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SOZIALES/2102: Klassenzimmer als vorgelagerter Abschiebeknast (SB)



Festnahmen im Schulunterricht in Nürnberg und Duisburg

Wie doch die Fälle einander gleichen! Der naheliegende Verdacht, es könnte sich bei der versuchten Abschiebung des 20jährigen Afghanen Asef N. in Nürnberg und der vollzogenen Abschiebung der 14 Jahre alten Nepalesin Bivsi R. in Duisburg - beide mitten aus dem Schulunterricht heraus - um weit mehr als eine zufällige Koinzidenz handeln, ist schwerlich von der Hand zu weisen. Im Zuge des Polizeieinsatzes an einer Nürnberger Berufsschule hatten Mitschüler mit einer Sitzblockade und einer spontanen Demonstration versucht, die Abschiebung zu verhindern. Es kam zu tumultartigen Szenen mit bis zu 300 Personen. Die Polizisten forderten Verstärkung an, acht Streifenwagen fuhren vor, darunter das Unterstützungskommando USK samt Polizeihund. Das sei der Zeitpunkt gewesen, an dem die Situation eskalierte, sagt Augenzeuge Jörg Weißgerber. Er hätte in der Klasse von Asef N. einen Vortrag über Migration halten sollen. "Die Gewalt ging eindeutig von der Polizei aus", so Weißgerber. "Ich habe schon viele Demos gesehen, aber dass Polizisten mit solch unverhältnismäßiger Härte gegen friedliche Schüler vorgehen, habe ich noch nicht erlebt. Das hat mich schockiert."

Die Beamten setzten Schlagstöcke und Pfefferspray ein, der Hund wurde mit Maulkorb auf die sitzenden Schüler losgelassen. Nach Polizeiangaben wurden neun Beamte verletzt, von den Demonstranten seien keine Verletzten gemeldet worden. "Wie soll man denn bei jemandem, der einen gerade angegriffen hat, eine Verletzung melden?", fragt Weißgerber. Er selbst habe Schüler mit Platz- und Schürfwunden und von Pfefferspray geröteten Augen gesehen. Asef N. wurde laut seiner Betreuerin Dagmar Gerhard "am Boden liegend über den Asphalt gezerrt". Dabei habe er sich Schürfwunden an der linken Hand, an der linken Wange und im linken Brustbereich zugezogen. [1]

Mit Gewalt gelang es den Polizisten schließlich, den jungen Afghanen abzutransportieren. Noch am selben Abend sollte er nach Kabul fliegen, doch dazu kam es nicht. Wegen des schweren Anschlags in der Nähe der deutschen Botschaft sagte die Bundesregierung kurzfristig den anberaumten Abschiebeflug nach Afghanistan ab. Gegen Asef N. werden derzeit "strafrechtliche Verstöße geprüft", so die Polizei, weil er nicht freiwillig in den Streifenwagen eingestiegen sei und im Verdacht stehe, "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" geleistet zu haben.

Asef N. kam vor vier Jahren allein aus Afghanistan nach Deutschland. Wie es aus seinem Umfeld heißt, spreche er gut Deutsch, sei bestens integriert, fleißig, ehrgeizig und freundlich. Im Herbst sollte er eine Ausbildung als Schreiner beginnen, schon jetzt lernte er im Berufsgrundschuljahr das Handwerk in der Lehrwerkstatt. Nach Paragraf 25a des Aufenthaltsgesetzes kann "gut integrierten Jugendlichen", die seit vier Jahren "erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung" in Deutschland leben und "erfolgreich eine Schule besuchen", eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn der Antrag vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird.

Asef N. hat den Antrag rechtzeitig gestellt. Weil er dafür aber einen afghanischen Pass vorlegte, wirft ihm der mittelfränkische Regierungspräsident Thomas Bauer (CSU) vor, die bayerischen Ausländerbehörden "jahrelang systematisch getäuscht" zu haben. Man habe ihn achtmal erfolglos aufgefordert, sich für die Rückführung in sein Heimatland einen afghanischen Paß zu beschaffen. Sein Verhalten sei "unkooperativ", denn er habe schließlich doch einen Pass besessen, ausgestellt im Jahr 2007. Sein Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung wurde mit Bescheid vom 23. Mai abgelehnt, "mangels Vorliegen der Voraussetzungen". [2] Dieser Version widerspricht Michael Brenner, der Anwalt des 20jährigen. Sein Mandant habe mehrmals beim Konsulat vorgesprochen. Es sei für Flüchtlinge aber oft nahezu unmöglich, einen Paß zu bekommen. Erst in diesem Jahr hätten die afghanischen Behörden Asef N. einen Reisepaß ausgestellt, den er dann beim Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis im März vorgelegt habe.

Nach Polizeiangaben drohte Asef N. auf der Dienststelle, er werde im Fall seiner Abschiebung in einem Monat ohnehin wieder hier sein und Deutsche umbringen. Wie aus einer Stellungnahme seiner Betreuerin hervorgeht, kann sich Asef N. an eine solche Aussage nicht erinnern, entschuldige sich aber für eine mögliche Anschlagsdrohung. Sollte er sie tatsächlich gemacht haben, sei dies auf einen "emotionalen Ausnahmezustand" zurückzuführen, so Dagmar Gerhard. "Jedenfalls würde er niemals den Bewohnern des Landes, das ihn aufgenommen und ihm Schutz gegeben hat, Schaden zufügen."

Dem Anwalt des Schülers zufolge kam seine mögliche Drohung auch vor der Ermittlungsrichterin zur Sprache. Diese habe darin aber keinen Grund für eine Abschiebehaft gesehen, so Brenner: "Es ist grotesk, dass sich jetzt an dem Satz so aufgehangen wird." Das Amtsgericht lehnte die von der Zentralen Ausländerbehörde der Regierung von Mittelfranken beantragte Abschiebehaft vom 1. bis 30. Juni ab. Für eine solche Maßnahme gebe es keinen Anlaß. Eine Sprecherin der Bezirksregierung teilte mit, daß gegen die erfolgte Haftentlassung des jungen Mannes Beschwerde eingelegt worden sei.

Während Asef N. damit weiterhin von Abschiebung bedroht ist, die jedoch unter Umständen noch verhindert werden kann, stehen für Bivsi R. und ihre ebenfalls abgeschobenen Eltern die Aussichten denkbar schlecht, noch einmal nach Deutschland zurückkehren zu können. Lediglich ihr Bruder, der gegenwärtig in Osnabrück studiert, blieb von der Zwangsmaßnahme verschont. Ihre Eltern waren bereits im Jahr 1998 und damit noch vor ihrer Geburt unter falschen Namen in die Bundesrepublik eingereist. Nach Angaben ihres Anwalts Jörg Gorenflo aus Wuppertal hatten sie aus Angst vor Verfolgung zu Zeiten des nepalesischen Bürgerkriegs ihre Namen geändert. Der richtige Paß der Mutter wurde bei einer Hausdurchsuchung im Jahr 2003 gefunden. Der Vater gab 2012 eigenständig bei der Ausländerbehörde der Stadt Duisburg an, daß er eine falsche Identität benutzt habe, und zeigte sich später noch selbst an. Nachdem das Bundesamt für Migration den Asylantrag bereits abgelehnt hatte, erkannten auch das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht die Fluchtgründe der Familie nicht an. Schließlich lehnte auch die angerufene Härtefallkommission des Landes NRW ab. Gorenflo zufolge habe sich die einmalige Lüge letztlich negativ auf den Asylfall der Familie ausgewirkt. Ein solcher Fall sei ihm in 22 Jahren Berufsausübung noch nie untergekommen. [3]

Der jahrelange Kampf gegen die drohende Abschiebung hatte die Eltern nicht davon abgehalten, sich eine Existenz aufzubauen, Steuern zu zahlen und Bivsi auf das traditionsreiche Steinbart-Gymnasium zu schicken. Nach Angaben des Schulleiters Ralf Buchthaler war sie umfassend integriert und hat perfekt Deutsch gesprochen, ihr Vater habe ein Sushi-Restaurant betrieben. Die 14jährige saß wie gewöhnlich im Unterricht der neunten Klasse, als die Ausländerbehörde sie plötzlich aus dem Klassenraum abführte. Die Abschiebung kam für sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn sie fragte noch völlig verstört: "Wie weg, wohin soll ich denn?" Bivsi konnte sich im Lehrerzimmer noch von zwei ihren Freundinnen verabschieden, dann wurde sie zusammen mit ihren Eltern direkt nach Frankfurt transportiert, von wo aus um 17 Uhr der Flug Richtung Nepal startete.

