung entgegengetreten werden kann. Gab es zur Zeit der Blockkonfrontation noch die Möglichkeit einer auf einzelne Staaten beschränkten Überwindung kapitalistischer Gesellschaftssordnungen, verfügten die Länder des Südens mit der Blockfreienbewegung sogar über eine eigenständige, imperialistische Übergriffe konternde Stimme, so haben das neoliberale Regime der über Freihandelsabkommen, Weltmarktpreise und Finanzmarktspekulation organisierten Wertschöpfung und die Verallgemeinerung der mikroelektronischen Produktionsweise Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den einzelnen Volkswirtschaften erzeugt, die ihre Bevölkerungen nicht nur in den Griff der eigenen Oligarchien, sondern vor allem der global agierenden Kapitalmacht nimmt.

Als ein staatliches Transformationsprojekt, das beansprucht, nicht nur auf der Höhe der globalen Entwicklung zu sein, sondern sie sozialtechnokratisch zu antizipieren, erscheint die EU in den Verlautbarungen ihrer Regierungen immer weniger als Wertegemeinschaft. Statt dessen wird, wie insbesondere am Beispiel der Eurokrise zu beobachten, das Zwangsverhältnis einer Notgemeinschaft herausgestellt, die sich in Anbetracht der globalen Herausforderungen den vermeintlichen Luxus demokratischer und bürgerrechtlicher Fortschritte nicht mehr leisten kann. In ihrer Summe sollen die 27 Mitgliedstaaten nach innen wie außen handlungsfähiger werden, was nichts anderes heißt, als den sozialen Widerstand gegen das Primat der Ökonomie durch den grenzüberschreitenden Charakter des Sicherheitsregimes effizienter zu ersticken und die Wirtschaftsinteressen des europäischen Kapitals weltweit mit politischen wie militärischen Mitteln abzusichern. Was in den vergangenen Jahrhunderten in Kriegen zwischen europäischen Staaten an Wachstums- und Entwicklungspotential vernichtet wurde, wird zumindest vom Anspruch her, wie etwa die Koordination der nationalen Rüstungspolitiken auf EU-Ebene, die Expansion europäischer Kapitalmacht in die Länder des Südens durch wirtschaftspolitische Abkommen der EU oder die Ausweitung EU-europäischer Ordnungspolitik durch die Auflagen des aquis communautaire für Beitrittskandidaten belegen, als ökonomischer Produktivfaktor optimiert und als imperiale Stärke nach außen gekehrt.

So wenig augenfällig die Rolle der EU beim Ausbau exekutiver Ermächtigung und antidemokratischer Bevormundung ist, so sehr ist sie inzwischen tragender Bestandteil des in einer Art permanentem Ausnahmezustand verstetigten Krisenmanagements ihrer Regierungen. Einer herrschaftskritischen Linken stellt sich mithin die Aufgabe, diesen Formwandel der Staatlichkeit nicht nur in den Kategorien des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs zu reflektieren, sondern die Stoßrichtung administrativer Verfügungsgewalt zugunsten eigener Handlungsfähigkeit zu analysieren und zum Zwecke ihrer Überwindung operabel zu machen.


Bedingungen der Reproduktion kapitalistischer Verwertung

Im ersten Teil des Workshops "Staatsprojekt Europa" bot der Politologe und Soziologe Sebastian Wolff, Mitarbeiter des am Frankfurter Institut für Sozialforschung angesiedelten gleichnamigen Forschungsprojekts, einen Einblick in die sogenannte materialistische Staatstheorie in der Tradition Joachim Hirschs. Mit ihrer Hilfe versuchen kritische Sozial - und Gesellschaftswissenschaftler, das Verhältnis von Staat und Kapital auf den Begriff seiner Reproduktion zu bringen. Natürlich konnte der Referent dieses deutungsmächtige Instrument linker Staatsauffassung nicht in dem engen zeitlichen Rahmen umfassend vorstellen und zur Anwendung auf die Europäische Union bringen. Er bemühte sich jedoch um einen Einstieg in die Thematik, die das interessierte Publikum in den Stand versetzte, sich dieses theoretischen Werkzeugs in eigener Bemühung zu bemächtigen.

Ausgehend von der immanenten Krisenhaftigkeit des Kapitalismus warf Wolff die Frage auf, wie dieses Gesellschaftssystem es schaffe, trotz aller Widersprüchlichkeit Stabilität zu erreichen und sich immer weiter zu reproduzieren. Diese elementare Frage antikapitalistischer Kritik zu entwickeln bedarf einer über das Wirken des Wertgesetzes, wie es Karl Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie analysiert hat, hinausreichenden Erweiterung auf Voraussetzungen, die dem unmittelbaren Verwertungsprozeß ersteinmal entzogen sind, weil ihr spezifischer Zweck auf die Regulation die Gesellschaft erschütternder Widersprüche ausgerichtet ist. So spricht die materialistische Staatstheorie nicht nur von der Reproduktion des Kapitalismus als aus dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit entstehendes Akkumulationsregime, sondern von der Regulationsweise der Produktion und Reproduktion des Kapitalismus. Zu dieser trägt der Staat erheblich bei, indem er die diversen sozialen Antagonismen nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch den Geschlechtern, Ethnien, Ständen und Individuen mit der ihm eigenen Gewalt befriedet.

