Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1107: Israelische Armee bildet bewaffnete Siedler in Aufstandsbekämpfung aus (SB)


Paramilitärische Offensive soll Massenprotest niederschlagen


Die Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten wird angesichts ihres enormen Einflusses auf die Regierungspolitik Israels nicht selten als Staat im Staate bezeichnet. Diese Einschätzung trifft insofern zu, als die radikale Fraktion der Siedler weit über ihren zahlenmäßigen Anteil an der Gesellschaft hinaus ihre Partialinteressen auf aggressive Weise durchzusetzen versteht und damit eine rote Linie zieht, die sowohl palästinensische Anliegen abwürgt, als auch im politischen und sozialen Diskurs Israels Unverzichtbarkeiten zementiert. Damit repräsentiert sie die Speerspitze des Besatzungsregimes, das Okkupation nicht nur als unumkehrbar festschreibt, sondern darüber hinaus als grundsätzlich grenzenlosen Prozeß expansiven Raubes zu entufern trachtet. Diese Ausnahmestellung der Siedler wäre in einem Staatswesen, das sich selbst zur einzigen Demokratie im Nahen Osten überhöht, unmöglich, trieben die Pioniere jüdischer Landnahme nicht das zionistische Projekt und damit die Staatsdoktrin voran. Daher sind sie keineswegs ein extremer Fremdkörper, der den Bogen überspannt und außerhalb der Gesellschaft auf Abwege geraten ist, sondern außerordentlich erfolgreich darin, für sich in Anspruch zu nehmen, das Interesse der Mehrheit mit Spaten und Sturmgewehr in vorderster Front in Stellung zu bringen.

Wir nehmen uns, was uns seit jeher gehört, lautet das Credo der radikalen Siedler. Wenngleich nur eine orthodoxe oder rechtskonservative Minderheit dieses Erbrecht mit einem göttlichen Auftrag begründet, korrespondiert der tief verwurzelte Glauben an die Überlegenheit und Unabweislichkeit eigener Existenz und Präsenz durchaus mit einem säkularen Entwurf der Überlebenssicherung zu Lasten anderer, nämlich der Palästinenser. Nicht von ungefähr strömen im Windschatten expansionistischen Siedlertums Hunderttausende Durchschnittsbürger in das eroberte Terrain, angezogen von hochsubventioniertem Wohnraum sowie einer erstklassigen Infrastruktur und unübertrefflichen Sicherheitslage. Israelische Regierungen subventionieren seit Jahrzehnten mit Milliardensummen, die dem Steueraufkommen entnommen und entzogen werden, diese Zuwanderung, was den unablässigen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten als genuines und vordringliches Staatsprojekt ausweist.

Auch was das befürchtete Aufbegehren der Palästinenser betrifft, die den arabischen Frühling ernst und für sich in Anspruch nehmen könnten, weist man den Siedlern die Aufgabe der Aufstandsbekämpfung in vorderster Front zu. Noch ehe sich der Widerstand gegen das Besatzungsregime unüberhörbar artikuliert, geschweige denn formiert, wird die nächste Welle der Repression militärisch und ideologisch in Stellung gebracht. So berichtet die New York Times, daß die israelischen Streitkräfte in Erwartung möglichen Massenprotests im Kontext der einseitigen Ausrufung des Palästinenserstaats vor den Vereinten Nationen im September das Training von mehr als hundert Sicherheitsteams der Siedler forciert haben. [1]

Diese Teams wurden im Jahr 2000 in Reaktion auf den Ausbruch der zweiten Intifada ins Leben gerufen und tragen seither dem Umstand Rechnung, daß die Armee zumal in einer Situation eskalierender Auseinandersetzungen nicht überall zugleich Präsenz zeigen kann. Wenngleich die Bezeichnung geflissentlich vermieden wird, handelt es sich mithin um paramilitärische Verbände, die unter dem Vorwand der Selbstverteidigung mit Waffengewalt gegen die Palästinenser vorgehen sollen. Daß Siedler palästinensische Männer, Frauen und Kinder auf alle erdenkliche Weise drangsalieren, ihre Felder verwüsten, Bäume abschlagen und Ernten verbrennen, ja nicht selten auch auf sie schießen, ist alltägliche Realität im Westjordanland. Was sich nun in Gestalt der Sicherheitsteams rüstet und unverhohlen ankündigt, geht darüber hinaus: Als Drohkulisse und strategische Offensive konzipiert, will man die befürchtete Massenbewegung palästinensischen Protests im Keim ersticken.

