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NAHOST/1660: Jemen - im Schatten der Lügen ... (SB)


Jemen - im Schatten der Lügen ...


Eine Auffälligkeit des Krieges im Jemen ist das lange Festhalten der westlichen Medien an der Zahl von 10.000 Todesopfern. Im März 2015 haben Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate den Krieg vom Zaun gebrochen, um die pro-iranischen Huthi-Rebellen, die Ende 2014 den jemenitischen Interimspräsidenten Abd Rabbu Mansur Hadi gestürzt hatten, in die Schranken zu weisen. Bereits nach etwa zwölf Monaten war die Zahl von zehntausend Todesopfern erreicht, an der man seither ungeachtet der Tatsache eisern festhält, daß das Hilfswerk der Vereinten Nationen im Jemen wegen Hungersnot und Cholera-Epidemie längst die "schwerste humanitäre Krise weltweit" ausgerufen hat. Die auffällige Weigerung weiter Teile der westlichen Presse und Politik, das große Abschlachten im Jemen beim Namen zu nennen und die Zahl der Todesopfer entsprechend des Kriegsverlaufs laufend nach oben zu korrigieren, kann man nur als Verharmlosung aus Rücksicht auf die Despoten in Riad und Abu Dhabi verstehen, die in den vergangenen vier Jahren zu den wichtigsten ausländischen Kunden der Rüstungsindustrien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands avanciert sind.

Verläßlichere, erschreckende Zahlen über das, was sich im Armenhaus Arabiens abspielt, liefert die 68seitige Studie "Assessing the Impact of War on Development in Yemen", welche die Universität von Denver, Colorado, im Auftrag der Vereinten Nationen erstellt und vor wenigen Tagen veröffentlicht hat. Aus der Studie geht hervor, daß aufgrund der laufenden Entwicklung bis Ende 2019 die Zahl der Personen, die wegen des Krieges im Jemen gewaltsam zu Tode gekommen sind, bei 102.000 liegen wird. Die Zahl der Menschen, die indirekt durch den Konflikt das Leben verloren haben, sei es aufgrund von Hunger, Krankheit oder schlechter Gesundheitsversorgung infolge der Bombardierung der staatlichen Infrastruktur durch saudische und emiratische Kampfjets bzw. infolge der von Riad und Abu Dhabi verhängten Wirtschaftsblockade des von den Huthis kontrollierten Nordwesten des Jemens, wird 131.000 erreicht haben, so die Studie. Zusammen ergibt sich eine Gesamtzahl von 230.000 Todesopfern. Somit dürfte der Jemen bis Ende dieses Jahres 0,8 Prozent seiner Bevölkerung von insgesamt 30 Millionen Menschen infolge des Konflikts verloren haben.

Die Mehrzahl der Todesopfer des Jemenkrieges sind Kinder unter fünf Jahren. Die Autoren der Studie kommen zu der Schlußfolgerung, daß die fünf Kriegsjahre für den Jemen einen wirtschaftlichen Schaden von 89 Milliarden Dollar angerichtet haben. Bei der Vorstellung des Denver-Berichts erklärte UN-Sprecher Stephane Dujarric: "Der laufende Konflikt im Jemen hat die gesellschaftliche Entwicklung dort bereits um 21 Jahre zurückgeworfen. Die Studie warnt vor den exponentiell wachsenden Auswirkungen des Konflikts auf die gesellschaftliche Entwicklung. Sie prognostiziert, daß der gesellschaftliche Fortschritt, sollte der Krieg 2022 beendet werden, um 26 Jahre - fast eine Generation - zurückgeworfen sein wird."

Selbst die Hadi-Regierung, die nach der Vertreibung aus der Hauptstadt Sanaa vor vier Jahren in der Hafenmetropole Aden residiert, kann nicht umhin, die verheerenden Folgen des Kriegs zu konstatieren. Am 1. Mai veröffentlichte Ebthaj Al-Kamal, Ministerin für Arbeit und Soziales, Zahlen, denen zufolge seit 2015 fünf Millionen Menschen im privaten Sektor - 60 Prozent der dort Beschäftigten - ihren Arbeitsplatz und damit ihren Lebensunterhalt sowie den ihrer Familien verloren haben. Al-Kamal beklagte die Instabilität infolge des Krieges, welche viele in- und ausländische Unternehmen dazu veranlaßt hat, ihre geschäftlichen Aktivitäten im Jemen einzustellen. Zu den zahlreichen Angriffen saudischer und emiratischer Kampfjets auf industrielle und landwirtschaftliche Betriebe sowie auf staatliche Infrastruktur wie Klärwerke und Wasseraufbereitungsanlagen äußerte sich die Ministerin nicht.

Dabei haben am 28. April die Fliegerhelden Riads und Abu Dhabis ihr Können erneut unter Beweis gestellt. Bei einem Luftangriff in der Provinz Dhali töteten vermutlich saudische Kampfjets sieben Zivilisten. Bei den Opfern, darunter Frauen und mindestens ein Kind, handelt es sich um eine Gruppe Menschen, die nach einem Einkaufsausflug im Vorfeld des Fastenmonats Ramadan auf der Landstraße in zwei Autos auf dem Heimweg war. Der Ort des grausamen Geschehens liegt 165 Kilometer von Sanaa und damit weit weg von der Front, an der Huthi-Rebellen und Regierungstruppen einander bekämpfen. Ahmed, der Neffe eines der Todesopfer, beschrieb gegenüber der linken US-Onlinezeitung MintPress News die schreckliche Szene, welche sich den Teilnehmern der anschließenden Bergungsaktion bot: "Wir sammelten das, was von ihren zerstückelten Leichen neben dem Auto übriggeblieben war. Irgendwelche Lebensmittel wie Reis, Pasta und Nudeln mischten sich mit dem Blut der Opfer, den Glassplittern und Metallresten."

6. Mai 2019


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