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NAHOST/1120: Von Gaddhafi "befreites" Libyen versinkt in Chaos (SB)


Von Gaddhafi "befreites" Libyen versinkt in Chaos

Sorge der NATO um das Wohl der libyschen Zivilbevölkerung läßt nach


Am 31. Oktober ist die vor sieben Monaten vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierte Operation Unified Protector (OUP) zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung von der NATO offiziell eingestellt worden. Bei diesem Anlaß erklärte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die Operation, bei der mehr als 9600 Luftangriffe geflogen und Spezialstreitkräfte am Boden zwecks Unterstützung von Aufständischen eingesetzt wurden, zu einem "erfolgreichen Kapitel" in der Geschichte der nordatlantischen Allianz. Der vom ehemaligen dänischen Premierminister bei einer Stippvisite in Tripolis reklamierte Erfolg läßt sich jedoch lediglich am Erreichen des offensichtlichen, aber niemals offen erklärten Ziels der Militärintervention - nämlich der Beseitigung des allzu eigenwilligen libyschen Revolutionsführers Oberst Muammar Gaddhafi - bemessen. Denn nach dem Sturz des bisherigen "Regimes" in Tripolis ist die Zivilbevölkerung in Libyen durch die zahlreichen marodierenden Milizen mehr denn je bedroht.

Berichte westlicher Korrespondenten vor Ort malen ein erschreckendes Bild der Verhältnisse im "befreiten" Libyen. Am 30. Oktober prangerte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die Zustände in der libyschen Stadt Tawergha an, deren Bevölkerung in den vergangenen Wochen von Islamisten aus der benachbarten Hafenstadt Misurata vertrieben worden sein soll. Laut HRW gleicht Tawergha heute einer Geisterstadt. Viele Gebäude sind ausgebrannt. Wo die 30.000 Bewohner abgeblieben sind, wie viele von ihnen auf der Flucht in die Wüste sind oder bereits massakriert wurden, scheint bis auf die mutigen HRW-Mitarbeiter niemanden besonders zu interessieren. Schließlich galt Tawergha als Hochburg von Gaddhafi-Anhängern vornehmlich schwarzafrikanischer Herkunft. Am 1. November berichtete Karlos Zurutuza in einer Meldung für die Nachrichtenagentur Inter Press Service, aus Sirtre und Bani Walid, ebenfalls frühere Hochburgen der Gefolgsleute Gaddhafis, seien bis zu 100.000 Menschen aus Angst um ihr Leben geflohen.

Das Schweigen der NATO-Verantwortlichen zu den blutigen Repressalien, der dieser Tage mutmaßliche oder echte Anhänger des alten "Regimes" ausgesetzt sind, steht im krassen Widerspruch zum großen Geschrei des Triumvirats Barack Obama, Nicolas Sarkozy und David Cameron, als im vergangenen März die Truppen Gaddhafis vor den Toren Benghazis standen. Es läßt sich durchaus die These vertreten, daß weit weniger Zivilisten ums Leben gekommen wären, hätte die NATO die libyschen Sicherheitskräfte damals nicht an der Niederschlagung des bewaffneten Aufstandes in Benghazi und der Wiederherstellung der staatlichen Ordnung gehindert.

Doch es ging niemals wirklich um den Schutz von Zivilisten oder die Verbreitung von "Freiheit" und "Demokratie". Dies bestätigen die jüngsten Ereignisse. Spätestens seit Mustafa Abdul Dschalil, der Kopf des von sämtlichen NATO-Staaten anerkannten Nationalen Übergangsrats, am 22. Oktober anläßlich der Verkündung der angeblich von "Allah" unterstützten "Befreiung" Libyens die Scharia zur "Grundquelle" von Recht und Gesetz in dem nordafrikanischen Land erklärte, sehen sich die Moslemfundamentalisten, die Gaddhafi jahrzehntelang im Zaum gehalten hatte, im Aufwind. Wie Karlos Zurutuza am 29. Oktober ebenfalls bei Inter Press Service berichtete, droht jedem, der auf offener Straße in Tripolis den Gruß "Allahu Akbar" ("Gott ist groß") nicht genauso erwidert, als mutmaßlicher Sympathisant der alten Ordnung verschleppt, gefoltert und ermordet zu werden. In Libyen gibt es derzeit mehrere Hundert Milizen, die sich zum Teil spinnefeind sind. Die Hauptstadt Tripolis kommt wegen der Anwesenheit von 45 verschiedenen Rebellenverbänden, die sich seit der brutalen Ermordung Gaddhafis am 20. Oktober gegenseitig mißtrauisch beäugen, nicht zur Ruhe.