Für Wolff stellt die sogenannte Regulationstheorie durchaus einen Fortschritt dar gegenüber etwaigen Gleichgewichtskonzepten der bürgerlichen Politikwissenschaft und Staatslehre. Die materialistische Staatstheorie habe Anleihen an einem bürgerlichen Verständnis des Staates genommen, dieses jedoch mit der grundlegenderen Fragestellung konfrontiert, wie es überhaupt dazu kommt, daß im Kapitalismus Staatlichkeit entsteht, daß Politik und Ökonomie als zwei unterschiedliche Sphären in Erscheinung treten. Er erklärt die politische Souveränität kapitalistischer Staatlichkeit mit der Besonderheit dieser Produktionsweise, Ausbeutung und Herrschaft nicht wie z.B. im Feudalismus oder anderen vorkapitalistischen Gesellschaftsformen über unmittelbare Gewaltanwendung und persönliche Abhängigkeit zu organisieren, sondern über den scheinbar äquivalenten Warentausch.  

Um den laut Marx doppelt freien Lohnarbeiter, der so frei ist, seine Ware Arbeitskraft zu Markte zu tragen, um sie reproduzieren zu können, wie er frei von den Produktionsmitteln ist, die sich in der Hand der Käufer seiner Arbeitskraft befinden, in seiner realen Zwangslage zu halten und dabei seine Leistungsfähigkeit verwertbar zu machen, bedarf es einer klassenübergreifenden Gewaltinstanz, die im Gewaltmonopol des bürgerlichen Rechtsstaats ihren legitimen Ausdruck findet. Der Staat werde von der materialistischen Staatstheorie einerseits als Zwangsapparat verstanden, so Wolff, aber biete gleichzeitig den individualisierten Privatproduzenten der kapitalistischen Gesellschaft die Möglichkeit, ihre politische Gesellschaftlichkeit zu erfahren. So würde die grundlegende soziale Form durch die gesellschaftlichen Widersprüche nicht aufgehoben, aber doch zumindest prozessierbar gemacht, um auf diese Weise die Reproduktion des Kapitalismus abzusichern.

Unter Verweis auf den griechisch-französischen Soziologen und Staatstheoretiker Nicos Poulantzas beschrieb Wolff nun die konkrete institutionelle und politische Ausformung des Staates als materielle Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. Gemeint sei, daß diese Form stets Auswirkung bzw. Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe ist. Das nicht nur im Sinne eines bloßen Reflexes, sondern einer dem Staat eigenen Materialität, mit der sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis in einer ganz spezifischen Logik in den Staat einschreibt und damit auch eine strukturelle Selektivität ausprägt, die erst bestimmt, welchen Kräften Zugang zum Staat in seinen unterschiedlichen bürokratischen und institutionellen Apparaten gewährt wird. Diese Selektivität werde natürlich von den Interessen der herrschenden Klassen dominiert.

Der Staat sei also zum einen Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe, schaffe damit aber auch das politische Terrain, auf dem diese Kämpfe erst in einem einigermaßen geordneten Rahmen ausgetragen werden können. Die gesellschaftlichen Widersprüche seien in den Staat selbst eingelagert, so daß es sich bei ihm nicht um einen monolithischen Block handle, sondern ein strategisches Konfliktfeld, das die divergierenden Kräfte und sozialen Widersprüche in seiner Materialität reguliere und austariere. Der Referent betonte, daß diese Antagonismen damit nicht aufgehoben wären, sondern in eine Form gefaßt würden, in der eine gewisse Flexibilität bestehe, die einen Zusammenbruch aufgrund der direkten Konfrontation dieser Kräfte verhindere. Diesen erweiterten Staatsbegriff illustrierte er mit der Aussage des italienischen Politikers und marxistischen Philosophen Antonio Gramscis, laut dem die Zivilgesellschaft mit ihren Verbänden und Institutionen - Medien, Kirchen, Gewerkschaften, NGOs usw. - ebenso zu seiner integralen Gestalt gehöre. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die heutige Verwendung des Begriffs der Zivilgesellschaft als eines zwischen Staat und Wirtschaft angesiedelten autonomen Akteurs gerade nicht dem Anliegen Gramscis entsprach, mit der Zivilgesellschaft als staatsapologetischem Ausdruck bürgerlicher Hegemonie zu erklären, wie zuträglich ein solcher Stützpfeiler des Staates für die Bestandssicherung des Kapitalismus ist.

