Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1358: Der Norden Sinais wird zu einem Kriegsgebiet (SB)


Der Norden Sinais wird zu einem Kriegsgebiet

Islamischer Staat trägt den Dschihad auf die Sinai-Halbinsel



Mit einem koordinierten Angriff auf Einrichtungen der ägyptischen Streitkräfte in drei Städten des Nordsinais am 29. Januar, mit mehr als 30 Toten und Dutzenden Verletzten, haben Islamisten dort die Behauptung der Regierung in Kairo, am Nil einen erfolgreichen Antiterrorkampf zu führen, als leeres Gerede offenbart. Bloßgestellt dürfte sich vor allem Ägyptens Präsident, General a. D. Abdel Fatah Al Sisi, gefühlt haben, der sich im Juli 2013 mit brutalster Gewalt an die Macht geputscht hatte. (Die "Stabilität", die Al Sisi dabei seinen Landsleuten versprach, hat Tausende von Oppositionellen das Leben gekostet; weitere Tausende sind einer riesigen Verhaftungswelle zum Opfer gefallen, darunter Mohammad Mursi, der erste frei gewählte Präsident Ägyptens, und die gesamte Führung der Moslembruderschaft, welche die Regierung in Kairo inzwischen als "terroristische Organisation" verboten hat). Als Reaktion auf die blutigen Ereignisse im Norden der Sinai-Halbinsel hat Al Sisi seinen Besuch in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba abgebrochen, wo er zusammen mit den anderen Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union (AU) die Entsendung einer 7.500 Mann starken Interventionsarmee zur Bekämpfung der "terroristischen" Boko Haram im Norden Nigerias und in den angrenzenden Ländern Tschad, Niger und Kamerun beschließen sollte, und ist unverzüglich nach Kairo zurückgekehrt.

Nach dem Rücktritt des langjährigen Diktators Hosni Mubarak im Februar 2011 angesichts wochenlanger Massenproteste war die Sicherheitslage im Norden Sinais außer Kontrolle geraten. An der Grenze des bis dahin abgesperrten Gazastreifens wurden die Verhältnisse unübersichtlich. In Gaza regiert seit 2007 die Hamas-Bewegung, die vor Jahrzehnten als Ableger der ägyptischen Moslembruderschaft gegründet worden war. Die Bemühungen der Moslembruderschaft und Mursis nach ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen Ende 2011, Anfang 2012 und der Präsidentenwahl im Juni 2012 die Beziehungen zwischen Ägypten und Gaza zu normalisieren, stießen in Israel auf erbitterten Widerstand. Tel Aviv verlangte von Kairo die Beibehaltung der Gaza-Blockade und versuchte in diesem Zusammenhang die Verpflichtungen Ägyptens nach dem Camp-David-Abkommen aus dem Jahr 1978 geltend zu machen.

Zwischen Gaza und Ägypten nahmen jedenfalls der Handel und der Personenverkehr, ob legal am Grenzübergang Rafah oder illegal durch die unterirdischen Tunnel, zunächst sprunghaft zu. Zu vereinzelten Angriffen auf das ägyptische Militär kam es, wobei unklar blieb, ob dahinter Schmugglerbanden, islamistische Kräfte oder Stammeskrieger der Beduinen steckten. Letztere beklagen seit Jahren ihre Benachteiligung durch die ägyptische Zentralregierung und die Tatsache, daß sie von der Teilnahme am Tourismusgeschäft im Badeort Scharm El-Scheich und auf dem umliegenden Küstenstreifen im Südosten der Halbinsel praktisch ausgeschlossen werden. Als Sisi und die Generäle Mursi stürzten, führten sie die steigende Gewalt auf der Sinai-Halbinsel als Rechtfertigung an und behaupteten, die Moslembruderschaft und Hamas wollten zusammen die ganze Region destabilisieren. Beide Organisationen haben den Vorwurf energisch bestritten.