Wie die britische Zeitung Daily Telegraph am 1. November berichtete, kam es am Tag davor am Zentralkrankenhaus von Tripolis zu einer Schießerei, an der "Hunderte" von Milizionären beteiligt waren und bei der zwei von ihnen ums Leben kamen sowie sieben weitere verletzt wurden. Angeblich wollten Kämpfer aus der Stadt Zintan in das Krankenhaus eindringen, um einen Mann, den sie am Tag zuvor angeschossen hatten, der aber von den Notärzten gerettet werden konnte, zu töten. Daran wurden sie von Mitgliedern der sogenannten "Tripolis-Brigade" gehindert. Ärzte und Patienten hätten das Gebäude evakuieren müssen und zwei ältere Menschen seien an Herzversagen gestorben, als sich laut Telegraph-Korrespondent Nick Meo vor dem Krankenhauseingang die "vermeintlichen Alliierten" von ein Uhr morgens bis Sonnenaufgang mit "schweren Maschinengewehren und Luftabwehrkanonen" gegenseitig beschossen.

Währenddessen haben radikale Elemente unter den neuen Machthabern in Benghazi bereits ihre Absicht, das seit 1969 säkulare Libyen in ein islamisches Emirat à la Taliban zurückzuverwandeln, kundgetan. Am 29. Oktober berichtete der US-Nachrichtensender CNN, daß über das Gerichtsgebäude im Zentrum der östlichen Metropole eine schwarze Flagge mit der arabischen Inschrift "Es gibt kein Gott außer Allah und Muhammed ist der Botschafter Allahs" gehißt worden war. Ein libyscher Reporter namens Sherif Elhelwa, der die entsprechenden Bilder von der Flagge geschossen und ins Internet gestellt hatte, war bei seiner journalistischen Arbeit schwer bedroht worden. Laut Elhelwa soll ein "Wachmann" des Gebäudes, nachdem er die Fotos geschossen hatte, zu ihm gesagt haben: "Wer von dieser Flagge schlecht spricht, dem werden wir die Zunge abschneiden. Ich empfehle Ihnen, diese [die Bilder] nicht zu veröffentlichen. Damit werden Sie sich nur Ärger einhandeln."

Wie solcher Ärger im Ernstfall aussieht, geht aus dem vorhin erwähnten HRW-Bericht hervor. Dort ist die Rede von zwei "Wachmännern" eines von Anti-Gaddhafi-Rebellen provisorisch eingerichteten Gefängnisses in der Zaroug-Schule in Tawergha, die am 20. oder 21. August einen geistig behinderten Mann namens Ashraf Salah Muhammed bei dem Versuch, aus ihm das Codewort für ein Walkie-Talkie herauszubekommen, zu Tode prügelten. Im HRW-Bericht wird ein Augenzeuge des Vorfalls wie folgt zitiert: "Um zehn Uhr morgens fingen sie an, ihn auszupeitschen. Es dauerte 45 Minuten. Gegen Mittag war er tot".

Mord und Todschlag in Libyen sollen jedoch genauso wenig wie die Umstände der bestialischen Hinrichtung Gaddhafis den Glanz des NATO-Erfolges in Libyen, der in den westlichen Hauptstädten bereits als Blaupause für künftige Militärinterventionen in anderen Staaten diskutiert wird, trüben. Die Nordatlantiker interessieren sich für die laufende Generalabrechnung der Gegner Gaddhafis mit seinen Anhängern oder den Befürwortern eines säkularen Staates in etwa soviel wie ihnen 1999 nach dem Sieg über Slobodan Milosewics Jugoslawien die Vertreibung Hunderttausender Serben und anderer Minderheiten aus dem Kosovo durch die albanische Terrortruppe UCK gekümmert hat, nämlich gar nicht. Die derzeitige Hauptsorge in Brüssel, London, Paris und Washington in Bezug auf Libyen scheint lediglich der Verbleib mehrerer Tausend Flugabwehrraketen aus den Beständen der Streitkräfte Gaddhafis zu sein. Das wäre wahrlich eine Tragödie, sollte dieses Kriegsgerät in die "falschen" Hände geraten und irgendwann ein schwer ersetzbarer NATO-Pilot in seinem hochmodernen millionenteuren Kampfjet abgeschossen werden.

2. November 2011