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NAHOST/1236: Libyscher Staat durch islamistische Milizen bedroht (SB)


Libyscher Staat durch islamistische Milizen bedroht

Ministerien in Tripolis seit Tagen von bewaffneten Trupps umstellt



Mehr als zwei Jahre nach Beginn der Konterrevolution in Libyen und eineinhalb Jahre nach der bestialischen Ermordung von Muammar Gaddhafi kommt das ölreiche Mittelmeerland nicht zur Ruhe. Bis heute haben es die neue Armee und Polizei Libyens nicht geschafft, gegen jene islamistischen Milizen, die damals mit Hilfe der NATO das "Regime" Gaddhafi stürzten, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Statt daß die Regierung in Tripolis die östliche Rebellenhochburg Benghazi unter ihre Kontrolle bringt, geschieht das Gegenteil. In der Hauptstadt Tripolis geben bewaffnete Banden immer mehr den Ton an und verleihen ihren Forderungen mit Waffengewalt Nachdruck. Die chaotischen Zustände in Libyen lassen erahnen, welches Unheil Syrien erwartet, sollte es den salafistischen Kampfverbänden dort mit westlicher Unterstützung gelingen, das säkulare "Regime" Baschar Al Assads zu beseitigen.

Am Wochenende des 27. und 28. April kam es in Tripolis zu dramatischen Szenen, als mehr als 200 schwerbewaffnete Männer eine Art Mini-Putsch probten. Sie belagerten das Außenministerium, erstürmten das Innenministerium, jagten dort die Mitarbeiter hinaus, und besetzten den privaten Fernsehsender al-Wataniya. Die Aufständischen warfen der Regierung vor, im Außen- und Innenministerium arbeite immer noch zuviel Personal aus der Gaddhafi-Ära. Die Milizionäre verlangten, daß die langjährigen Mitarbeiter der beiden Ministerien entlassen und durch eigene Anhänger ersetzt werden. Sie beschwerten sich zudem, daß sie vom Innenministerium nicht die versprochenen Gehälter für ihren Dienst als freiwillige Ordnungshüter erhielten. Auch bei Al-Wataniya forderten sie personelle Änderungen - offenbar deshalb, weil sich die Leitung des Senders kürzlich beim Innenministerium darüber beklagte, daß das Gebäude von draufgängerischen Milizenkämpfern bewacht würde, und um die Entsendung ausgebildeter Polizisten gebeten hatte.

Bereits im März hatten Milizionäre das Amtsgebäude von Premierminister Ali Zidan in Tripolis belagert, nachdem er damit gedroht hatte, ausländische Militärhilfe nach Libyen zu holen, um dem Bandenwesen ein Ende zu machen. Nach der jüngsten Machtdemonstration hat das libysche Parlament die Diskussion um die Besetzung des Postens des Generalstabschefs der Armee verschoben. Beim Militär fordert die Offiziersgarde, daß der derzeitige Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Generalmajor Youssef Al Mangoush, ausgewechselt wird. Die Offiziere werfen Al Mangoush vor, mit dem Versuch, die zahlreichen Milizen in Libyen durch eine starke einheitliche Armee zu ersetzen, gescheitert zu sein. Die Milizionäre wollen wiederum an Al Mangoush wegen seiner mangelnden Dursetzungsfähigkeit ihnen gegenüber festhalten.

Ein wichtiges Indiz für die sich verschlechternde Sicherheitslage in Libyen war der Autobombenanschlag auf die französische Botschaft in Tripolis am 23. März, der das Gebäude schwer beschädigte und zwei Wachmänner verletzte. Offiziell hat sich keine Gruppierung zu dem Angriff bekannt. Es wird jedoch ein Zusammenhang zu der französischen Militärpräsenz im benachbarten Mali vermutet. In Norden Malis wollen Al-kaida-nahe Gruppen, die sich mit Waffen aus dem Arsenal der früheren Gaddhafi-Armee eingedeckt haben, ein islamisches Kalifat errichten, das Nordafrika und die gesamte Sahelzone umfassen soll. Seit dem Einmarsch französischer Truppen in Mali im Januar weichen jene islamistischen Kämpfer, die zuletzt mit rabiaten Methoden in Timbuktu und Umgebung die Scharia zu etablieren versucht hatten, wieder nach Libyen aus. Dort werden sie von der libyschen Luftwaffe und CIA-Drohnen angegriffen. Vor wenigen Tagen hat sich Tschads Präsident Idriss Déby beschwert, daß islamistische Aufständische, die sein Land unsicher machen wollten, derzeit von Milizen in Benghazi ausgebildet würden. Bereits Anfang April hatten Islamisten aus Benghazi Raketen auf zwei Ölraffinerien in der Nähe der ostlibyschen Hafenstadt abgefeuert, was als Warnung an die Adresse der Regierung in Tripolis gedeutet wurde.

Zur Stunde sind in der libyschen Hauptstadt weiterhin das Außen- und Justizministerium von bewaffneten Männern umstellt. Die Belagerung des Justizministeriums erfolgte, nachdem der dort amtierende Minister im Fernsehen die Existenz von privaten Internierungslagern, in denen die Aufständischen politische Gegner gefangenhalten, foltern und eventuell töten, scharf kritisiert hatte. Die an der Aktion beteiligten Milizionäre wollen nach eigenen Angaben erst wieder abziehen, wenn der libysche Volkskongreß ein Gesetz verabschiedet, das Beamte aus der Gaddhafi-Ära aus dem Staatsdienst verbannt. Sie drohen offen mit einer "zweiten Revolution", sollten die Parlamentarier nicht bald mehrheitlich für das sogenannte "Gesetz der politischen Isolation" votieren.

Im Irak gilt die Entlassung sämtlicher Mitglieder der säkular-nationalistischen Baath-Partei Saddam Husseins aus Armee- und Staatsdienst nach dem angloamerikanischen Einmarsch 2003 als der schwerste Fehler der Regierung von US-Präsident George W. Bush. Das irakische Staatswesen hat sich von dem damaligen Verlust an Kompetenz und Zusammenhalt bis heute nicht erholt und droht, in seine kurdischen, schiitischen und sunnitischen Einzelteile zu zerfallen. Eine ähnliche Schwächung des libyschen Staates steht nun bevor. Vermutlich ist es gerade das, was die weniger nationalistisch gesinnten, dafür der Religion und dem Stammesdenken verhafteten Milizionäre in Libyen mit ihrer gewalttätigen Erpressungsaktion beabsichtigen.

3. Mai 2013