Die Entmachtung von Mursi und die Verhängung des Ausnahmezustands hat jedenfalls nicht zur Beruhigung der Lage im Sinai geführt. Das Gegenteil ist der Fall. Seitdem hat die bis dahin unbekannte islamistische Gruppe Ansar Bait Al-Maqdis (Unterstützer Jerusalems) die Erdgaspipeline aus Ägypten nach Israel mehrmals in die Luft gesprengt, Militärposten und Polizeiwachen angegriffen und sogar einen Selbstmordanschlag auf einen Touristenbus verübt. Die bislang tödlichste Einzelaktion der Bait Al-Maqdis war der Doppelangriff auf Gebäude der ägyptischen Armee in den beiden nahe Rafah gelegenen Städten Al-Arisch und Scheich Zuweid im Oktober 2014. 33 Militärangehörige wurden dabei getötet. Daraufhin hat die Regierung in Kairo die Grenze nach Gaza geschlossen, das Kriegsrecht samt nächtlicher Ausgangsperre über dem Nordsinai verhängt und begonnen, alle Häuser entlang der Grenze zum Gazastreifen bis 500 Meter nach Ägypten hinein zu zerstören, um den Schmugglern das Handwerk zu legen. Mitte November haben die Mitglieder von Bait Al-Maqdis Videoaufnahmen von den Angriffen ins Internet gestellt, sich dadurch zum Doppelanschlag bekannt und gleichzeitig Abu Bakr Al Baghdadi, Kalif des Islamischen Staates (IS), der derzeit im Irak und Syrien einen Mehrfrontenkrieg gegen die Armeen Bagdads, Baschar Al Assads sowie eine von den USA angeführten Antiterrorallianz führt, Treue geschworen.

Im Namen von IS war es also, daß Bait Al-Maqdis am 29. Januar mit Autobomben, Mörsern und Granaten einen noch verheerenderen Angriff als vor vier Monaten durchführte. Angegriffen wurden insgesamt sechs Ziele in den Städten Al-Arisch, Scheich Zuweid und im ägyptischen Teil von Rafah. Zu den Zielen gehörten der Stützpunkt Al-Zohor der 101. Bataillon sowie ein dem Firmenimperium der ägyptischen Armee gehörendes Hotel. An diesen beiden Orten soll es die meisten Toten gegeben haben, deren Anzahl von den ägyptischen Behörden mit 32, vom arabischen Nachrichtensender Al Jazeera mit 45 und von Bait Al-Maqdis selbst mit "Hunderten" angegeben wurde.

Als Reaktion auf den Vorfall hat Präsident Al Sisi General Omar Askar, bis dahin Kommandeur der dritten Armee, zum Generalleutnant befördert und zum Oberbefehlshaber eines neuen vereinheitlichten Antiterrorkommandos für die Sinai-Halbinsel ernannt. Bei einer Fernsehansprache machte Al Sisi Ex-Präsident Mursi und die Moslembruderschaft für die Bluttat verantwortlich, ohne dabei den geringsten Beweis für diese These zu präsentieren. Um Entschlossenheit zu zeigen, erklärte sich Ägyptens Militärmachthaber bereit "zu sterben", wenn das der Preis für den Sieg im Antiterrorkampf sein sollte.

Man muß leider davon ausgehen, daß sich der Konflikt zwischen Militär und Opposition in Ägypten im allgemeinen und auf der Sinai-Halbinsel im besonderen noch weiter zuspitzen wird. Darauf deutet die Todesstrafe hin, die ein Gericht in Kairo am 2. Februar gegen 183 Mitglieder der Moslembruderschaft wegen ihrer angeblichen Beteiligung am Überfall am 13. August 2013 auf eine Polizeistation in Kerdassa, nahe der ägyptischen Hauptstadt, verhängt hat. Damals waren 13 Polizisten ums Leben gekommen. Am darauffolgenden Tag hatten Al Sisis Soldaten zwei große Protestlager der Moslembruderschaft in Kairo und Gizeh mit Waffengewalt aufgelöst und Hunderte - manche Beobachter sprechen von mehreren Tausend - Menschen getötet. Am gestrigen 1. Februar hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International den ägyptischen Sicherheitsapparat bezichtigt, bei den jüngsten Demonstrationen anläßlich des vierten Jahrestages des Rücktritts von Mubarak 27 Menschen auf offener Straße getötet zu haben.

2. Februar 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang