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NAHOST/960: Überlegene Waffengewalt beansprucht Deutungshoheit (SB)


Nun will Israel den Goldstone-Bericht schlachten


Auf das Massaker im Gazastreifen zur Jahreswende, das die haushohe Überlegenheit israelischer Waffengewalt demonstrierte, um den palästinensischen Widerstand abzustrafen und für sinnlos zu erklären, folgt nun der Versuch Israels, die absolute Deutungshoheit für sich zu reklamieren und mit dem Goldstone-Bericht die derzeit gefährlichste Kritik an dem Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser zu schlachten. Daß die durchsetzungsfähigsten Argumente aus den Gewehrläufen kommen, ist keine Binsenweisheit, sondern vielmehr ein Nexus, an den man sich nicht oft genug erinnern kann. Was als mediengenerierte öffentliche Meinung installiert wird, korrespondiert als Instrument der Herrschaftssicherung mit dem Gewaltpotential, abweichende Positionen, zumal wenn sie in Widerstand münden, zu diskreditieren, zu delegitimieren und bis hinein in strafrechtliche, polizeiliche und militärische Konsequenzen zu sanktionieren.

Israel hat es mit Hilfe seiner Verbündeten bislang stets geschafft, sich im Nahostkonflikt nicht nur gewaltsam durchzusetzen, sondern auch die flankierenden Interpretationsmuster in internationalen Gremien entweder zu eigenen Gunsten zu entscheiden oder andernfalls schlichtweg zu ignorieren. Wie dabei deutlich zutage tritt, existiert keine internationale Gemeinschaft im von diesem Konzept beanspruchten Sinn, sondern vielmehr ein Komplex führender Nationen, deren militärische und wirtschaftliche Stärke die eigenen Interessen durchsetzt und legitimatorisch verankert. Daß es sich dabei um eine Mehrheitsmeinung handelt, ist mindestens zweifelhaft, da die Mehrheit in aller Regel weder gefragt, noch in ihrer Artikulation berücksichtigt wird. Dies läßt sich mit Blick auf die Vereinten Nationen unmittelbar nachvollziehen, da der Sicherheitsrat das einzig maßgebliche Gremium ist, demgegenüber die Beschlüsse der Vollversammlung in entscheidenden Fragen irrelevant und wirkungslos bleiben. Der Menschenrechtsrat, dessen Resolutionen die Führungsmächte nicht mit Hilfe eines Vetos blockieren und aufgrund seiner Zusammensetzung zumeist auch nicht dominieren können, hat zwangsläufig größeren Spielraum in seinen Beschlüssen, die jedoch für gewöhnlich dadurch wettgemacht werden, daß Israel oder die USA und ihre Verbündeten diesem Gremium grundsätzlich feindselige Absichten unterstellen, weshalb sie es nicht selten boykottiert oder seine Entscheidungen für gegenstandslos erklärt haben.

Was als Wahrheit oder objektive Faktenlage ausgewiesen wird, bleibt ein Folgeprodukt des erbitterten Ringens um die Deutungshoheit, wie man sie derzeit in der Auseinandersetzung mit dem Goldstone-Bericht erlebt. Hinter jedem Machtkomplex, der Mehrheiten zum Zweck der Zurichtung und Ausbeutung unter Kontrolle zu halten trachtet, lugt die Angst vor dem Verlust dieser uneingeschränkten Zugriffsoption hervor. Auch und gerade eine Konstellation weitreichender Interpretationsdominanz läuft Gefahr, nicht die angestrebte vollkommene und unumkehrbare Vorherrschaft bei der Meinungsbildung herbeizuführen, sondern auf unvorhersehbare und womöglich nicht einzudämmende Weise eine Gegenreaktion auszulösen. Eben weil auf diesem Feld vermeintliche Gesetzmäßigkeiten allenfalls den Kontrollanspruch repräsentieren, ohne dessen Einlösung erfüllen zu können, sind Unterwerfung und Anpassung zwar hochwahrscheinlich, doch keineswegs die einzig mögliche Option.

Zu welchen Strategien dieses Dominanzstreben samt der ihm innewohnenden Unwägbarkeiten auf seiten der überlegenen Kräfte führt, läßt sich anhand des Goldstone-Berichts studieren, den der Menschenrechtsrat mit großer Mehrheit angenommen hat. Er wirft der israelischen Armee und der Hamas Kriegsverbrechen und mögliche Menschenrechtsverletzungen während der dreiwöchigen israelischen Militäroffensive im Gazastreifen im Dezember und Januar vor. Israel hat diesen Bericht als ungerecht und einseitig zurückgewiesen, wobei sich die israelische Regierung inzwischen für eine Änderung des internationalen Kriegsrechts starkmachen will. Wenn man schon Gefahr läuft, wegen begangener Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden oder dies zumindest nicht mehr mit Sicherheit ausschließen kann, setzt man kurzerhand auf einer fundamentaleren Ebene an und verlangt eine neue Definition des Kriegsrechts, die kompatibel mit den bereits begangenen und künftig geplanten Greueltaten ist.

