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NAHOST/1202: Israel bricht neue Gaza-Offensive vom Zaun (SB)


Israel bricht neue Gaza-Offensive vom Zaun

Wahlkämpfer Benjamin Netanjahu riskiert größeren Flächenbrand



Mit dem spektakulären Attentat auf Ahmad Jabari, den Militärchef der islamischen Hamas-Bewegung, am 14. November im palästinensischen Gazastreifen hat Israel eine neue und gefährliche Militäroffensive gestartet. Um die Propagandawirkung des gelungenen Angriffs vollends auszuschöpfen, gaben die israelischen Streitkräfte gleich danach die dabei gemachten Videoaufnahmen frei. So konnten die Menschen in Israel, in der arabischen Welt und rund um den Globus noch am selben Abend entweder im Internet oder in den Fernsehnachrichten sehen, wie die Rakete auf dem letzten Teil der Flugstrecke mit rasender Geschwindigkeit von oben herab auf das fahrende Auto Jabaris zuraste und beide Objekte in einem riesigen Feuerball verschwanden.

Der Raketenattentat auf das führende Hamas-Mitglied war der Auftakt zu einer größeren Militäroffensive der Israelis, die den Namen Pillar of Defence (Verteidigungssäule) trägt. Dies erklärte am selben Abend der israelische Verteidigungsminister, General a. D. Ehud Barak. In den vorangegangenen Tagen hatte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu seinem Volk durch martialische Äußerungen auf den Ausbruch von Feindseligkeiten mit den im Gazastreifen eingeschlossenen Palästinensern einzustimmen versucht. Bereits am 12. November war er mit den ausländischen Botschaftern in Israel zusammengetroffen, um vor allem die befreundeten Industriestaaten Europas und Nordamerikas auf den bevorstehenden, angeblich legitimen Akt der Selbstverteidigung vorzubereiten. Nun läuft ein blutiges Gemetzel ähnlich der israelischen Militäroperation Gegossenes Blei, bei der zur Jahreswende 2008/2009 13 Israelis und rund 1400 Palästinenser gewaltsam zu Tode kamen, an.

Die israelische Friedensbewegung und andere Organsiationen unterstellen Netanjahu, die jüngste Gaza-Offensive vom Zaun gebrochen zu haben, um sich als zuverlässiger Verteidiger der Nation aufspielen und die Knessetwahlen am 22. Januar für sein reaktionäres Parteienbündnis Likud-Beiteinu gewinnen zu können. Der Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich der von Netanjahu reklamierte Selbstverteidigungsfall als mutwillige Eskalation der Israelis. Am 5. November haben die israelischen Streitkräfte den 23jährigen Ahmad Nabhani, der geistig behindert gewesen sein soll, erschossen, als er sich dem entlang des Gazastreifens errichteten Grenzzaun näherte. Am 8. November drangen acht israelische Panzer, die von vier Planierraupen begleitet wurden, im Süden des Gazastreifens ein. Im Zuge dieser Aktion starb ein 13jähriger Palästinenser namens Ahmed Younis Khader Abu Dakka, der Fußball mit seinen Freunden im Dorf Abassan spielte, als er von einer israelischen Kugel im Bauch getroffen wurde und innerlich verblutete. Als Vergeltung für diese beiden Taten beschossen Kämpfer der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PLFP) am 10. November an der Grenze zu Gaza ein israelisches Panzerfahrzeug mit einer Anti-Panzerrakete und verletzten alle vier Insassen. Daraufhin setzten israelische Luftwaffenangriffe ein, denen fünf Bewohner des Gazastreifens zum Opfer fielen, die wiederum von Dutzenden Raketen verschiedener palästinensischer Gruppierungen beantwortet wurden.

Seit Beginn von Operation Verteidigungssäule sind 15 Palästinenser getötet worden, die meisten von ihnen Zivilisten. In den Morgenstunden des 15. November starben drei israelische Zivilisten, als eine in 25 Kilometern Entfernung im Gazastreifen abgefeuerte Rakete in das oberste Stockwerk eines Wohnungsgebäudes in der israelischen Stadt Kiryat Malachi einschlug. Zu dem Angriff bekannte sich kurze Zeit später Jabaris Gruppe, die Ezzedine-Al-Kassam-Brigade.

Über die möglichen Auswirkungen der jüngsten israelischen Offensive machen sich Politiker und Diplomaten in der Region und darüber hinaus zurecht Sorgen. Die Regierung in Kairo, die kurz davor stand, eine tragfähige Waffenruhe zwischen Israelis und Palästinensern zu vermitteln, fühlt sich durch das Vorgehen Netanjahus düpiert. Ägyptens neuer Präsident Mohamed Mursi von der Moslembruderschaft weiß, daß es mehr als einer Anrufung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und die Abberufung des ägyptischen Botschafters in Israel bedarf, um die Wut seiner Mitbürger zu besänftigen. Schließlich hat der frühere ägyptische Diktator Hosni Mubarak durch seine Untätigkeit während der Operation "Gegossenes Blei" vor vier Jahren einen nicht geringen Teil seines Rückhaltes im Volk verspielt.

Ägypten hat zunächst angekündigt, die Grenze zum Gazastreifen für den Transport von Verletzten zu öffnen. Eine offene militärische Konfrontation mit den Israelis können sich Ägyptens Streitkräfte, die sich seit mehr als dreißig Jahren auf Aufstandsbekämpfung im Innern konzentrieren, jedoch nicht leisten. Folglich ist zu erwarten, daß der jüngste Krieg in Gaza mehrere Tage oder Wochen toben wird, bis sich alle Seiten wieder beruhigen. Allein dafür, das Töten wieder eingestellt zu haben, werden sich Netanjahu und Barak vom Westen als weitsichtige Staatsmänner feiern lassen. In einer solchen Situation ist davon auszugehen, daß Tel Aviv als Preis für eine Beruhigung der Lage im Gazastreifen von der Regierung Barack Obamas erwarten wird, daß sie ihre Proteste gegen den forcierten Bau jüdischer Siedlungen in Ostjerusalem und im palästinensischen Westjordanland etwas weniger energisch vorträgt.

Die Kämpfe in und um Gaza haben für Israel noch einen weiteren Nutzen. Wegen der Gefahr der Ausweitung des Gaza-Konfliktes zu einem Regionalkrieg werden Amerikaner und Europäer vermutlich versuchen, den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas von seinem Vorhaben, am 29. November vor der UN-Generalversammlung die Anerkennung Palästinas als Nicht-Mitgliedstaat zu beantragen, abzubringen. Für den Fall, daß Abbas seine Absicht umsetzt, droht das israelische Außenministerium bereits mit der Aberkennung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Darüber hinaus sind einige Beobachter, darunter der ehemalige CIA-Analytiker Philip Giraldi, der Überzeugung, daß Netanjahu mit der Gaza-Offensive auch eine Annäherung zwischen Teheran und Washington und damit eine friedliche Lösung des Streits um das iranische Atomprogramm torpedieren will. Möglicherweise ist ihm dies bereits gelungen. Während Washington öffentlich Verständnis für die außergerichtliche Hinrichtung Jabaris äußerte, geißelte Teheran sie als "Staatsterrorismus".

15. November 2012