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NAHOST/1698: Syrien - Bündnisse und Knoten... (SB)


Syrien - Bündnisse und Knoten ...


Der sogenannte Astana-Prozeß, die nach der Hauptstadt Kasachstans benannten, seit 2016 laufenden Bemühungen der Türkei, des Irans und Rußlands, gemeinsam ein Ende des Kriegs in Syrien zu finden, scheint gescheitert zu sein. Ursache ist eine Großoffensive, mit der die Syrisch-Arabische Armee (SAA) seit Anfang Dezember gegen die letzte bedeutende Rebellenhochburg im Gouvernement Idlib im Nordwesten Syriens vorgeht. Vor wenigen Tagen ist es zum ersten Mal seit Ausbruch des Kriegs 2011 zu Kämpfen zwischen regulären syrischen und türkischen Truppen mit Toten und Verletzen auf beiden Seiten gekommen. Ob dies zu einem Ende der strategischen Partnerschaft zwischen Rußland, dessen Luftwaffe die SAA in Idlib unterstützt, und der Türkei führt, muß sich noch zeigen.

2018 hatten sich Rußlands Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdogan auf einen Waffenstillstand in und um Idlib geeinigt. An der Grenze des Gouvernements hielt die SAA daraufhin ihre Offensive zur Rückeroberung aller Rebellengebiete an. Dafür sollte sich die Türkei um eine Entwaffnung oder zumindest ein Stillhalten der zahlreichen Dschihadisten kümmern. Entlang der Waffenstillstandslinie wurden reguläre türkische und syrische Soldaten postiert. Zu der Maßnahme hatte man damals vor allem deshalb gegriffen, um die Zivilbevölkerung in Idlib zu schonen. Dort waren in den letzten Jahren nicht nur Zehntausende Aufständische, sondern auch Hunderttausende Zivilisten geflohen. In dem kleinen Gouvernement, das etwa nur doppelt so groß wie das Saarland ist, halten sich aktuell drei Millionen Zivilisten, die Hälfte davon Kriegsflüchtlinge, sowie rund 50.000 Rebellen auf.

2019 hat sich unter den Rebellenformationen die Hai'at Tahrir asch Scham (HTS), Nachfolgeorganisation der Al-Kaida-nahen Al-Nusra-Front, mit brutaler Gewalt gegen alle Rivalen durchgesetzt. Kämpfer und kleinere Gruppen, die sich weigerten, die Führung der HTS zu akzeptieren bzw. einen Eid auf deren Fahne zu schwören, wurden eliminiert. Im ganzen Gouvernement herrscht deshalb strengstes Scharia-Gesetz. Idlib ist quasi zum Kalifat geworden, in dem die HTS-Fundamentalisten allen anderen Menschen mittels Gewaltandrohung ihre engstirnige Version des Islams aufzwingen. Die Chancen, daß die Türkei, als ehemalige Initiatorin und langjährige Unterstützerin des Aufstands, die Rebellen in Idlib zur Heimkehr in ihre Heimatländer bzw. zur Rückkehr ins Zivilleben bewegen könnte, waren gering bis nicht-existent. Dennoch haben Rußland und die Regierung Baschar Al Assads Ankara mehr als ein Jahr Zeit gegeben, eine Lösung für das Idlib-Problem zu finden.

Als im vergangenen Herbst die Überfälle und Anschläge der HTS in der Region südlich und östlich von Idlib wieder zunahmen, sahen sich Damaskus und Moskau zum Handeln gezwungen. Seit Wochen liefern sich deshalb SAA-Soldaten mit Hilfe von Hisb-Allah-Milizionären aus dem Libanon, iranischen Militärberatern und der russischen Luftwaffe schwere Kämpfe mit den Rebellen. Die SAA setzt mit drastischen Mitteln ihre Offensive durch, greift aus nordöstlicher und südlicher Richtung gleichzeitig an und hat es in den letzten Tagen geschafft, die wichtigste Verbindungsstraße, die M5, die Damaskus im Süden mit der nördlichen Handelsmetropole Aleppo verbindet und östlich an Idlib vorbeiläuft, von Stellungen der Aufständischen zu befreien. Zwischen dem 28. Januar und dem 8. Februar hat die SAA die Kleinstädte Maarat Al Numan, Sarakib und Al Eis, die allesamt an der M5 liegen und wo seit Jahren die schwarzen Fahnen von Al Kaida, Al Nusra, HTS und wie sie alle heißen wehten, zurückzuerobern.