Sebastian Wolff kam nun auf die Veränderungen der kapitalistischen Raumstruktur durch die Auswirkungen der Globalisierung und europäischen Integration zu sprechen. Das in der kritischen Geographie geschaffene Konzept der Politics of Scale stellte Wolff als theoretische Erweiterung eines kritischen Staatsverständnisses vor, das sich mit den Veränderungen der Verhältnisse in Staat und Gesellschaft in Zeit und Raum befasse. Raum sei allerdings wie der Staat das Ergebnis gesellschaftlicher Interaktion und gesellschaftlicher Kämpfe, lasse sich also nicht einfach durch die gegebene Territorialität bestimmen, wie sie etwa durch die Fixierung der Staatsgebiete vollzogen wird. Mit einem Zitat David Harveys, den Wolff als Übervater der kritischen Geographie vorstellte, wurde das materialistische Raumverständnis definiert:

"Die gesellschaftliche Formation konstruiert objektive Konzeptionen in Raum und Zeit, entsprechend ihrer jeweiligen Bedürfnisse und Zwecke in Bezug auf ihre materielle und soziale Reproduktion und organisiert ihre materiellen Praktiken in Übereinstimmung mit diesen Konzepten."

Zudem vollzögen sich gesellschaftliche Prozesse nicht einfach in einem sozialen Raum, sondern seien durch eine Mannigfaltigkeit unterschiedlicher räumlicher gesellschaftlicher Dimensionen bestimmt, die den Begriff der Scales in der kritischen Geographie begründeten. Der damit beschriebene multiskalare oder multidimensionale Raum betreffe vertikale Strukturen von der supranationalen, inter- und transnationalen Ebene über die makroregionale, nationale, regionale, lokale und städtische Ebene bis hinunter zum einzelnen Körper. Diese Ebenen wiederum agierten auf verschiedenste Weise miteinander, so daß gesellschaftliche Akteure heute zur Durchsetzung ihrer Interessen auf ein breites Spektrum unterschiedlicher räumlicher Ebenen zugreifen könnten. Aus der Möglichkeit, nicht nur auf vorhandene Scales zuzugreifen, sondern diese auf neue Weise miteinander zu korrelieren, alte Scales zu blockieren und neue zu fördern, resultierte ein Dispositiv der Durchsetzung spezifischer Interessen, das neue Fragen aufwirft wie diejenige, "wie von wem zu welchem Zweck räumliche Maßstabsebenen durch soziale Praxis produziert und oder strategisch eingesetzt werden."

Diese raumanalytische Sicht auf die gesellschaftlichen und administrativen Verhältnisse vor dem Hintergrund des regulationstheoretischen Grundsatzes, daß der Staat die materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse darstellt, bietet eine Möglichkeit, die Veränderungen der Staatlichkeit zu untersuchen, die sich im Rahmen der europäischen Vergemeinschaftung ereignet haben. Laut Wolff repräsentieren die neuen skalaren Praxen den Versuch der herrschenden Klassen, einerseits die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zu erhöhen und andererseits "Subalterne" und Linke aus politischen Auseinandersetzungen herauszudrängen. Diese von Ökonomie und Politik bestimmte Raumstruktur sei weder intergouvernemental noch supranational, stelle also nicht einfach die Übertragung des Nationalstaatsprinzips auf eine höhere Ebene dar. Diese Entwicklung der EU zu einem multiskalaren, multidimensionalen Raum stelle die radikale Linke bei dem Versuch, antihegemoniale und revolutionäre Strategien zu formulieren, vor einige Probleme.

Wolff konkretisierte diese recht abstrakte Darstellung des allerdings auch in den Kategorien der konventionellen Staatslehre schwer zu begreifenden Formwandels der EU mit einer kurzen Periodisierung der historischen Entwicklung der europäischen Einigung. In den 1950er und 1960er Jahren, die er als "fordistische Integrationsphase" überschrieb, kam es unter den günstigen wirtschaftlichen Bedingungen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg zur Ausbildung einer agrar- und handelspolitischen Zusammenarbeit, die allerdings noch weitgehend im nationalstaatlichen Rahmen der damals sechs EWG-Staaten erfolgte und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vor allem als institutionelle Erweiterung nationalökonomischer Interessen nutzte. Die globale ökonomische Stagnation der frühen 1970er Jahre bescherte der EWG die erste Krise, schien sie dieser durch den Ölpreisschock und die Akkumulationsprobleme des fordistischen Modells bedingten Herausforderung doch nicht gewachsen zu sein. Die von Wolff als postfordistische oder neoliberale Phase bezeichnete Periode seit Ende der 1970er Jahre setzte dann das bis heute dominante Akkumulationsmodell der globalen kapitalistischen Marktwirtschaft mit allen Implikationen ein, als da wären die den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit kompensierende Finanzialisation, der dem Wachstum der Profitrate geschuldete Abbau der Sozialsysteme und die verstärkte Inter- und Transnationalisierung der Arbeitsteilung und Handelsströme.