Auch der Schulleiter war völlig konsterniert. Er sei in der zweiten Stunde telefonisch darüber informiert worden, daß zwei Mitarbeiter des Ausländeramtes vorbeikämen, die dann bereits wenige Minuten später eingetroffen seien: "Für uns war es so verstörend, weil wir vorher überhaupt keinen Hinweis hatten." Wie Bivsis Mitschülerin Sara Bahador berichtet, seien die Kinder in ihrer Klasse immer noch schockiert: "Es ist ein komisches Gefühl, dass wir sie nicht mehr wiedersehen. Es hat uns das Herz gebrochen. Sie war ein sehr liebes Mädchen. Wir haben sie alle geliebt, und wir lieben sie immer noch." Auch die Empörung unter den Eltern der Mitschüler sei groß, sagt Schulleiter Buchthal. Viele Kinder seien verstört nach Hause gekommen. "Das darf nicht passieren. Kinder müssen sich in einer Schule sicher fühlen", sagt er. "Schule muss ein Schutzraum für Kinder sein! Niemand darf hier solch ein emotionales Trümmerfeld anrichten." Mittlerweile hätten ihre Mitschüler Kontakt mit Bivsi, berichtet Sara: "Sie ist in Nepal angekommen, und jetzt suchen ihre Eltern nach einer Bleibe. Von Nepal wollen sie auch mit einem Anwalt in Deutschland versuchen, wieder nach Duisburg zurückkehren zu dürfen."

In der für eine kollaborierende Administration typischen Mischung aus Zurückweisung eigener Verantwortung und kaum verhohlenem Zynismus erklärte Anja Kopka, Pressesprecherin der Stadt, der Ausländerbehörde seien die Hände gebunden: "Wir bekommen vom Land den Flug genannt, den die Betroffenen zu nehmen haben und müssen sie dann, ohne großen Aufenthalt, zum Flughafen bringen." Die Familie habe seit einem Jahr gewußt, daß die Abschiebung bevorsteht. Sie sei zwar perfekt integriert gewesen, doch habe kein Asylgrund vorgelegen. Da könne die Stadt nichts tun, sie habe im Auftrag des Landes die Abschiebung durchzuführen. Immerhin habe sich Bivsi noch von ihren Freundinnen verabschieden können, so Kopka. "Hätten wir in den Sommerferien abgeschoben, wäre es dazu nicht mehr gekommen."

Als besonders tröstlich dürften Bivsis Mitschülerinnen den Abschied kaum empfunden haben. Dazu Schülersprecherin Sarah Habibi, die auch zugegen war, als zwei Tage später mehrere Vertreter der Stadt, unter ihnen Duisburgs Ordnungsdezernentin Daniela Lesmeister (CDU), die Klasse der abgeschobenen Schülerin besuchten: Die Dezernentin habe den Schülern gesagt, daß sie sich ja alle noch hätten von Bivsi verabschieden können. "Das stimmte aber nicht", sagt Sara, "nur ihre beiden besten Freundinnen durften sie noch einmal sehen." Im übrigen habe ihnen die Stadt klargemacht, daß Bivsi keine Chance habe, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Das Engagement der Klasse für ihre abgeschobene Mitschülerin habe Lesmeister für überflüssig gehalten: "Sie hat uns gesagt, dass es nichts bringt, wenn wir uns für Bivsi einsetzen und dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland für mehr Abschiebungen seien." [4]

Abschiebungen werden in Deutschland immer unangekündigt durchgeführt, erklärt Daniela Lesmeister, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Die Juristin hat ihre berufliche Laufbahn bei der Polizei in Gelsenkirchen begonnen und ist nicht nur Ordnungsdezernentin in Duisburg, sondern berät auch den künftigen Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, Armin Laschet (CDU), in Sicherheitsfragen. Von manchen wird sie als mögliche Innenministerin der künftigen schwarz-gelben Landesregierung gehandelt.

Wie Schülersprecherin Habibi sicher nicht zu Unrecht befürchtet, könnten solche Abschiebungen von Mitschülern in Zukunft häufiger passieren: "An unserer Schule sind Jugendliche und Kinder aus 60 verschiedenen Ländern. Und uns allen ist durch Bivsi klar geworden, dass wir gar nicht wissen, wer von ihnen morgen vielleicht schon nicht mehr bei uns ist."


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article165179424/Asef-N-entschuldigt-sich-kann-sich-aber-nicht-erinnern.html

[2] http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/nuernberg-drohende-abschiebung-wer-ist-der-junge-afghane-asef-n-a-1150246.html

[3] https://www.derwesten.de/staedte/duisburg/voll-integriert-und-doch-abgeschoben-warum-eine-notluege-bivsi-14-und-ihre-familie-zurueck-nach-nepal-zwang-id210777125.html

[4] https://www.welt.de/print/welt_kompakt/article165175528/Sie-war-ein-sehr-liebes-Maedchen.html

2. Juni 2017


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