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NAHOST/1308: Friedensbotschafter Tony Blair predigt Krieg (SB)


Friedensbotschafter Tony Blair predigt Krieg

Großbritanniens Ex-Premierminister kommt vom Manichäismus nicht los



Tony Blair hat in einer aufsehenerregenden Rede, die er am 23. April im Londoner Büro der Nachrichtenagentur Bloomberg hielt, die NATO, Rußland und China zum Krieg gegen den "islamischen Extremismus" aufgerufen, weil dieser ausgerottet werden müsse, bevor er die Menschheit in die Barbarei zurückbefördere. Blair, der gleich nach seinem Ausscheiden als britischer Premierminister 2007 Sonderbeauftragter des Nahost-Quartetts aus EU, Rußland, Vereinten Nationen und USA wurde, sollte sich eigentlich um Frieden in der Region zwischen Persischem Golf und Mittelmeer bemühen. Statt dessen entwirft er manichäische Untergangszenarien und predigt die Übernahme "liberal-demokratischer" Gesellschaftsnormen als Allheilmittel für die Länder der islamischen Welt. Wer sich dagegen verwahrt oder andere Vorstellungen von gesellschaftlichem Frieden verfolgt, gilt in den Augen des katholischen Konvertiten als Feind, der offenbar ganz im biblischen Sinne zerschmettert werden müsse.

Der Kampfaufruf an die Industrienationen war so drastisch formuliert, daß er unweigerlich an Blairs Rede vor dem Parteitag der britischen Labour-Partei im September 2001 erinnerte. Unter dem Eindruck der schrecklichen Flugzeuganschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Arlington gab der damalige britische Regierungschef die Parole heraus, "wir" - gemeint war ein irgendwie geartetes Konglomerat aus "internationaler Gemeinschaft", allen wohlmeinenden Menschen auf der Welt sowie der "Wertegemeinschaft" aus NATO und deren "Partnern" in Afrika, Asien und Lateinamerika - "müssen die Welt neu ordnen". Zusammen mit George W. Bush schickte sich Blair an, das ehrgeizige Vorhaben mit militärischen Mitteln zunächst in Afghanistan und anschließend im Irak zu verwirklichen. Unter dem angerichteten Chaos leiden heute Millionen von Menschen. In Afghanistan sind die Taliban nach wie vor die stärkste Kraft, während der durch den Sturz Saddam Husseins entbrannte Konfessionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten im Irak die Nachbarländer Syrien, Libanon und Jemen erfaßt hat und auf weitere überzuspringen droht.

Die Reaktionen auf Blairs Bloomberg-Auftritt fielen unterschiedlich aus. Dennis McShane, einst Labour-Abgeordneter und Minister im Blair-Kabinett, pries die Analyse seines Parteikollegen bezüglich der Probleme im Nahen Osten als "Fulton 2.0" und stellte sie damit in eine Linie mit der berühmten Eisernen-Vorhang-Rede Winston Churchills, als die Ikone der angloamerikanischen Neokonservativen bei einem Besuch der Westminster University in Fulton, Missouri, im Jahr 1946 den "Kalten Krieg" zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sowjetisch-dominierten Ostblock ausgerufen hatte. In einer Twitter-Meldung bestätigte Anshel Pfeffer, Kolumnist der israelischen Tageszeitung Ha'aretz, den Verdacht vieler Beobachter, wonach der Friedensbotschafter des Nahost-Quartetts, statt unparteiisch zu sein, Israel zu nahe stehe: "Das Faszinierende an der heutigen Rede Blairs ist, daß sie auch von [Premierminister Benjamin] Netanjahu stammen könnte, denn Wort für Wort teilen sie dieselbe Auffassung".

Es gab auch viel Kritik, wobei die schärfste von Patrick Cockburn kam, der seit Jahren als Nahost-Korrespondent für die britische Tageszeitung Independent arbeitet und die Region und ihre Probleme bestens kennt. Cockburn, der der Biograph des "radikal"-schiitischen, irakischen Predigers Muktada Al Sadr ist, warf Blair vor, sämtliche Kräfte im Nahen Osten, die dem Westen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, darunter Al Kaida, die Moslembruderschaft, Hisb Allah und den Iran, einfach in einen großen Topf geworfen und sie zu Unrecht als Auswüchse eines angeblich existierenden, rückwärtsgewandten "Islamismus" definiert zu haben. Damit hätte sich Blair laut Cockburn die Mühe gespart, konkret auf die mannigfaltigen Probleme der Menschen im Nahen Osten einzugehen; durch die Umsetzung seines Lösungsansatzes - militärische Unterstützung autoritärer Herrscher wie der Militärs in Ägypten oder der absolutistischen Königsfamilie in Saudi-Arabien - sei die Katastrophe vorprogrammiert; mit derlei Stupidität würde man einzig Aiman Al Zawahiri, den Nachfolger Osama Bin Ladens als Al-Kaida-Chef, glücklich machen und ihm in die Hände spielen.

Derweil verstärkt sich in Großbritannien der politische Druck, den Bericht der Kommission, die unter der Leitung des Richters Sir John Chilcot die Hintergründe der Entscheidung zur Teilnahme der britischen Streitkräfte an der Irakinvasion 2003 untersuchen sollte, zu veröffentlichen. 2009 wurde die Chilcot-Kommission ins Leben gerufen. 2010 und 2011 führte sie öffentliche Anhörungen durch. Seit 2012 wird vor Gericht heftig darüber gestritten, ob und inwieweit die Kommunikationen zwischen den Regierungen in London und Washington im Vorfeld des Irak-Krieges sowie die entsprechenden Diskussionen des Blair-Kabinetts der Kommission vorgelegt werden dürfen oder nicht. Wegen der mangelnden Aussicht auf eine baldige Entscheidung in diesem juristischen Disput machte sich Vizepremierminster Nick Clegg, Chef der liberaldemokratischen Partei, vor einigen Tagen für eine Veröffentlichung des vorläufigen Kommissionsberichts stark, in dem Blair voraussichtlich zum Hauptverantwortlichen für den schwersten Fehler in der britischen Außenpolitik seit der Suez-Krise 1956 gestempelt wird. Kurz darauf appellierte Premierminister David Cameron an Blair, seinen Widerstand gegen die Aushändigung der Kabinettspapiere an die Chilcot-Kommission aufzugeben.

Unterdessen hat der Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der als potentieller Nachfolger Camerons als Vorsitzender der konservativen Partei gehandelt wird, in einer Anruf-Radiosendung am 6. Mai die negative Meinung der meisten Briten über ihren früheren Regierungschef durchschimmern lassen. Auf die Frage einer Anruferin, ob Blair wegen der Irak-Invasion als Kriegsverbrecher hinter Gitter gehöre, erklärte Johnson, der damalige angloamerikanische Einmarsch in das Zweistromland sei ein "Desaster" gewesen und die Entscheidung Londons zur Teilnahme falsch. Dennoch glaube er nicht, daß man Blair dafür jemals rechtlich zur Verantwortung ziehen könne. Der ehemalige Labour-Vorsitzende sei nicht nur vom Beruf her Anwalt, sondern auch ein "aalglatter Typ"; wenn jemand wüßte, wie man an einer Verurteilung wegen Kriegsverbrechen vorbeikäme, dann Blair, so Johnson.

9. Mai 2014