In der Ära des Fordismus, dem von der Regulationstheorie geschaffenen Periodisierungsbegriff für die spezifische kapitalistische Produktionsweise der industriellen Massenproduktion auf Grundlage wissenschaftlich optimierter Arbeitsregimes wie dem des Taylorismus und der stärkeren Einbeziehung der gesellschaftlichen Reproduktion in die Kapitalverwertung, die politisch durch keynesianische Staatsintervention und einen nicht zuletzt zur Abwehr der sozialistischen Herausforderung gewidmeten Klassenkompromiß organisiert wurde, hätte sich die Raumstruktur weitestgehend auf nationale Gesellschaftsformationen bezogen. Der europäische Nationalstaat als zentraler Ort der Widerspruchsregulation geriet jedoch gegenüber den wirtschaftlich ungleich dynamischeren USA ins Hintertreffen, so daß die europäische Einigung vor allem im Sinne des gemeinsamen Marktes als Mittel, diese Entwicklung zu kontern, neue Attraktivität erhielt.

Wie Wolff schilderte, verlief dieser Prozeß einer stärkeren Integration der europäischen Volkswirtschaften bis in die 1980er Jahre hinein eher schleppend. Das Konzept der bis dahin im Rahmen der EG erfolgten Absicherung und Stärkung nationaler Entwicklungspfade stand vor einem Paradigmenwechsel, bei dem es darum ging, den neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsimperativ auf das größere Ganze der Europäischen Gemeinschaft anzuwenden, um in der Summe einen global handlungsfähigen Akteur herauszubilden. Die zwischenzeitliche Rückbesinnung auf den protektionistischen Schutz nationaler Märkte erwies sich im Sinne des Wirtschaftswachstums als kontraproduktiv und führte zudem zu einer Zunahme der Arbeitskämpfe, was für die Herrschenden schon in Anbetracht des Systemwettstreits mit der sozialistischen Staatenwelt inakzeptabel war.

Mit den zahlreichen Beschlüssen zur Deregulierung und Harmonisierung des gemeinsamen Wirtschaftsraums im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 wurde die Grundlage zur heutigen, 1992 im Maastrichter Vertrag geschaffenen Europäischen Union gelegt. Diese folgte einer neuen Integrationslogik, die auch eine innovative räumliche Struktur schuf, so daß das Bild einer Dichotomie oder Komplementarität zwischen Nationalstaat und europäischer Ebene nicht mehr adäquat war. Mit der zunehmenden Internationalisierung und Transnationalisierung der Produktion, so Wolff, verlor das Kapital seine nationale Verankerung und wuchs, in der Terminologie der Neogramscianer, zu einer transnationalen kapitalistischen Klassenfraktion aus.

Der anwachsenden Mobilität des Kapitals steht nun eine relative Immobilität der Arbeit gegenüber. Während die Liberalisierung der internationalen Arbeitsteilung und Finanztransfers wie die datenelektronisch beschleunigte Ausnutzung von Zinsdifferenzen und Standortvorteilen die transnationale Kapitalakkumulation begünstigen, bleiben die Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen in ihren Kämpfen weitgehend auf das nationale Terrain beschränkt. Schlimmer noch, nicht zuletzt die deutschen Gewerkschaften frönen der neoliberalen Standortlogik, im Zweifelsfall gegen die Belegschaften anderer EU-Staaten zu konkurrieren, wenn es, wie im Falle Opel, um die Schließung europäischer Standorte eines transnationalen Konzerns geht. Während die europäische Vergemeinschaftung die horizontale Angleichung rechtlicher und politischer Normen vorantreibt, werden die vertikalen Produktivitätsdifferenzen gerade durch die formale Egalisierung der Verwertungsbedingungen gegen die Interessen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen gerichtet.

Laut Wolff steht also die Transnationalisierung der Produktions- und Klassenverhältnisse im Widerspruch dazu, daß die Regulation der gesellschaftlichen Konflikte weiterhin vor allem im nationalstaatlichen Rahmen geleistet wird. Während die transnationalen Kapitalfraktionen grenzüberschreitende Interessenvertretungen aller Art schufen wie etwa das Weltwirtschaftsforum, die trilaterale Kommission, IWF, WTO und Weltbank, verfügen die davon betroffenen, in ihrer Zahl ungleich stärkeren Bevölkerungen kaum über Foren und Institutionen, mit denen sie ihre Forderungen wirksam artikulieren können. So verkommen die Treffen der Sozialforen in den Medien zu einer Fußnote und finden kaum Gehör in den parlamentarischen Vertretungen der EU und USA. Die Vereinten Nationen haben zwar einige Organisationen, die beanspruchen, die materielle, politische und kulturelle Lage der Bevölkerungen zu verbessern, sind aber in ihrer Abhängigkeit von zahlungskräftigen Regierungen in ihrer Wirksamkeit neutralisiert bis korrumpiert.

