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NAHOST/1459: Militärintervention der NATO in Libyen rollt an (SB)


Militärintervention der NATO in Libyen rollt an

"Unterstützung" für Libyen dürfte ganz Nordafrika in Brand setzen


Nach dem Krisentreffen am 16. Mai in Wien, bei dem die Außenminister der USA, Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs und Italiens - John Kerry, Frank-Walter Steinmeier, Philip Hammond, Jean-Marc Ayrault und Paolo Gentiloni - im Namen der "internationalen Gemeinschaft" das Government of National Accord (GNA) in Tripolis um den Geschäftsmann Fadschez Al Sarradsch als einzige legitime Regierung Libyens anerkannt haben, steht der geplanten Intervention der NATO in dem krisengeplagten nordafrikanischen Land praktisch nichts mehr im Weg. Begründet wird die Militäraktion mit der angeblichen Notwendigkeit, den "Menschenschleppern" das Handwerk zu legen und den Flüchtlingsstrom nach Europa zum Erliegen zu bringen. Mit der ausländischen Invasion wird Libyen vom Tor nach Europa für die Flüchtlinge in das Tor für die westlichen Militärs, sich in Afrika auszubreiten und die Ausbeutung des Kontingents durch die eigenen Großkonzerne nach rabiater als bislang voranzutreiben, umfunktioniert.

Schon länger bereiten die NATO-Großmächte ihre Einmischung in Libyen vor. Seit dem Überfall auf das US-Konsulat 2012 in Benghazi und der Ermordung von Botschafter Christopher Stephens und drei seiner Mitarbeiter durch die Gruppe Ansar Al Scharia lassen die Amerikaner regelmäßig Drohnen über Libyen kreisen, die hauptsächlich zwecks Beobachtung unterwegs sind, aber auch hin und wieder eine Rakete auf mutmaßliche Islamisten abfeuern. Anfang Dezember gab die Regierung in Paris bekannt, in Reaktion auf die "Terroranschläge" am 13. November in der französischen Hauptstadt, die 130 Menschen das Leben kosteten, hätten mehrere Flugzeuge vom Flugzeugträger Charles de Gaulle aus am 20. und 21. November Spähmissionen in Sirte, der Hochburg des Islamischen Staats (IS) in Libyen, und Benghazi durchgeführt.

Am 25. März berichtete die Onlinezeitung Middle East Eye unter der Überschrift "Revealed: Britain and Jordan's secret war in Libya", britische und jordanische Spezialstreitkräfte hätten in Libyen bereits mit verdeckten Operationen gegen den IS begonnen. Grundlage des brisanten MEE-Artikels soll eine ausführliche Präsentation gewesen sein, die der jordanische König Abdullah im Januar hinter verschlossenen Türen in Washington einer Gruppe von Kongreßmitgliedern, darunter John McCain, der einflußreiche republikanische Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Senats, gegeben hatte. Am 13. Mai gab die Washington Post bekannt, daß US-Spezialstreitkräfte seit Frühling 2015 in Libyen seien. Ende vergangenen Jahres hätten sie nahe Misrata und Benghazi zwei geheime Außenposten eingerichtet, von wo aus man Verbindung mit den verschiedenen Milizen aufnehme und versuche, sie für eine Teilnahme am Kampf gegen den IS zu gewinnen.

Spärlichen Berichten der britischen Presse zufolge sollen Ende April britische und italienische Spezialstreitkräfte, die irgendwo in Libyen mit Fahrzeugen unterwegs waren, in einen IS-Hinterhalt geraten sein. Bei dem geheimnisumwitterten Vorfall sollen auch mehrere italienische Militärs ums Leben gekommen sein. Ob das der Grund ist, warum entgegen bisheriger Verlautbarungen Italien die Führung der geschätzte 6000 Mann starken NATO-Interventionstruppe doch nicht übernehmen will? Jedenfalls hieß es am Rande des Krisentreffens in Wien, anstelle Italiens solle Nepal bei der geplanten U. N. Support Mission in Libya (UNSMIL) mit 5000 Mann das größte Truppenkontingent bereitstellen.

