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USA/1247: Das Weiße Haus greift in den Al-Megrahi-Streit ein (SB)


Das Weiße Haus greift in den Al-Megrahi-Streit ein

Hillary und Obama wollen Lockerbie-Bomber wieder hinter Gittern sehen


Das politische Sommerloch 2010 in den USA hat zwei Streitfälle aufkommen lassen, die in ihrer Verlogenheit und Widerlichkeit nicht nur schwer von einander zu unterscheiden, sondern auch kaum zu übertreffen sind. Bei dem einen handelt es sich um den geplanten Bau eines Kulturzentrums gemäßigter Muslime im Süden des New Yorker Stadtteils Manhattan, den die republikanische Rechte zum "Moscheebau am Ground Zero" und damit zur mutwilligen Verhöhnung der Opfer der Anschläge vom 11. September 2001 durch die Anhänger Mohammeds bzw. Osama Bin Ladens aufbauschen, bei dem anderen um die groß zur Schau gestellte Empörung einer Gruppe demokratischer Senatoren darüber, daß Abdul Barsit Al Megrahi, der krebskranke Verurteilte des Lockerbie-Anschlages, immer noch nicht tot ist, obwohl er bei seiner Freilassung am 20. August 2009 auf Veranlassung der schottischen Regierung angeblich nur noch wenige Monate zu leben hatte.

In beiden Fällen wird die "terroristische" Ermordung amerikanischer Zivilisten auf plumpeste Weise instrumentalisiert, um der These von den Islamgläubigen als Erzfeinde der jüdisch-christlichen Zivilisation des Westens Auftrieb zu verleihen. Der Einsatz solcher perfider Mittel zwecks Erringung von Vorteilen bei den diesjährigen Zwischenwahlen zum Repräsentantenhaus und Senat in Washington sagt viel über den maroden Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Offenbar ist der "State of the Union" doch nicht so stark und lebendig, wie die US-Präsidenten jeden Januar in der obligatorischen "Rede zur Lage der Nation" behaupten.

Vor dem Hintergrund der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko haben Mitte Juli die vier US-Senatoren Charles Schumer und Kirsten Gillibrand aus New York sowie Robert Menendez und Frank Lautenberg aus New Jersey, allesamt Demokraten, in einem Brief an Hillary Clinton die Außenministerin darum gebeten, Medienberichten nachzugehen, denen zufolge das britische Energieunternehmen BP die Entscheidung zur Freilassung Megrahis maßgeblich beeinflußt hatte, um mit Tripolis einen 900-Millionen-Dollar-Deal über die Erkundung und Erschließung von Ölfeldern vor der Küste Libyens abschließen zu können. Unterstützung erhielten Schumer und Konsorten von Dianne Feinstein und Barbara Boxer, den beiden demokratischen Kolleginnen aus Kalifornien. Im Oberhaus des Kongresses sitzt Feinstein dem Geheimdienstausschuß vor, während Boxer, genauso wie Schumer und Gillibrand, bei den Wahlen im November den eigenen Senatssitz verteidigen muß. Für Gillibrand wird es die erste Wahl sein. Im Januar 2009 wurde sie vom New Yorker Gouverneur David Paterson anstelle Hillary Clintons, die den Senat verließ, um in der Regierung Barack Obamas die Leitung des State Department zu übernehmen, kommissarisch eingesetzt.

Seit über einen Monat nun lastet der Streit um die Umstände der Freilassung Al Megrahis "aus familiären Gründen" schwer auf den Beziehungen der USA zu Großbritannien. Die Demokraten im Senat beabsichtigen dort nach der Sommerpause - und damit in der Zeit unmittelbar vor den Zwischenwahlen - Anhörungen zum Thema Al Megrahi durchzuführen. Eigentlich wollten sie vor den laufenden Kameras der großen US-Fernsehsender den früheren britischen Innenminister Jack Straw, den schottischen Premierminister Alex Salmond und den damals zuständigen und noch amtierenden schottischen Justizminister Kenny MacAskill als Zeugen vernehmen, nur haben diese die Einladung mit dem brüsken Hinweis, sie seien einzig den Wählern des eigenen Landes und nicht denen der USA gegenüber rechenschaftspflichtig, zurückgewiesen. Darüber hinaus weigern sich die Behörden in London und Edinburgh unter Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht, der Forderung der Amerikaner nach Veröffentlichung der Krankenakte Al Megrahis aus seiner Zeit in schottischer Gefangenschaft nachzukommen.

