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USA/1221: Strategie-Diskussion um Afghanistan führt in die Irre (SB)


Strategie-Diskussion um Afghanistan führt in die Irre

Krieg als Selbstzweck zieht Legitimationsprobleme nach sich


In Washington findet derzeit eine erhitzte Debatte zwischen Regierung, Kongreß und Militär über den Afghanistan-Krieg statt, der inzwischen mehr als acht Jahre dauert und bei dem die Gegner der ausländischen Truppenpräsenz eindeutig auf dem Vormarsch sind. Die Diskussion ist von Präsident Barack Obama ausdrücklich gewollt, damit auf diesem Weg die richtige Strategie herauskommt. Wie die US-Presse berichtet - siehe z. B. den Washington-Post-Artikel "Afghan Strategy Divides Lawmakers" vom 7. Oktober -, haben die an der "policy review" beteiligten Mitglieder der außenpolitischen Elite Amerikas große Probleme, eine Einigung zu erzielen. Dieser Umstand ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß eine "Befriedung" Afghanistans im Sinne der NATO militärisch nicht mehr zu erzielen ist, sondern darauf, daß man allergrößte Probleme hat, die Mission am Hindukusch überhaupt zu begründen.

Wie man weiß, marschierten die Streitkräfte der USA und ihre Verbündeten am 7. Oktober 2001 in Afghanistan ein, nachdem sich die damalige Taliban-Regierung in Kabul geweigert hatte, Osama Bin Laden wegen seiner angeblichen Rolle bei den Flugzeuganschlägen vom 11. September an die amerikanischen Behörden auszuliefern. Statt dessen boten die Männer um den Anführer der Taliban, Mullah Omar, der bekanntlich mit Bin Laden verschwägert ist, an, bei Vorlage entsprechend dokumentierter Verdachtsmomente den Al-Kaida-Chef an ein neutrales Drittland auszuliefern, damit ihm dort der Prozeß gemacht werden könne. Diese Kompromißlösung reichte der damaligen Administration von George W. Bush nicht aus, der zum Auftakt des militärischen Angriffs auf Afghanistan seinem traumatisierten Volk versprach, Bin Laden "tot oder lebendig" zu fassen zu bekommen bzw. diesen "aus seiner Höhle auszuräuchern".

Um ein Mandat für die Invasion Afghanistans zu bekommen, versprach Bushs Außenminister General a. D. Colin Powell, dem UN-Sicherheitsrat nachträglich die Beweise für die Verwicklung Bin Ladens in den 11. September zu übergeben. Bis heute hat Washington dieses Versprechen nicht erfüllt. Schlimmer noch. Auf der Fahndungsanzeige des FBI für den "Topterroristen" steht nichts über eine etwaige Beteiligung an den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Arlington, und zwar deshalb, weil es nach eigenen Angaben der US-Bundespolizei dafür keine stichhaltigen Beweise gibt! Diese skandalöse Tatsache wird geflissentlich ignoriert und wurde mit keinem Wort erwähnt, als vor zwei Tagen der UN-Sicherheitsrat das Mandat der ISAF für Afghanistan für ein weiteres Jahr verlängerte.

Die USA behaupten, Bin Laden habe sich zur Jahreswende 2001/2002 beim Sturm der amerikanischen Streitkräfte auf seine Bergfestung Tora Bora über die Grenze nach Pakistan abgesetzt. Um den eigenen Verbleib in Afghanistan zu begründen, behauptete man daraufhin, man "baue" Afghanistan "wieder auf" und führe dort den demokratischen Rechtsstaat ein. Acht Jahre später ist davon nichts zu merken. Die jüngste Präsidentenwahl am 20. August wurde von massiven Manipulationen überschattet. Der ehemalige US-Botschafter Peter Galbraith hat deshalb die Wiederwahl von Präsident Hamid Karsai, dessen Regierung aus kriminellen Warlords besteht und dessen Bruder zu den führenden Opiumschmugglern des Landes gehören soll, als "größten strategischen Sieg der Taliban" bezeichnet und ist aus Protest als stellvertretender Leiter der UN-Mission in Kabul zurückgetreten. Diese Entwicklung hat die demokratische Legitimierung Karsais, der im eigenen Land als "Bürgermeister von Kabul" verspottet und dessen Leibgarde aus schwerbewaffneten Söldnern des US-Sicherheitsunternehmens DynCorp besteht, als Charade entlarvt.