Was ein Kriegsverbrechen ist, bestimmen wir und niemand sonst, lautet die Devise Ministerpräsident Benjamin Netanjahus, der bei einer Sitzung des Sicherheitskabinetts seine Regierung aufgefordert hat, Vorschläge für eine entsprechende Initiative zu machen. "Ich möchte eines ganz klar sagen: Niemand wird unsere Fähigkeit und unser Recht beschneiden, unsere Kinder, Bürger und Gemeinden zu verteidigen." Verteidigungsminister Ehud Barak unterstützte diesen Vorstoß, indem er erklärte, Israel müsse Vorschläge zu einer Änderung des internationalen Rechts unterbreiten, um den "Krieg gegen den Terrorismus zu erleichtern." Die Regierung müsse sich dafür einsetzen, daß die israelische Armee über die "Freiheit zum Handeln" verfüge. [1]

Was der israelischen Führung dabei vorschwebt, ist offensichtlich ein verändertes Völker- und Kriegsrecht, das der eigenen Kriegsführung nie mehr in den Arm fallen kann. Indem der Gegner als "terroristisch" klassifiziert wird, entfällt dessen Anspruch auf jedweden Schutz, wie ihn das derzeit formulierte Kriegsrecht zumindest dem Anspruch nach vorhält. Die wesentliche Stoßrichtung israelischer Bezichtigung des Goldstone-Berichts wirft diesem vor, er setze legitime Verteidigungsinteressen Israels mit dem "Terror" der Hamas gleich. Damit werden die unmittelbaren Überlebensinteressen von Millionen Palästinensern, die im Gazastreifen systematisch ausgehungert, Krankheiten ausgeliefert oder durch Militärschläge getötet werden, vollständig ausgeblendet und der Fiktion geopfert, ein völlig friedliebendes Israel werde grundlos mit Raketen beschossen und müsse dem Einhalt gebieten.

Man kann unschwer erkennen, welch extremer Verzerrung tatsächlicher Herrschafts- und somit Unterdrückungsverhältnisse es bedarf, um diese Deutungshoheit durchzusetzen, und wie erschreckend vereinbar sie dennoch mit bereits weitgehend realisierten Mustern der Denkkontrolle ist. So argumentiert Avi Primor in der "Süddeutschen Zeitung", Israel habe sich argumentativ schlecht verteidigt und mit dem Boykott der von Goldstone geleiteten Untersuchungskommission einen Fehler begangen. Zwar hätte vermutlich keine Chance bestanden, vom "traditionell äußerst parteiischen und feindseligen" Menschenrechtsrat unvoreingenommen gehört zu werden, doch habe man sich durch bloße Abwesenheit ins Unrecht gesetzt. [2] Der Goldstone-Bericht lasse sich womöglich nicht mehr abschütteln, obwohl seine wesentliche Aussage, Ziel des Gazakriegs vom 27. Dezember bis 18. Januar sei die palästinensische Zivilbevölkerung gewesen, grotesk genannt werden müsse.

Um über 1.400 getötete Palästinenser, zahllose verletzte und traumatisierte Menschen und ungeheure Zerstörungen zu rechtfertigen, versteigt sich Primor zu der vielsagenden Drohung, die gigantische Feuerkraft und Macht der israelischen Armee hätte innerhalb von drei Wochen Hunderttausende von Zivilisten das Leben gekostet, wäre ein Krieg gegen Zivilisten die Absicht gewesen. Weiter bemängelt Primor am Bericht die fehlende Erklärung, "warum es überhaupt zu diesem Krieg gekommen ist, wer ihn entfesselt und wer sich lange zurückgehalten hat." Dann gibt Primor die längst widerlegte Propagandageschichte zum besten, die Hamas habe den Mitte 2008 geschlossenen Waffenstillstand am 19. Dezember einseitig aufgekündigt und ein Bombardement mit Hunderten Raketen begonnen, welche die israelische Zivilbevölkerung im Grenzgebiet zu einem Leben im Schutzkeller zwang. Eine Woche lang habe die israelische Regierung dem Druck der eigenen Bevölkerung standgehalten und das Feuer nicht erwidert: "Erst als es unter humanitären wie unter politischen Aspekten unmöglich geworden war, Selbstschutz zu verweigern, griff die Armee an."

