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NAHOST/1626: Istanbul - Auge um Auge ... (SB)


Istanbul - Auge um Auge ...


Das Verschwinden des prominenten saudischen Journalisten und Exilanten Jamal Khashoggi nach einem Besuch im saudischen Konsulat in Istanbul am 2. Oktober schlägt international hohe Wellen. Die türkische Polizei hat öffentlich erklärt, sie gehe von einem Mord in der diplomatischen Vertretung Riads am Bosporus aus. Präsident Recep Tayyip Erdogan verlangt von den saudischen Behörden Aufklärung; diese wiederum behaupten, nichts über den Verbleib Khashoggis zu wissen. Sollten sich die Hinweise auf die Ermordung Khashoggis bestätigen, hat man es dabei jedenfalls mit einem unerhörten Affront zu tun, den die Türken über kurz oder lang dem Haus Saud heimzahlen werden. Seit dem Ersten Weltkrieg und der Teilnahme der arabischen Stämme am Krieg der Briten gegen das Osmanische Reich haben sie eine Rechnung mit den Saudis offen. Früher oder später wird das Neo-Osmanentum dafür sorgen, daß das von Großbritannien und den USA allein wegen seines Ölreichtums am Leben gehaltene künstliche Gebilde Saudi-Arabien von der Landkarte verschwindet.

Der in den USA ausgebildete 58jährige Wirtschaftswissenschaftler Khashoggi hat während seiner beruflichen Laufbahn als Journalist viel geleistet, darunter als Auslandskorrespondent in Afghanistan, im Sudan, in Algerien und Kuwait gearbeitet und mehrere Interviews mit Osama Bin Laden geführt. Er war zwischenzeitlich der Chefredakteur der Zeitung Al Watan sowie Medienberater von Prinz Turki Al Faisal, als dieser während der Ära George W. Bushs in den USA Botschafter Saudi-Arabiens in Washington war. Khashoggi galt als Insider mit Verbindung zu Reformkräften innerhalb der Königsfamilie wie dem bereits erwähnten kosmopolitischen und hochgebildeten Prinz Turki. Wegen Kritik am saudischen Klerus, vor allem an dessen rigider Auslegung des Korans, geriet Khashoggi im Laufe der Jahre mehrmals in die Schußlinie. Deshalb mußte er zum Beispiel 2010 die Leitung von Al Watan abgeben.

Im selben Jahr nahm Khashoggi das Angebot des saudischen Multimilliardärs Al Walid Bin Talal an, die Leitung des neuen Fernsehnachrichtensenders Al Arab mit Sitz in Bahrain zu übernehmen. Sehr zur Verärgerung der absolutistischen Herrscher in Riad unterstützte Al Arab 2011 unter der Führung Khashoggis offen den sogenannten arabischen Frühling in Tunesien, Ägypten, Bahrain, im Jemen, im Irak, in Libyen und Syrien. Tatsächlich machte Khashoggi keinen Hehl daraus, daß er eine gesellschaftliche Erneuerung in den Ländern des Nahen Ostens befürwortete, selbst wenn diese von der Moslembruderschaft angeführt werde. Seither geht ein Riß durch die arabische Welt. Mit Hilfe Israels haben Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate 2013 den demokratischen Aufbruch in Ägypten ausradiert, den von der Türkei und Katar protegierten Präsidenten Mohammed Mursi von der Moslembruderschaft verhaften lassen und General Fatah Al Sisi als Diktator eingesetzt.

In Bahrain haben im Frühjahr 2011 saudische Panzer die Reformbewegung niedergewalzt. Seit dem Sturz Muammar Gaddhafis im Herbst desselben Jahres liefern sich Doha und Ankara auf der Seite der gemäßigten Islamisten in und um Tripolis mit Riad und Abu Dhabi und deren Protégé "Feldmarschall" Khalifa Hifter mit seiner libyschen Nationalarmee (LNA) im Osten einen blutigen Machtkampf. Nach dem Tod des saudischen Königs Abdullah im Januar 2015 kam dessen fast 80 Jahre alter Bruder Salman an die Macht. Zwei Monate später hat Salman seinen dreißigjährigen Sohn zum neuen Verteidigungs- und Wirtschaftsminister ernannt, worauf dem Emporkömmling nichts Besseres einfiel, als einen Krieg im Nachbarland Jemen anzuzetteln, um die demokratischen Kräfte auch dort in die Schranken zu weisen. 2017 wurde Mohammed Bin Salman, auch MbS genannt, Thronfolger - eine umstrittene Personalie, in deren Verlauf er den bisherigen Anwärter, den früheren Innenminister Prinz Muhammed Bin Naif, unter Hausarrest stellte.