Nun führte Sebastian Wolff am Beispiel der Produktivitätsunterschiede zwischen Frankreich und der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der gemeinsamen Währung des Euro die massive Vorteilsnahme der deutschen Exportwirtschaft aus. Da die anderen Länder nicht mehr in der Lage sind, ihre Volkswirtschaften durch Währungsabwertung zu schützen, ermögliche der Euro die wachsende Ausplünderung der EU-Staaten durch die Kapitalmacht der Bundesrepublik. Dies soll in einem weiteren Bericht über den Vortrag des zweiten Referenten Jörg Kronauer ausführlicher untersucht werden.

Abschließend gab der Referent zu bedenken, daß die Krise des Kapitals nicht automatisch zu einem revolutionären Umsturz führt, sondern lediglich ein gesellschaftliches Kampffeld in Bewegung bringe, das ebenso sehr der Linken eine Chance biete, ihre emanzipatorischen Ziele zu verwirklichen, als es die Rechte stärken und zu einer noch repressiveren Herrschaftssicherung führen könne. Seiner Ansicht nach geht es für die radikale Linke, wenn sie die Chance, sich einzumischen, nicht sogar schon verspielt habe, darum, sich der neuen räumlichen Struktur des Kapitalismus bewußt zu werden und ihre Strategien darauf auszurichten. Wolff forderte dazu auf, die EU als wichtiges Kampffeld einer antikapitalistischen, revolutionären Strategie zu erkennen. Sein Fazit fiel in Anbetracht der nicht nur von ihm als gering eingeschätzten Handlungsfähigkeit der radikalen Linken skeptisch aus, doch gab er die Hoffnung nicht auf, daß vielleicht auch der Ansatz dieses Kongresses dazu beitrage, das Ziel einer befreiten Gesellschaft wieder ins Auge fassen zu können.


Virtuellen Räumen Handlungsfähigkeit abgewinnen ...

Zweifellos ist Sebastian Wolff in der Forderung, die Europäische Union als Kampffeld ernstzunehmen, zuzustimmen. Insbesondere die Linke der Bundesrepublik hat das Thema stark vernachlässigt und damit nationalkonservativen Kräften überlassen, die die europäische Integration aus Gründen ablehnen, die aus emanzipatorischer Sicht nicht zu teilen sind. Daß auch die rechten EU-Gegner in Deutschland eher von marginaler Bedeutung sind, kann kein Grund zur Genugtuung sein, da sich die deutschnationale Suprematie mit der hegemonialen Position der Bundesrepublik innerhalb der EU Bahn gebrochen hat. Da mag die Springer-Presse mit dem diffamierenden Schlagwort "Pleitegriechen" noch so sehr gegen ein mittelbares Opfer dieser Vormachtstellung vom Leder ziehen, die Unterstellung, Deutschland sei als Zahlmeister der Union ein Opfer der Vergemeinschaftung, läßt keinesfalls die Forderung laut werden, den Prozeß der Integration rückgängig zu machen. Wenn überhaupt eine Modifikation der Strategie, das deutsche BIP zu Lasten der anderen europäischen Volkswirtschaften zu mehren, diskutiert wird, dann in Form einer Spaltung der EU zugunsten der ökonomisch reicheren Metropolenregionen Westeuropas auf Kosten ihrer süd- und osteuropäischen Peripherie.

Die relative Schwäche der systemüberwindenden Linken hierzulande hat denn auch mehr mit dieser Entwicklung zu tun, als der Blick auf ihre vorrangigen Themen- und Kampffelder verrät. Hat die Mobilisierung gegen den Entwurf zu einem europäischen Verfassungsvertrag insbesondere in Frankreich zu einer erheblichen Politisierung zahlreicher Bürger und vor allem dem großen Erfolg, die weitere Ausbildung des europäischen Wettbewerbsregimes zu einem sicherheits- und militärstaatlichen Akteur von imperialer Größe für mehrere Jahre aufzuhalten, geführt, so ignorierten große Teile der deutschen Linken diese Entwicklung auch deshalb, weil die Abhaltung eines Referendums zum Verfassungsvertrag von vornherein ausgeschlossen worden war. Die außerparlamentarische Mobilisierung gegen den von der rot-grünen Bundesregierung fortgesetzten und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Initiative für den Lissabon-Vertrag entscheidend vorangetriebenen Ausbau deutscher Hegemonie in der EU war gering, obschon dieser Kurs alles repräsentierte, wogegen antikapitalistische, antimilitaristische, antiimperialistische wie antinationale Linke anzugehen beanspruchen. Dieses Feld erfreute sich auch deshalb keiner besonderen Aufmerksamkeit linker AktivistInnen, weil der supranationale Charakter der EU durchaus mit ihren Vorstellungen von einer Schwächung Deutschlands, wie sie im Kalten Krieg intendiert war, konform ging. So spricht im Grundsatz emanzipatorischer Politik alles für die Überwindung der europäischen Nationalstaaten, doch gebiert dieser Prozeß unter dem Vorzeichen des neoliberalen Kapitalismus, bürokratischen Etatismus und neokonservativen Imperialismus Dispositive zerstörerischer Handlungsgewalt, die das Gegenteil dessen bewirken, was das Ideal einer von staatlichen Grenzen befreiten Welt verheißt.

