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NAHOST/1709: Irak - das Chaos wächst an ... (SB)


Irak - das Chaos wächst an ...


Im Irak stehen die Amerikaner vor einer schwierigen Frage: Eskalation oder Abzug? Der Vorwand, unter dem die US-Streitkräfte 2014 wieder in den Irak eingezogen waren - Bekämpfung der sunnitischen "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) - hat sich 2018 mit der Vernichtung des "Kalifats" von Abu Bakr Al Baghdadi weitgehend erledigt. Seitdem sind die US-Soldaten im Irak unwillkommene Gäste, die jedoch ihren Rückzug verweigern. Deswegen werden US-Stützpunkte im Land seit 2019 zunehmend zum Ziel von Raketenangriffen, mit denen die schiitischen Milizen die einstigen Verbündeten beim gemeinsamen Kampf gegen den IS bislang vergeblich zum Abzug zu animieren versuchen. In Washington wehren sich die Falken vehement gegen die Räumung der US-Basen im Irak, weil dies als Sieg des Irans angesehen werden und damit Amerikas Ruf als Militärmacht beschädigen könnte. Statt dessen plädieren diese Kräfte, die sich mit dem Sturz ihrer Marionette, des Shahs Mohammad Reza Pahlavi vor 31 Jahren, bis heute nicht abgefunden haben und deshalb seitdem einen tiefsitzenden Groll gegen das "Mullah-Regime" in Teheran hegen, für eine umfassende Offensive gegen alle irakischen Besatzungsgegner, selbst wenn dies einen großen Krieg am Persischen Golf auslösen sollte.

Am 22. und am 28. März hat die New York Times ausführlich über den laufenden Streit innerhalb der Regierung von US-Präsident Donald Trump zwischen Hardlinern und Gemäßigten in der Irak-Iran-Frage berichtet. Zur ersten Gruppe gehören Außenminister Mike Pompeo, der Nationale Sicherheitsberater Robert O'Brien sowie Geheimdienstkoordinator Richard Grenell, zur letzteren Verteidigungsminister Mark Esper und Generalstabschef Mark Milley. Aus dem ersten der beiden Artikel geht hervor, daß sich nach dem Raketenangriff, der am 11. März zwei auf dem Militärstützpunkt Al Taji stationierte US-Soldaten und eine britische Soldatin tötete, die Pompeo-Fraktion für schwere Vergeltungsangriffe nicht allein auf die irakische Kataib Hisb Allah, sondern auch im Iran selbst plädiert hat. Und das ungeachtet der Tatsache, daß die Urheberschaft des Angriffs bis heute völlig ungeklärt ist.

Wegen der Gefahr einer Großkonflikts hat sich Trump auf die Seite von Esper und Milley geschlagen und begrenzte Luftangriffe im Irak angeordnet. Diese töteten eine Anzahl von Angehörigen der Kataib-Hisb-Allah, aber auch mehrere reguläre irakische Soldaten und einen Polizisten. Schließlich sind Iraks schiitische Milizen Teil der 2014 von Ajatollah Ali Sistani ins Leben gerufenen Volksmobilisierungskräfte und damit den regulären Streitkräften des Landes angegliedert, mit denen sie häufig Ausrüstung und Quartiere teilen. Aus Sicht der meisten Iraker handelte es sich bei der jüngsten amerikanischen "Vergeltungsoperation" um einen gravierenden und unzulässigen Angriff auf die irakische Souveränität, der mindestens so schwer, wenn nicht sogar schwerer als das Attentat auf den iranischen Kriegshelden General Qassem Suleimani am 3. Januar am Bagdader Flughafen wiegt. Seitdem reißen die Raketenangriffe auf die US-Militärbasen im Irak sowie auf die Grüne Zone in Bagdad, auf deren weiträumigem Gelände sich auch die gigantische US-Botschaft befindet, nicht mehr ab.