Da es sich bei den Siedlern überwiegend um Reservisten der Streitkräfte handelt, die regelmäßig an Übungen teilnehmen, braucht man sie im Waffengebrauch nicht zu unterweisen. Wie es nun zur Beschwichtigung naheliegender Einwände gegen diese irreguläre Truppe heißt, wüßten die ehemaligen Soldaten durchaus, ihre Operationen auf Verteidigung zu beschränken. Überdies seien sie gehalten, bei Eintreffen regulärer Einheiten diesen das Feld zu überlassen. In den Ohren der Palästinenser muß das wie die Wahl zwischen Regen und Traufe klingen, um ein für die dortigen Verhältnisse eher unpassendes Bild aus unserem Kulturkreis zu verwenden.

Die Planungen sehen vor, daß die Streitkräfte Grenzen um jede Siedlung festlegen, die Palästinenser oder israelische Demonstranten nicht überschreiten dürfen. Derzeit übt man anhand simulierter Szenarien die Vorgehensweise im Falle protestierender Gruppen oder Menschenmengen, wobei völlig unklar bleibt, wie diese Grenzziehung beschaffen und für mögliche Demonstranten zu erkennen ist und insbesondere unter welchen Bedingungen die Siedler das Feuer eröffnen. Da von den mehr als hundert Siedlungen im Westjordanland nur ein Bruchteil mit Mauern oder Zäunen befestigt ist, steht ein hoher Blutzoll auf seiten der Palästinenser zu befürchten, sollte es zu Protestaktionen in unmittelbarer Nähe der Siedlungen kommen.

Die militärische Führung will die Streitkräfte in Erwartung des Massenprotests eigenen Angaben zufolge verstärkt mit sogenannten nichttödlichen Waffen ausrüsten. Entgegen kursierenden Berichten, auch die Sicherheitsteams der Siedlungen sollten von der Armee Tränengas oder Blendgranaten erhalten, ist das zumindest bislang offenbar nicht der Fall. Eine gute Nachricht für die Palästinenser ist das nicht, würden sie doch ausschließlich den M-16 der bewaffneten Siedler gegenüberstehen.

Die palästinensische Führung um Mahmoud Abbas hat zwar zu Massenprotest aufgerufen, jedoch zugleich angekündigt, sie wolle Demonstrationen und Kundgebungen auf die Städte beschränken und insbesondere von israelischen Kontrollposten und Siedlungen fernhalten. Dennoch hält man auf israelischer Seite vor, die Bewegung könne außer Kontrolle geraten und Szenarien wie jüngst in Kairo heraufbeschwören. Nach dem Tod der fünf ägyptischen Grenzpolizisten durch Beschuß aus einem Kampfhubschrauber protestierte eine wütende Menschenmenge vor der israelischen Botschaft und setzte mit dem Austausch der Flaggen ein international wahrgenommenes Zeichen. Derartiges werde man in den Siedlungen unter keinen Umständen zulassen, erklärte ein Sprecher der Sicherheitsteams.

Nach Angaben der israelischen Streitkräfte führe man einen ständigen, professionellen Dialog mit der Führung und den Sicherheitskräften "in ganz Judäa und Samaria". Gleichzeitig setze man alles daran, die örtlichen Kräfte auszubilden und auf jedes denkbare Szenario vorzubereiten. Das Training der meisten Sicherheitsteams sei bereits abgeschlossen, so daß man von einer "operationalen Bereitschaft" ausgehen könne. Läßt dieser nicht näher erläuterte Status schon für sich genommen das Schlimmste für die Palästinenser befürchten, so zeugt die Bezeichnung "Judäa und Samaria" für das Westjordanland von mehr als nur einem ideologischen Schulterschluß zwischen den regulären israelischen Streitkräften und den bewaffneten Siedlern.

Fußnoten:

[1] http://www.nytimes.com/2011/08/31/world/middleeast/31israel.html

31. August 2011