Ob ein analytisches Instrument wie das der sogenannten Regulationstheorie, die ihrem Namen gemäß eher den Ausgleich des unversöhnlichen Gegensatzes von Kapital und Arbeit anstatt die Kritik reformistischer Befriedungspolitik zum Gegenstand hat, in der streitbaren Auseinandersetzung mit innovativer staatlicher Verfügungsgewalt weiterhilft, ist nicht zuletzt aufgrund dieser ambivalenten Verwendbarkeit zu bezweifeln. So verbleiben die Erkenntnisse zur Bestandssicherung des Kapitalismus in einem deskriptiven Modus bloßer Beobachtung, der sich ebenso den Interessen herrschaftsichernder Widerpruchsregulation wie linker Intervention verfügbar machen kann. Die Entwicklungslogik, die den Übergang der bis Mitte der 1970er Jahre währenden Ära des fordistischen Keynesianismus zu der seitdem anhaltenden Phase des neoliberalen Postfordismus beschreibt, wird denn auch erst in der Rückschau konkretisiert und mit einer Periodisierungssystematik versehen, deren offenes postfordistisches Ende Rätsel aufgibt.

So wird auch der Versuch, die Staatlichkeit der EU anhand der Konzepte des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise zu bestimmen, trotz des darin angelegten Versuchs, die marxistische Analyse durch Faktoren institutioneller und administrativer Art zu ergänzen, von einer strukturalistischen Sicht auf das Verhältnis von Politik und Ökonomie behindert. Insbesondere die deutsche Schule der Regulationstheorie beantwortet die Frage nach der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft, indem sie die Regulationsweise herausarbeitet, die dies gewährleistet. Im Ergebnis wird reformistischen Konzepten der Verteilungsgerechtigkeit das Wort geredet, die den grundlegenden Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit in nämlichem Sinne regulieren und nicht aufheben.

Die Frage nach einer grundsätzlichen Systemveränderung stellt sich jedoch gerade auch in Sicht auf das sich entfaltende Akkumulationsregime des herrschenden Krisenmanagements. So gibt es kein Anzeichen dafür, daß der Versuch, eine im Sinne kapitalistischer Wachstumsdoktrin tragfähige Kapitalakkumulation wiederherzustellen, nicht zu Lasten der Masse der Menschen insbesondere in den Ländern des Südens gehen wird. Die Krisenimmanenz kapitalistischer Verwertung, durch expansive Mehrwertabschöpfung die Basis der eigenen Reproduktion zu zerstören, wird durch die Verknappung fossiler Ressourcen, den Klimawandel, die dadurch verschärfte Verknappung von Lebensmitteln und die schwindende Legitimation der politischen Systeme verschärft. Wenn der selbst in Zeiten eines angeblich zum Wohle aller funktionierenden Kapitalismus millionenfache Hunger heute dadurch verschärft wird, daß ein immer größerer Anteil der verfügbaren Getreidevorräte in die Antriebsaggregate der großen Maschine umgeleitet wird, dann hat man es mit einem sozialen Problem zu tun, dessen man mit dem bloßen Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit nicht Herr wird.

Auch die Refinanzierung der durch die Sicherung der finanzkapitalistischen Akkumulation überschuldeten Staatshaushalte auf dem Rücken der Bevölkerungen und deren Zurichtung zu kostengünstigen Produktivfaktoren zeigt, daß die Aussicht auf eine sozial gerechtere Gesellschaft im Rahmen kapitalistischer Mehrwertproduktion ferner denn je ist. Eine mit systemtheoretischen Elementen der Selbststeuerung arbeitende Reproduktionslogik wie die der Regulationstheorie bleibt damit in den Voraussetzungen einer Vergesellschaftung verhaftet, deren Überwindung in allererster Linie in Angriff zu nehmen wäre. Eine auf permanentem Wachstum orientierte Produktionsweise kann sich vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen nur durch quasi kannibalistische Praktiken, die Einspeisung des Menschen selbst in die Produktionsprozesse der Warenwirtschaft, behaupten. Daß dies längst erfolgt, dokumentieren die sklavenartigen Arbeitsbedingungen in den Fabriken und auf den Äckern, in den Minen und Bordellen der Länder des Südens ebenso wie die zunehmende Prekarisierung der Arbeiter in den westlichen Metropolengesellschaften.

