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NAHOST/1702: Libyen - gefangen im komplexen Interessenskontext ... (SB)


Libyen - gefangen im komplexen Interessenskontext ...


Am 2. März hat der UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Ghassan Salamé, seinen Rücktritt erklärt. Der 68jährige Diplomat aus dem Libanon führte die unerwartete Entscheidung auf seine Gesundheit zurück, die sich mit "dieser Sorte von Streß" nicht mehr vertrage. Seit 2017 hatte Salamé versucht die Streitparteien in Libyen zu einer Beilegung des Bürgerkriegs zu bewegen - vergeblich. Auf der großen Libyen-Konferenz am 19. Januar in Berlin waren zwar die Hauptkontrahenten - der Ex-CIA-Verbindungsmann Khalifa Hifter, "Feldmarschall" der Libyschen Nationalarmee (LNA) und Führungspersönlichkeit der im östlichen Tobruk residierenden House of Representatives (HoR), und Fayiz Al Sarradsch, Premierminister der seit 2016 existierenden und von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) in der Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes - zugegen, doch sie haben den direkten Kontakt demonstrativ vermieden. Und auch bei den Friedensgesprächen, die seitdem in Genf unter UN-Vermittlung stattfanden, kam es zu keinem direkten Meinungsaustausch. Die verfeindeten Delegationen saßen in unterschiedlichen Hotelzimmern, während Salamé und seine Mitarbeiter dazwischen hin und her rannten und Botschaften weiterleiteten.

Die "Gespräche" in Genf, die zuletzt reine Alibi-Funktion hatten, sind längst von den Ereignissen am libyschen Boden überholt worden. Der Konflikt in Libyen hat sich zu einem blutigen Stellvertreterkrieg entwickelt mit Frankreich, Rußland, Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auf der Seite von Hifters LNA und die Türkei als fast einziger militärischer Verbündeter der GNA, die lediglich einen kleinen Küstenstreifen um der Hauptstadt Tripolis und die benachbarte Stadt Misurata kontrolliert. Letztes Jahr hat Ankara die drohende Einnahme von Tripolis durch die LNA mittels der Entsendung größerer Mengen Waffen und Munition per Schiff verhindert. Daraufhin haben im November die GNA und die türkische Regierung einen Beistandspakt geschlossen, in dem erstere die sehr großzügig ausgelegten Ansprüche der Türkei auf Öl- und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer anerkannte. Der völkerrechtlich dubiose Schritt hat damals heftige Proteste aus Paris, Athen, Nikosia und Kairo ausgelöst.

Im Januar hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan 2000 "Rebellen" aus dem Krieg in Syrien abgezogen und sie zur Unterstützung der GNA nach Tripolis geschickt. Doch offenbar hat Ankara es nicht bei der Verlegung religiös-motivierter Söldner à la Jabhat Al Nusra von der Levante nach Nordafrika belassen, sondern auch türkische Militärs zum Kämpfen nach Libyen entsandt. In den letzten Tagen wird immer wieder der Tod türkischer Soldaten bei Kämpfen um Tripolis und Misurata gemeldet. Sogar von der Teilnahme türkischer Soldaten an einem Scharmützel in der südlichen Stadt Al Falah war am 23. Februar bei antiwar.com die Rede. Am 28. Februar berichtete der russische Nachrichtensender Sputnik unter Verweis auf LNA-Quellen, bei türkischen Drohnenangriffen nahe der Front in einem südlichen Vorort von Tripolis seien mehrere Zivilisten getötet worden.

Besagte Drohnenattacke scheint eine Vergeltungsaktion für einen Raketenangriff der LNA gewesen zu sein, der wenige Tage zuvor einem türkischen Frachtschiff, das gerade mit Rüstungsgütern in den Hafen von Tripolis einlief, gegolten hatte. Wie schwer das Schiff beschädigt wurde, ist unklar. Fest steht, daß bei der Aktion eine LNA-Rakete einen mit Flüssiggas gefüllten Tanker nur knapp verfehlte und somit den Arbeitern am Hafen von Tripolis und den Bewohnern der Gegend ein gigantisches Feuerinferno erspart blieb. Der Vorfall hat jedoch die GNA, deren Einnahmen aus dem Ölgeschäft aufgrund eines von der LNA durchgesetzten Exportstopps an den wichtigsten Verladehäfen der libyschen Küste drastisch zurückgegangenen sind, bewogen, alle Tanker aus dem Hafen von Tripolis vorerst zu verbannen und sie auf hohe See zu schicken.

Wegen der bedrängten Lage der GNA hat am 23. Februar Fathi Bashagha, Innenminister der GNA, im Interview mit der Wirtschaftnachrichtenagentur Bloomberg den USA Tripolis als Standort für das Hauptquartier des US-Afrikakommandos (AFRICOM) angeboten. Die großzügige Offerte Bashagas erfolgte als Reaktion auf die Bekanntgabe der Pläne des US-Verteidigungsministers Mark Esper, die militärische Präsenz der USA in Afrika zu reduzieren, um der "Bedrohung" durch Rußland in Europa und China in Asien besser begegnen zu können. Gegenüber Bloomberg versäumte es der libysche Innenminister nicht, das verstärkte Interesse Rußlands an den Rohstoffen Afrikas und die Teilnahme russischer Söldner am libyschen Bürgerkrieg zur Unterstützung der LNA zu erwähnen.

Die Hoffnungen der GNA auf eine Rettung durch die USA erscheinen illusorisch zu sein. Am 18. Februar hat Richard Norland, der US-Botschafter für Libyen, erstmals das Land besucht. In der Tat war es der erste Besuch eines US-Botschafters in Libyen, seit die letzte Person in diesem Amt, Christopher Stephens, 2012 beim Überfall auf das US-Konsulat in Benghazi zusammen mit mehreren Mitarbeitern von Aufständischen ermordet wurde. Bezeichnenderweise reiste Norland nicht nach Tripolis, sondern nach Benghazi, wo Hifter, Libyens neuer starker Mann in spe, sein Hauptquartier hat. Angeblich sprachen Hifter und Nordland über die Chancen für eine Feuerpause, doch das dürfte nicht der einzige Gesprächsgegenstand gewesen sein. Wann Norland der GNA seine Aufwartung machen wird, ist unbekannt.

Interessanterweise haben am 1. März die LNA und die Regierung Syriens einen militärischen Beistandspakt geschlossen, der die Eröffnung einer Botschaft des HoR in Damaskus vorsieht. Es wäre die erste diplomatische Vertretung Libyens in der syrischen Hauptstadt seit dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddhafis 2011. Die Annäherung zwischen Tobruk und Damaskus hängt mit der regionalen Aussöhnung zwischen dem "Regime" Bashar Al Assads und Saudi-Arabien, Ägypten und den VAE, die vor einiger Zeit ihre Hilfe für die islamistischen Rebellen in Syrien zurückgefahren haben, zusammen. Die Machthaber in Damaskus, Riad, Kairo, Abu Dhabi und Tobruk sind allesamt erklärte Gegner der Moslembruderschaft, die in der islamischen Welt vor allem von der Türkei und Katar gefördert wird. Beim Krisentreffen Erdogans mit Wladimir Putin am 5. März in Moskau haben die Präsidenten der Türkei eine Feuerpause zwischen Aufständischen und der Syrisch-Arabischen Armee (SAA) in der nordsyrischen Provinz Idlib vereinbart. Man kann davon ausgehen, daß auch Libyen Gegenstand des sechsstündigen Vier-Augen-Gesprächs im Kreml gewesen ist.

6. März 2020


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