Auch mit dem Argument, man bekämpfe in Afghanistan den "Terrorismus", steht es nicht mehr zum Besten. Bei einem Auftritt beim Fernsehnachrichtensender CNN am 4. Oktober hat Obamas Nationaler Sicherheitsberater General a. D. James Jones selbst eingeräumt, daß die US-Geheimdienste von weniger als 100 Al-Kaida-Mitgliedern in Afghanistan ausgingen, die dort über "keine Basen, keine Fähigkeit", die USA oder deren Verbündete "anzugreifen, verfügen". Warum man dennoch in Afghanistan bleiben will, erläuterte vor kurzem US-Außenministerin Hillary Clinton mit der Behauptung, zögen die NATO-Truppen aus dem Land ab und kämen die Taliban wieder an die Macht, bekämen Bin Laden und Konsorten wieder an jene "sicheren Zufluchtsorte" zurück, von wo aus sie weitere Großanschläge auf die USA starten könnten. Diese Begründung ist nicht besonders plausibel, wenn man erstens bedenkt, daß laut der offiziellen Verschwörungstheorie die Attentäter vom 11. September den Massenmord von Deutschland, Spanien und den USA selbst aus geplant und vorbereitet haben, und zweitens, daß die Taliban bereits jetzt weite Teile - nach manchen Schätzungen bis zu 80 Prozent - Afghanistans kontrollieren.

Angesichts dieser desaströsen Lage an der Propagandafront flüchten sich immer mehr Verfechter des Afghanistankrieges in die altbewährte Domino-Theorie. Demnach darf man keinen Rückzieher in Afghanistan machen, weil ein Sieg der Taliban über die NATO wie der der Mudschaheddin über die Sowjetarmee in den achtziger Jahren den Radikalen in der islamischen Welt enormen Auftrieb verliehe und diese zu einem Generalangriff auf die westliche Zivilisation ermutigen könnte mit der Konsequenz, daß über kurz oder lang Bin Ladens angeblicher Traum vom weltweiten Kaliphat verwirklicht werden würde. Normalerweise sind es hysterische US-Neokonservative, die dieses Untergangsszenario an die Wand malen. Doch sogar Sir David Richards, Generalstabschef der königlichen Streitkräfte Großbritanniens, hat in einem am 4. Oktober im erzkonservativen Sunday Telegraph veröffentlichen Interview vom Krieg in Afghanistan als "Generationskonflikt" gesprochen und behauptet, eine Niederlage der NATO in Afghanistan hätte einen "berauschenden Effekt" auf den militanten Islam, das von einem Abzug ausgehende Risiko wäre "enorm" und "unvorstellbar". Dazu Richards:

Wenn Al Kaida und die Taliban glaubten, sie hätten uns besiegt, was käme danach? Würden sie es bei Afghanistan belassen? Pakistan bietet sich als attraktives Ziel nicht zuletzt wegen der Tatsache an, daß es ein Atomstaat ist. Und das ist eine erschreckende Aussicht. Selbst wenn ihnen nur ein paar solcher Waffen in die Hände fielen, glauben Sie mir, sie würden sie benutzen. Das jüngste Passagiermaschinen-Komplott hat gezeigt, daß es Leute da draußen gibt, die uns alle gerne in die Luft jagen würden.

Das Argument, der Feind ist nicht nur unbarmherzig, sondern auch irrational, ist purer Rassismus. Tatsächlich haben die Taliban mehrmals erklärt, daß ihr Ziel in der Befreiung Afghanistans von jeder ausländischen Militärpräsenz besteht und daß sie, zögen die NATO-Staaten ihre Truppen ab, bereit wären, Sicherheitgarantien abzugeben, daß ihr Land weder zur Ausbildung von "Terroristen" noch für die Vorbereitung von Anschlägen in anderen Ländern benutzt wird. Diese Erklärungen haben - jedenfalls nach außen hin - die Politiker und Militärs im Westen überhört. Statt dessen gibt es Durchhalteparolen und Sprüche seitens der US-Regierung, wonach bei der derzeitigen Strategiedebatte "alle Optionen" auf dem Tisch lägen.

Dies stimmt natürlich nicht ganz. Vor drei Tagen hat Präsident Obama die Parameter der Diskussion erheblich eingeschränkt, als er bei einem Treffen mit führenden Vertretern des Kongresses dem Vorschlag von Vizepräsident Joseph Biden, den Kampf gegen Al Kaida einzig mit Spezialstreitkräften und Drohenangriffen fortzusetzen, eine Absage erteilte und erklärte, er denke nicht daran, die 68.000 derzeit in Afghanistan stationierten Soldaten und Marineinfanteristen abzuziehen. Auch wenn Obama die von US-General Stanley McChrystal, dem NATO-Oberbefehlshaber in Afghanistan, geforderte Truppenaufstockung von 40.000 Mann nicht in vollem Umfang bewilligt, so hat er jedoch klargestellt, daß er den Krieg fortzusetzen gedenkt. Die Strategie-Debatte dürfte daher vorerst weitergehen, bis man sich eine halbwegs plausible Begründung ausgedacht hat, warum man partout von dem immer blutiger werdenden Krieg in Afghanistan nicht ablassen will.

9. Oktober 2009