Khashoggi, der anfangs die ehrgeizigen Reformpläne von MbS begrüßt hatte und sie später als Luftnummer kritisierte, setzte sich im September 2017 rechtzeitig ab und ließ sich in der US-Hauptstadt nieder, wo er unter anderem als Kolumnist für die einflußreiche Washington Post sowie als Gastkommentator für die Sender BBC, Al Jazeera und Dubai TV arbeitete. Durch die Verlegung seines Wohnorts entging Khashoggi der großen Razzia im November desselben Jahres, als MbS die 200 reichsten Männer Saudi-Arabiens in das Ritz Carlton in Riad einsperrte, über Wochen foltern ließ und erst wieder in die Freiheit entließ, als die Aristokraten dem Staat bis zu einem Drittel ihres Vermögens überließen. Zu den mächtigen Männern, die damals wie die Insassen des US-Sonderinternierungslager Guantánamo Bay behandelt wurden, gehörte Khashoggis früherer Arbeitgeber, der einstige Eigentümer von Al Arab, Al Walid Bin Talal.

Die abscheulichen Vorgänge im Ritz Carlton haben Khashoggis Kritik an MbS' erpresserischen Herrschaftsmethoden verstärkt. Er setzte sich in seiner Washington-Post-Kolumne sowie als Fernsehmoderator für Oppositionelle wie Frauenrechtlerinnen, gemäßigte Islamgelehrte und Politreformer ein, die in Saudi-Arabien einen zunehmend schweren Stand haben. Zudem prangerte er den blutigen Krieg Riads im Jemen an, dessen Ende noch immer nicht in Sicht ist, wie auch die diplomatische und wirtschaftliche Blockade, die Saudi-Arabien 2017 gegen das Nachbarland Katar verhängte. Bekanntlich drohte im Frühjahr 2017 die saudische Armee in Katar einzumarschieren, doch wurde sie zuletzt durch die Entscheidung von Präsident Erdogan, ein größeres Kontingent türkischer Soldaten nach Doha zu verlegen, davon abgehalten.

Khashoggi hatte sich während seiner Zeit im Exil in die Türkin Hatice Cengiz verliebt. Die beiden wollten heiraten, weshalb er am 28. September das saudische Konsulat in Istanbul besuchte, um seine Papiere in Ordnung zu bringen. Weil der Vorgang nicht auf Anhieb verwaltungstechnisch erledigt werden konnte, gab man im Konsulat Khashoggi einen neuen Termin am 2. Oktober um 13 Uhr. Freunde Khashoggis rieten ihm dringend davon ab, abermals ins Konsulat zu geben. Er entgegnete jedoch, der saudische Staat würde es niemals wagen, auf türkischem Boden etwas gegen ihn zu unternehmen. Nichtsdestotrotz ließ er seine Verlobte Cengiz draußen vor dem Gebäude mit dem Auftrag auf ihn warten, sich bei Yasin Aktay, einem ehemaligen Abgeordneten der regierenden AK-Partei in der Türkei und politischen Weggefährten Erdogans zu melden, sollte er nicht wieder erscheinen. Dies hat sie nach vier Stunden getan.

Inzwischen ist bekannt, daß am Vormittag des 2. Oktober 15 Männer aus Saudi-Arabien mit zwei Privatmaschinen in Istanbul landeten und direkt zum Konsulat fuhren. Etwa eine Stunde, nachdem Khashoggi das Gebäude betreten hatte, verließen die mutmaßlichen Mitglieder eines Killerkommandos das Gebäude in sechs Wagen. Sie hatten mehrere Koffer bei sich, die als Diplomatengepäck am Flughafen vor dem Rückflug nach Saudi-Arabien nicht kontrolliert werden konnten. Die türkische Polizei vermutet, daß sich die Leichenteile des ermordeten Khashoggi in diesen Koffern befanden. In Saudi-Arabien wird das Verschwinden des populären Journalisten als staatliche Einschüchterungsmaßnahme verstanden. Ob sie die von MbS beabsichtigte Wirkung zeitigt, muß sich zeigen.

Die mutmaßliche Ermordung Khashoggis hat die Regierungen des Westens, allen voran der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands, deren Rüstungsunternehmen mit dem Völkermord im Jemen einen Reibach machen, in beträchtliche Erklärungsnot gebracht. Einige Beobachter glauben, MbS habe Khashoggi nur deswegen so spektakulär und provokant beseitigen können, weil er sich der Unterstützung von US-Präsident Donald Trump und dessen Schwiegersohn Jared Kushner, denen er hilft, das "palästinensische Problem" Israels zu erledigen, sicher ist. MbS könnte den Bogen jedoch überspannt und mit seinen chaotischen Handlungen die Geduld der CIA-Führung, die einst bestens mit Prinz Muhammed Bin Naif zusammenarbeitete, überstrapaziert haben.

Auffällig ist jedenfalls, daß Prinz Mohammeds einst größter Bewunderer in den US-Medien, der einflußreiche New-York-Times-Kolumnist Thomas Friedman, in seinem Beitrag für die Gray Lady am 9. Oktober MbS vorgeworfen hat, in Sachen Staatslenkung das "China-Modell" zu verfolgen, was ein deutliches Indiz für die sinkenden Sympathiewerte Mohammeds in Washington ist. Kämen noch vergeltungsmotivierte Intrigen Ankaras hinzu, könnte demnächst der "Regimewechsel" in Riad anstehen. Bereits am 4. Oktober hat der außenpolitische Analyst Daniel Lazare in einem Artikel für Consortiumnews.com prognostiziert, daß sich Saudi-Arabien bald als "nächster gescheiterter Staat des Nahen Ostens" erweisen werde.

9. Oktober 2018


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