Angesichts dieser Entwicklung hat das US-Militär begonnen, die Anzahl seiner Stützpunkte zu reduzieren und die rund 5000 US-Soldaten sowie die sie unterstützenden rund 15.000 Militärdienstleister auf größeren Basen zusammenzulegen, die leichter und besser zu verteidigen sein sollen. In den letzten Tagen ist die Räumung mehrerer Stützpunkte, darunter Al Qayyara und K1 in den nördlichen Provinzen Nineveh und Kirkuk sowie Habbaniyah in der westlichen Provinz Anbar, erfolgt. Trotzdem setzen die schiitischen Milizen ihre Nadelstiche fort, weshalb laut der New York Times im zweiten der vorhin erwähnten Artikel das Pentagon auf Drängen der Pompeo-Fraktion in der Trump-Administration bereits einen Plan für eine umfassende Militäroffensive gegen Iraks schiitische Milizen und deren vermeintliche Hintermänner im Iran erarbeitet hat.

Der waghalsige Plan, der im Fall seiner Ausführung sogar ausdrücklich die Versenkung iranischer Kriegsschiffe im Persischen Golf vorsieht, hat bei den Militärs, die ihn umsetzen sollen, heftigen Widerstand ausgelöst. Nach Erteilung der entsprechenden Direktive am 15. März zur raschen Erstellung einer Liste der anzugreifenden Ziele meldete am darauffolgenden Tag Generalleutnant Robert White, Oberfehlshaber aller US-Streitkräfte im Irak, schriftlich seine Bedenken an. White wies laut NYT darauf hin, daß ein offener Konflikt mit den mehr als 100.000 schiitischen Milizionären im Irak, wenn überhaupt, dann nicht ohne eine massive Aufstockung der US-Truppenpräsenz zu gewinnen wäre, keine völkerrechtliche Grundlage hätte und zwangsläufig auf einen heißen Krieg mit dem Iran hinausliefe.

In einer eigenen Analyse, die am 29. März in der Onlineversion der Zeitschrift The American Conservative erschienen ist, hat der Historiker und sicherheitspolitische Kommentator Daniel Larison die von Washingtons Neokonservativen anvisierte Eskalation ihres Streits mit dem Iran über den Umweg der irakischen Schiitenmilizen als "irrsinnig" bezeichnet. Larison macht darauf aufmerksam, daß es den US-Streitkräften im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nach dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins trotz einer Stärke von mehr als 160.000 Mann im Irak nicht gelungen ist, den damaligen Aufstand sunnitischer und schiitischer Gruppen in den Griff zu bekommen. Die Kämpfe flauten erst ab, als 2007 US-General David Petraeus in mühsamer Kleinarbeit eine Serie informeller Feuerpausen aushandelte und das Einverständnis der Gegner zu einem Waffenstillstand mittels größerer finanzieller Zuwendungen erkaufte.

Da das auch Pompeo, O'Brien et al bekannt sein muß, liegt die Vermutung nahe, daß es ihnen nicht so sehr um die erneute Auflage eines Konflikts niedriger Intensität mit den schiitischen Milizen im Irak, als vielmehr um einem Krieg mit dem Iran geht, bei dem das Pentagon endlich die angeblichen Vorteile seiner Luftwaffe und Marine im Bereich der High-Tech-Waffen zum Tragen bringen könnte. Der Ausstieg Trumps aus dem Atomabkommen mit dem Iran 2018 und die Verhängung schwerer Finanzsanktionen der USA haben die Wirtschaft der Islamischen Republik an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Die Verbreitung der Corona-Virus-Epidemie in den vergangenen Wochen hat zudem das gesellschaftliche Leben im Iran völlig durcheinander gebracht. In kaum einem anderen Land sind so viele Politiker und hohe Beamten an den Folgen einer COVID-19-Infektion gestorben.

Dessen ungeachtet hat Pompeo erst letzte Woche weitere Sanktionen gegen den Iran verhängt, die dessen Zugang zum internationalen Markt für medizinische Ausrüstung und Medikamente noch schwerer gemacht haben. Es ist also gut möglich, daß die Fraktion der Kriegsfalken in Washington glaubt, ihre "Politik des maximalen Drucks" gegenüber dem Iran stehe kurz vor dem großen Durchbruch und es bedürfe nur einer kurzen, aber heftigen Strafaktion gegen das iranische Militär und die Revolutionsgarden, um das klerikale "Regime" in Teheran ein für allemal zu beseitigen. Wenn das die Kalkulation sein sollte, wird sie sich - wie von Daniel Larison und anderen prognostiziert - als völlige Verkennung der Realität erweisen.

31. März 2020


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