Der Diskurs über einen analytischen Ansatz, dessen Prozeßcharakter weithin ohne handelnde Subjekte auskommt, ist demgegenüber ein Luxus, den sich die vom kapitalistischen Verwertungsprimat unmittelbar betroffenen Menschen nicht leisten können. Die Enge ihrer Überlebenssituation bedarf konkreter Handlungsoptionen, die am Beispiel der Revolten in Griechenland, Tunesien und Ägypten längst in die Tat umgesetzt werden. Wie unbestimmt die Frage nach der künftigen Gesellschaft auch immer sein mag, sie wird nicht aus der Warte einer Beobachtung beantwortet, deren Sicherheit gewährende Distanz im umgekehrten Verhältnis zur konkreten Überprüfung autonomen Handlungsvermögens steht. So bricht auch die Suggestion unabhängiger politischer Willensbildung in den Ländern des HighTech-Kapitalismus, deren konstitutive Bedingungen rechtliche Gleichheit postulieren, um materielle Ungleichheit zu legitimieren, an den Versprechungen auf eine Teilhabe, die im Abbau sozialstaatlicher Daseinssicherung auf gegenteilige Weise wahr wird. Der durch den Entzug essentieller Lebensvoraussetzungen körperlich wirksam werdende Durchgriff des Verwertungsinteresses bedarf, wenn er nicht in reaktionäre Formen sozialdarwinistischer Umlastung münden soll, einer solidarischen Lebenspraxis, die im alltäglichen sozialen Kontakt realisiert werden kann und nicht erst für eine fernere Zukunft entworfen werden muß.

So eröffnen die vorgestellten Politics of Scale durchaus Zugänge zu einem Staatsverständnis, das sich auf der Höhe einer Entwicklung befindet, die den nationalstaatlichen Bezugsrahmen zusehends darauf reduziert, den sozialen Konflikt neutralisierende Ressentiments nationalistischer Selbstvergewisserung zu erzeugen. Doch auch hier wäre ein weniger abstrakter, den Begriff des Raums zu einem universalen Deutungsinstrument verabsolutierender Schlüssel wünschenswert. Der strukturalistische Charakter dieses Blicks auf die von administrativen, ökonomischen und kulturellen Faktoren bestimmten Veränderungen klassischer Staatsterritorien bezieht seinen Erkenntnisgehalt vor allem aus diesem Formwandel, der wiederum als vermeintlich gesellschaftlich bestimmender Faktor perspektivisch entufert, daß die materiellen Gewaltverhältnisse zwischen Menschen ausgetragen werden.

Die vier sogenannten Grundfreiheiten der EU - freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr - verändern die räumlichen Grenzziehungen vor allem im Interesse der Kapitalinvestoren. Der dadurch verschärfte Standortwettbewerb geht zu Lasten aller ökonomisch nicht verwertbaren öffentlichen Leistungen und setzt die Verkäufer ihrer Arbeitskraft einer noch härteren Konkurrenz um die verbliebene Erwerbsarbeit aus. Zwar verändern die entgrenzten Verwertungsbedingungen auch die Landschaften, indem neue Industriestandorte mit umliegenden Versorgungsinfrastrukturen allein aufgrund spezifischer Kostenvorteile entstehen, doch bleiben die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die entscheidende Bedingung für die Lebenslage der ihnen unterworfenen Menschen.

Wie die Revolten im Nahen und Mittleren Osten zeigen, hat die Einbeziehung der Region in die Produktionsprozesse und Ressourcensicherung der EU auch deren politische Gestalt verändert. Sie hat erheblich dazu beigetragen, daß die lokalen Bevölkerungen jahrzehntelang in politischer Unterdrückung lebten. Zudem sind die Grenzen in Richtung EU nur legal zu überwinden, wenn die MigrantInnen den Personalvorstellungen des europäischen Kapitals genügen. Der auf migrantische Bewegungsfreiheit einwirkende Selektionsdruck entspringt dem Kapitalverhältnis, dessen Überwindung weit mehr Handhabe bietet als die Frage, ob komplex determinierte Räume nicht anders strukturiert sein müßten, um soziale Verbesserungen zu erzielen.

Die innovative Staatlichkeit der EU produziert die Qualifikation administrativer Verfügungsgewalt durch die Ausbildung übergeordneter Instanzen, die sich demokratischer Kontrolle noch effizienter entziehen, als es schon das System der repräsentativen Demokratie auf nationalstaatlicher Ebene vermag, indem es die beteiligten Akteure mit sehr unterschiedlichen Privilegien ausstattet. Anhand der exekutiven und rechtlichen Kompetenzen, die auf EU-Ebene transformiert werden, wird kapitalistische Herrschaft um so effizienter gesichert, als der handlungsleitende Anspruch der europäischen Bevölkerungen in entscheidenden Fragen von Armut und Reichtum, von Krieg und Frieden dort präjudiziert wird. Der Anspruch auf eine dem Primat der Ökonomie entgegenwirkende politische Gestaltung wurde durch Einbußen an den demokratischen Kontrollmechanismen des bürgerlichen Staates wie dem der Gewaltenteilung und der vollständigen legislativen Zuständigkeit des Parlaments noch wirksamer unterminiert, als es der Kartellcharakter von Staat und Kapital schon auf nationaler Ebene bewirkt hat. Noch drastischer stellt sich dieses Mißverhältnis in der Rolle der EU als globaler Akteur dar, ist die Zentralisierung exekutiver Vollmachten doch darauf angelegt, in der Summe ein Plus an weltweiter europäischer Interessendurchsetzung zu erzeugen.