Zum ersten Jahrestag der Freilassung von Megrahi kochte auf beiden Seiten des Atlantiks das Thema Lockerbie hoch. Die neue konservativ-liberale Regierung Großbritanniens unter der Leitung von David Cameron hatte sich schon im Vorfeld mit der Bitte an die Libyer gewandt, sie möchten dafür sorgen, daß es zu keinerlei Feierlichkeiten ähnlich dem triumphalen Empfang für Al Megrahi am Flughafen von Tripolis im vergangenen Jahr kommt. Ob die Bitte überhaupt berücksichtigt werden mußte oder nicht, ist nicht sicher. Jedenfalls machten die libyschen Staatsmedien aus dem Jahrestag nichts. Von dem 65jährigen Al Megrahi, der schwerkrank und völlig zurückgezogen mit seiner Familie in seinem Haus in einem Vorort von Tripolis wohnt, war nichts zu vernehmen. Nichtsdestotrotz hat sich an diesem Tag nicht nur Außenministerin Clinton zur Wort gemeldet, sondern sich auch das Weiße Haus erstmals in den Streit eingeschaltet.

In einer Stellungnahme von Obamas Chefdiplomatin hieß es, die USA stimmten mit der letztjährigen Entscheidung Edinburghs "nach wie vor kategorisch nicht überein". "Wie wir gegenüber den schottischen Behörden wiederholt zum Ausdruck gebracht haben, vertreten wir weiterhin den Standpunkt, daß Megrahi die Gesamtheit seiner Strafe in Schottland absitzen soll", so Clinton. Gegenüber Reportern bezeichnete John Brennan, der für Terrorbekämpfung und Heimatschutz zuständige Stellvertretende Nationale Sicherheitsberater, der die Präsidentenfamilie in ihren Sommerferien auf der zum Bundesstaat Massachusetts gehörenden Insel Martha's Vineyard begleitet, die damalige Entscheidung des schottischen Justiziministers MacAskill unzweideutig als "unglücklich, unangemessen und falsch". Gegenüber den Behörden in Edinburgh habe die Regierung in Washington ihre "starke Überzeugung, daß Megrahi den restlichen Teil - die Gesamtheit - seiner Strafe in einem schottischen Gefängnis absitzen soll, zum Ausdruck gebracht", so der Ex-CIA-Mann Brennan.

Charakterisch für die Aufregung der politischen Klasse in den USA um den angeblichen "Moscheebau am Ground Zero" oder das Überleben Al Megrahis ist die völlig einseitige Wahrnehmung menschlichen Leides. Für die zu Hunderttausenden ums Leben gekommenen Zivilisten infolge der von den USA angeführten Invasionen in Afghanistan und im Irak interessiert sich kein Mensch, aber wehe, irgendwelche Moslems wollen eine Moschee irgendwo in der Nähe des "geweihten Bodens", wo bis zum 9/11 die Twin Towers des World Trade Center standen, bauen; dies wäre angeblich den Angehörigen der Getöteten nicht zuzumuten. Dagegen den Familienangehörigen der 288 Insassen der iranischen Passagiermaschine Flug 655, die am 3. Juli über dem Persischen Golf vom US-Lenkwaffenzerstörer Vincennes abgeschossen wurde, zumutbar soll sein, daß sich Washington bis heute dafür zu keinerlei Entschuldigung veranlaßt gesehen hat. Im Gegenteil wurde der Kapitän der Vincennes nach der Rückkehr in die USA vom damaligen Präsidenten George Bush sen. demonstrativ dekoriert.