Vor den schweren Kämpfen in Idlib sind inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen auf der Flucht. Die Türkei, die bereits 3,5 Millionen syrischer Kriegsflüchtlinge beherbergt, hält die Grenze zu Idlib geschlossen - aber nur in nördlicher Richtung. Seit Tagen überqueren Hunderte von Panzern und Panzerfahrzeugen die syrisch-türkische Grenze in südlicher Richtung. Ankara schickt sich an, seinen eingeschlossenen Soldaten an der alten Waffenstillstandslinie zu Hilfe zu kommen. US-Außenminister Mike Pompeo hat den türkischen Streitkräfte das "Recht auf Selbstverteidigung" in einem fremden Land, wo sie sich illegal aufhalten, öffentlich zuerkannt. Berichten zufolge arbeitet die türkische Armee mit den Rebellen in Idlib eng zusammen und stattet diese mit größeren Mengen an Munition und modernen Waffen aus. Auf Twitter sind bereits erste Bilder zu sehen, wie HTS-Dschihadisten amerikanische TOW-Antipanzerraketen abfeuern. Von mindestens einem abgeschossenen SAA-Hubschrauber ist die Rede.

Erdogan begründet die türkische Intervention vor allem mit dem Schutz der Zivilbevölkerung; UN-Angaben zufolge sind in den letzten Wochen in Idlib mehr als 350 Zivilisten ums Leben gekommen. Der Türkei geht es jedoch vor allem darum, ihren Einfluß in Syrien weiter geltend zu machen. Vor allem die Stadt Idlib soll Ankara als Faustpfand für spätere Verhandlungen über die Nachkriegsordnung erhalten bleiben. Hinzu kommt, daß niemand weiß, was die Rebellen, sollten sie aus Idlib vertrieben werden, alles in der Türkei anstellen könnten. Vielleicht haben die türkischen Behörden deshalb seit Anfang des Jahres damit begonnen, Hunderte kriegserprobter Gotteskrieger aus Syrien nach Libyen zu verschiffen, damit sie dort der mit Ankara verbündeten Regierung von Fayiz Al Sarradsch, die sich derzeit in Tripolis unter der Belagerung der Truppen des selbsternannten Feldmarschalls Khalifa Hifter befindet, zur Seite stehen können.

Letztes Jahr haben die türkischen Streitkräfte einen Vorstoß unternommen, eine eigene Pufferzone im Norden Syriens, östlich von Aleppo und dem Euphrat, zu etablieren. Ziel Erdogans ist es dort, die Autonomieregion unter dem Schutz der Syrischen Demokratischen Kräfte und der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekineyen Parastina Gel) zu zerschlagen und die kurdische Bevölkerung im Zuge einer ethnischen Säuberung zu vertreiben. Ankara wirft der YPG vor, eine Unterorganisation der "terroristischen" kurdischen Arbeiterpartei PKK Abdullah Öcalans zu sein. Damals zogen sich SDF und YPG, die seit 2014 an der Seite der USA gegen den IS kämpfen, aus der unmittelbaren Grenzregion zur Türkei zurück. Seitdem befinden sie sich weiter südlich nahe jenen Stützpunkten im Gouvernement Deir Ez Zor, von wo aus US-Spezialstreitkräfte im expliziten Auftrag ihres Präsidenten Donald Trump die Kontrolle über Syriens wichtigste Ölquelle behalten sollen. Bei einer eventuellen Vertreibung aus Idlib kämen die HTS-Milizionäre möglicherweise in die türkische Pufferzone weiter östlich. Dort könnten sie sich als Religionspolizei, wie man sie aus Saudi-Arabien kennt, betätigen.

14. Februar 2020


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