Zweifellos trifft zu, daß der "europäischen Ebene von Staatlichkeit ein zunehmendes Gewicht in der Regulation der gesellschaftlichen Widersprüche" zukommt, wie es in der Ankündigung zum Workshop "Staatsprojekt Europa" [2] heißt. Die veränderte Ordnung des politischen Raums, seine "Differenzierung und Flexibilisierung (...), die durch sich überschneidende und überlagernde räumliche Dimensionen gekennzeichnet ist", ist nicht nur Ergebnis einer "sozialen Konstruiertheit von Raum", sondern organisiert sich um die materielle Gegenständlichkeit, die Raum als Ausdruck seiner Begrenzung erst kenntlich macht. In der sozialen Lebenswirklichkeit kollidieren Verwertungsimperativ und Selbstbestimmung mit der Gewalt einer kapitalistischen Landnahme, die beim Erwerb afrikanischer Agrarflächen durch ausländische Staatsfonds zur Produktion von Nahrungsmitteln für die eigene Bevölkerung so wörtlich zu verstehen ist, wie sie bei der mangels unerschlossener Räume imperialistischer Expansion um so intensiveren Verwertung menschlichen Lebens in den Fabriken der Güterproduktion, den Labors der Biomedizin und den neofeudalen Sklavenexistenzen metaphorisch gemeint ist.

Für diese Zwangslagen erschließt sich Räumlichkeit vor allem in der Enge verlorener Bewegungsfreiheit, vorenthalten durch die Flexibilität und Omnipräsenz strikter Effizienzoptimierung. Die arbeitstechnische und biopolitische Organisation der Gesellschaft kann die Menschen in den immer festeren Griff ihres Verwertungsregimes nehmen, weil die Hoffnung auf ein individuelles Entkommen aus der Absehbarkeit des Verbrauchs und der Zerstörung in perspektivischen Fluchträumen verebbt. Als ohnmächtiges Äquivalent zur realen Bemächtigung des sozialen Raumes durch Staat und Kapital befriedet die wirkungslose Virtualität dieser Projektion, was in der schonungslosen Analyse eigener Ausweglosigkeit möglicherweise zur Tat geschritten wäre.

Sich aus diesem Verhältnis befreien zu wollen heißt, der Befriedungsoption des reformistischen Ausgleichs eine klare Absage zu erteilen. Sie geht unter den gegebenen Bedingungen des kapitalistischen Weltsystems stets zu Lasten der Bevölkerungen ärmerer Länder und legitimiert die Reproduktion ungleicher Verhältnisse überall. Mit einer solchen Parteinahme wird das Abstraktum des Raumes, das die Fluchtlinien seiner materiellen Widersprüchlichkeit ins Endlose datenelektronischer Virtualität dehnt, auf eine Weise gegenständlich, die die Initiative wieder in die Hände ansonsten umfassend fremdbestimmter Menschen legen könnte. Den Ort und die Bedingungen des Kampfes zu bestimmen erfordert Mut, weil sein Ausgang mit der Aufkündigung jeglichen reaktiven Nachvollzugs selbst in Anbetracht erlittener Ohnmacht wieder offen ist.

Fußnoten:

[1] http://outofcontrol.blogsport.de/programm/workshop-1-sa-12-00-14-30/

Zur Kritik der Regulationstheorie siehe
http://www.trend.infopartisan.net/trd1206/t281206.html
http://www.linksnet.de/de/artikel/19151
http://www.agmarxismus.net/vergrnr/m14_1.htm


Zum entsichern-Kongreß bisher erschienen:
BERICHT/055: Eurokrake Sicherheit - entsichern ... (SB)
BERICHT/056: Eurokrake Sicherheit - Risse in der Festung Europa(SB)
BERICHT/057: Eurokrake Sicherheit - Administrative Logik eines Gewaltapparats (SB)
BERICHT/058: Eurokrake Sicherheit - Netzwerke der Repression (SB)
BERICHT/059: Eurokrake Sicherheit - Vom Himmel hoch ... (SB)
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Beleuchtete Hochhausfassade am Potsdamer Platz - © 2011 by Schattenblick

Produktivitätserfolg aus der Sicht von unten ...
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9. März 2011