Nach dem Absturz des Pan-Am-Jumbos Maid of the Seas über dem schottischen Ort Lockerbie und dem Tod von 270 Menschen am 21. Dezember 1988 gingen Ermittler in den USA und Großbritannien davon aus, daß es sich bei dem bis heute schwersten "Terroranschlag" der europäischen Geschichte um Vergeltung für den Abschuß der iranischen Pilgermaschine handelte. Für diese These gab es auch nicht wenige Belege. Sogar die mutmaßlichen Täter, Mitglieder einer aus Syrien operierenden, palästinensischen Splittergruppe namens Popular Front for the Liberation of Palestine - General Command (PLFP-GC), sollen identifiziert worden sein. Als jedoch Iraks Truppen im August 1990 in Kuwait einmarschierten und Bush sen. seine Anti-Saddam-Hussein-Koalition aufbaute, wurde die Spur Richtung Damaskus und Teheran plötzlich ganz kalt. Schließlich sollten 1991 syrische Truppen an dem ersten Golfkrieg an der Seite der Amerikaner teilnehmen und sich die Iraner aus dem ganzen heraushalten.

Plötzlich hieß es, der böse Muammar Gaddhafi habe Lockerbie zu verantworten, wobei das Motiv - bis auf eine generelle Abneigung dem Westen gegenüber - niemals ganz klar wurde. Gegen Libyen wurden 1992 schwere Sanktionen verhängt, denen zu entkommen, Tripolis 1999 der Auslieferung von Al Megrahi und einem zweiten Libyer namens Al Amine Khalifa Fhimah an ein schottisches Sondergericht im niederländischen Camp Zeist zustimmte. Ihnen wurde vorgeworfen, jene Bombe, welche die Pan-Am-Maschine in Stücke riß, auf Malta, wo beide am Flughafen von Luka für die staatliche libysche Luftlinie arbeiteten, als Gepäckstück aufgegeben zu haben. Al Megrahi soll persönlich den Zünder für die Bombe bei der Schweizer Firma Mebo Elektronik gekauft haben. Im Januar 2001 wurde Fhimah freigesprochen, Al Megrahi jedoch verurteilt. Aufgrund der Dürftigkeit der Beweislage sprachen viele unabhängige Juristen, darunter der offizielle UN-Prozeßbeobachter Prof. Hans Köchler aus Österreich, von einem Justizirrtum.

Seitdem hatten der Verurteilte und seine Anwälte erbittert versucht, diesen Justizirrtum zu belegen. 2009 stand Al Megrahi kurz vor diesem Ziel. Zwei Jahre zuvor hatte die Scottish Criminal Cases Review Commission (SCCRC) in einem über 800seitigen Bericht zahlreiche Aspekte des ursprünglichen Urteils bemängelt und einen neuen Prozeß empfohlen. 2007 hatte zudem Ulrich Lumpert, ein Mitarbeiter von Mebo, in einer eidesstattlichen Erklärung behauptet, Angehörigen der angloamerikanischen Geheimdienste jenen Zeitzünder besorgt zu haben, von dem die Staatsanwaltschaft beim Lockerbie-Prozeß im Camp Zeist ein verkohltes Überbleibsel als das in den Flugzeugtrümmern gefundene, entscheidende Beweismittel präsentierte. Kein Wunder daher, daß, während Schumer, Brennan, Clinton und Co. die erneute Inhaftierung Al Megrahis fordern, die britischen Angehörigen der Lockerbie-Opfer, unterstützt von Prominenten wie Noam Chomsky, der Nobelfriedenspreisträger Desmond Tutu und Prof. Allen Miller, Leiter der schottischen Menschenrechtskommission, eine erneute Untersuchung des Anschlags verlangen. In einem Artikel, der am 20. August in der Tageszeitung Guardian erschienen ist, sprach sich Miller für die Veröffentlichung eines Dokuments aus, aus dem ganz klar hervorgehen soll, daß Al Megrahi nichts mit dem Zünder für die Lockerbie-Bombe zu tun hatte, und das vermutlich deshalb 2008 vom damaligen britischen Außenminister David Milliband zur geheimen Verschlußsache erklärt wurde.

Al Megrahi wurde vor einem Jahr weniger "aus familiären Gründen" nach Libyen entlassen, als vielmehr um die Wiederaufnahme seines Prozesses zu verhindern und die Fortsetzung der jahrelangen Vertuschung der wahren Hintergründe des Lockerbie-Anschlages zu gewährleisten. Das wissen alle am aktuellen Streit Beteiligten ganz genau, egal wieviel Mühe sie sich geben, durch die Einnahme moralischer Posen den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Die Chancen, daß der Lockerbie-Fall neu aufgerollt wird, sind wegen der Stärke der Kräfte, die daran keinerlei Interesse haben, gleich null.

23. August 2010