In Rom scheint eine starke Skepsis bezüglich der bisherigen Gestaltung der internationalen "Unterstützungsmission" vorzuherrschen. Ursprünglich sollte die mit Hilfe des UN-Sondergesandten Martin Kobler im März in Tunesien aus der Taufe gehobene Regierung der nationalen Einheit (GNA) von den zwei bereits existierenden Regierungen - dem seit dem Sturz Muammar Gaddhafis 2011 im westlichen Tripolis herrschenden, von Islamisten dominierten Allgemeinen Volkskongreß (General National Congress - GNC) und dem 2014 vom Volk gewählten, im östlichen Tobruk tagenden Repräsentantenhaus (House of Representatives - HoR) - anerkannt werden. Aufgrund innenpolitischer Kontroversen ist es dazu bis heute nicht gekommen. Statt dessen sind Premierminister Al Sarradsch und sechs Kabinettsmitglieder mit ausländischer Hilfe Ende März per Schiff in Tripolis gelandet, haben sich dort in einem Marinestützpunkt einquartiert und seither die Kontrolle über die meisten Ministerien übernommen. Der GNC und die ihn unterstützende Miliz, libysche Dämmerung, haben zunächst den taktischen Rückzug angetreten und der GNA die Hauptstadt weitgehend überlassen.

Das HoR in Tobruk hat der GNA deshalb seine Gefolgschaft bislang verweigert, weil dies der Entmachtung seines wichtigen Mannes, General Khalifa Hifter, der den Befehl über die Libysche Nationalarmee (LNA) innehat, gleichkäme. Sämtliche Bemühungen der letzten Jahre bezüglich einer Konsolidierung der staatlichen Streitkräfte und der verschiedenen Milizen Libyens zu einer einheitlichen Armee unter der Kontrolle der Regierung in Tripolis sind bisher an der Person des Ex-CIA-Verbindungsmanns Hifter gescheitert, der nicht nur mit dem IS und Ansar Al Scharia auf Kriegsfuß steht, sondern auch den "gemäßigten" Islamisten vom GNC ein Dorn im Auge ist. Ungeachtet des UN-Waffenembargos wird Hifters Armee von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten militärisch unterstützt. Am 16. Mai berichtete der Londoner Guardian unter Verweis auf Mattia Toaldo vom European Council on Foreign Relations in Brüssel, daß inzwischen auch die französischen Spezialstreitkräfte mit Hifters LNA zusammenarbeiteten.

Die exponierte Rolle, die Hifter, der Vertrauensmann des ägyptischen Diktators General Abdel Fattah Al Sisi, beim bevorstehenden Anti-IS-Kreuzzug in Libyen offenbar spielen wird, liefert eine weitere mögliche Erklärung für den stark gesunkenen Einsatzwillen der Italiener. Schließlich hat Kairos stümperhafter Versuch, die bestialische Ermordung des italienischen Studenten Giuilo Regeni Ende Januar in Kairo durch den ägyptischen Inlandgeheimdienst zu vertuschen, die diplomatischen Beziehungen zwischen Italien und Ägypten nachhaltig gestört. Währenddessen arbeiten die Amerikaner mehrgleisig, wie die Einrichtung von geheimen Basen bei Misrata und Benghazi, von wo aus die US-Spezialstreitkräfte mit Hifters Leuten zusammenarbeiten dürften, zeigt. Die Milizionäre aus Misrata gelten als die schlagkräftigsten im ganzen Land. Mit ihrer Hilfe sowie der von Hifters LNA könnte man von Westen und Osten her den vom IS kontrollierten, 300 Kilometer langen Küstenstreifen um die Stadt Sirte in die Zange nehmen.

Die "Terrormiliz" IS bereitet sich ihrerseits auf den kommenden Showdown vor. Westlichen und arabischen Medienberichten zufolge hat sich in den letzten Wochen eine nicht geringe Anzahl islamistischer Dschihadisten aus dem ägyptischen Sinai sowie von Boko-Haram-Kämpfern aus Nigeria nach Sirte begeben, um das "Kalifat" zu verteidigen. Gleichzeitig verstärkt der IS seine Rekrutierungsbemühungen in Tunesien und Algerien, um auch die beiden Nachbarstaaten Libyens zu destabilisieren. Jedenfalls darf man sich auf Zustände in Libyen gefaßt machen, die bald denen in Afghanistan, Syrien, Somalia und im Irak ähneln werden. Der Umstand, daß König Abdullah bei der oben erwähnten Unterredung mit der Führung von Repräsentantenhaus und Senat in Washington im Januar vom "Dritten Weltkrieg" gesprochen haben soll, dessen Schauplätze sich von Kalifornien bis Indonesien erstreckten, läßt das Schlimmste befürchten.

17. Mai 2016


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