Wer die fortgesetzte Blockade des Gazastreifens, den Bruch des Waffenstillstands durch einen israelischen Luftangriff und die Monate zuvor ausgearbeiteten Angriffspläne geflissentlich ausblendet oder leugnet, würde sicher auch behaupten, der Irak habe doch Massenvernichtungswaffen besessen, weshalb der Angriffskrieg völkerrechtlich legitim gewesen sei. Der Wahrheitsgehalt der Argumente spielt keine Rolle mehr, wo der "Terrorbegriff" erfolgreich zur Anwendung gebracht worden ist.

Ähnlich perfide schwadroniert Michael Borgstede in der "Welt", der hinsichtlich des Gazakriegs ein differenzierteres Bild mit Grauzonen und offenen Fragen ausgemacht haben will. Er wiederholt unter anderem die zynische Behauptung des ehemaligen Befehlshabers der britischen Truppen in Afghanistan, Oberst Richard Kemp, er glaube nicht, daß eine Armee "jemals größere Anstrengungen zur Verringerung der Opfer unter der Zivilbevölkerung und des Todes von unschuldigen Menschen unternommen" habe als die israelische in Gaza. Schließlich habe die Armee allein am 27. Dezember 2008 insgesamt 20.000 Warnanrufe getätigt und während der gesamten Offensive 165.000 Palästinenser persönlich oder automatisiert gewarnt wie auch 2.500.000 Flugblätter abgeworfen. [3] Wer diesen Propagandacoup für bare Münze nimmt und darüber verschweigt, daß die Bewohner des von der israelischen Armee abgeriegelten Gazastreifens nirgendwohin flüchten konnten, kann im Grunde nur als wissentlicher Kollaborateur von Kriegsverbrechern bezeichnet werden.

Letztlich geht es bei diesem Sperrfeuer gegen den Goldstone-Bericht darum, diesem mit diversen Täuschungsmanövern fehlerhafte Details zu attestieren, um daraus Schritt für Schritt abzuleiten, daß die Vorwurfslage gegen Israel nicht gerechtfertigt sei. In der liberalen Tageszeitung "Haaretz" erklärt der Journalist Ari Shavit, in dem latenten Kriegszustand, in dem sich der Nahe Osten befinde, könne lediglich Abschreckungskraft Kriege verhindern. Deshalb sehe sich Israel alle paar Jahre gezwungen, mit einer Machtdemonstration ein Absinken der Region in ein komplettes Chaos zu verhindern. Der jüngste Krieg im Gazastreifen habe den Status quo für eine kurze Zeit wiederhergestellt. Der Goldstone-Bericht habe jedoch dieses bei sehr hohen Verlusten unter der palästinensischen Bevölkerung erreichte Resultat wieder zunichtegemacht. Kritiker Israels, die in dasselbe Horn wie Goldstone stießen, verfolgten das Ziel, Israel zu verdammen und zu zerstören. Damit brächten sie die Region einem neuen Blutvergießen näher. [4]

Dieses Plädoyer für die Abschreckungskraft und Machtdemonstration der israelischen Kriegsführung, die allein das komplette Chaos verhindern könne, stellt die Verhältnisse vollends auf den Kopf. Das Massaker der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen, gerechtfertigt als unverzichtbarer Ordnungsfaktor zur Wiederherstellung des Status quo, wird mit dem Goldstone-Bericht kontrastiert, der dieses Resultat zunichte gemacht habe. Kritiker Israels wie Goldstone wollten das Land zerstören und brächten ein erneutes Blutvergießen näher. Israels Kriege dienen dem Frieden, während Goldstone und Konsorten die eigentlichen Kriegstreiber sind, lautet das Fazit dieser Verkettung abstruser Pseudoargumente im Dienst israelischer Herrschaftssicherung.

Anmerkungen:

[1] Israel will wegen Goldstone-Bericht Kriegsrecht ändern (22.10.09)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5hORIbdPOqhPor9ucc1Pn7KqAD2TQ

[2] Israel und der Goldstone-Bericht (21.10.09)

http://www.sueddeutsche.de/politik/255/465841/text/

[3] Um Gaza tobt nun ein Krieg der Worte (22.10.09)
http://www.welt.de/politik/ausland/article4928389/Um-Gaza-tobt-nun-ein- Krieg-der-Worte.html

[4] Emotionen ob des Goldstone-Berichts in Israel. Befürchtungen über eine kontraproduktive Wirkung der Untersuchung (20.10.09)
Neue Zürcher Zeitung

22. Oktober 2009