Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


MILITÄR/949: Rüstungskontrolle - die Umkehr bester Absichten ... (SB)


Rüstungskontrolle - die Umkehr bester Absichten ...


Nach dem Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag zum Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen im vergangenen August droht der nächste Angriff der Regierung von Präsident Donald Trump auf die Architektur der multilateralen Rüstungskontrolle. Seit der Veröffentlichung eines Artikels der britischen Zeitung Guardian am 5. April bezüglich entsprechender Beratungen der US-Außen- und Verteidigungsminister Mike Pompeo und Mark Esper verdichten sich die Hinweise, daß die USA demnächst den Open Skies Treaty mit Rußland, der beiden Ländern Kontrollflüge unbewaffneter Maschinen über das Territorium des Gegners gestattet, aufkündigen werden. Begründet wird der Schritt mit angeblichen Vertragsverletzungen Moskaus sowie dem Wunsch, Steuergelder einzusparen. Doch das eigentliche Motiv ist die ideologische Verblendung der in den USA regierenden Republikaner, die jede Art der Rüstungskontrolle für eine unzulässige und damit inakzeptable Einschränkung der gottgewollten Gestaltungsmacht Amerikas auf Erden halten.

Der Pentagonetat 2020 betrug rund 750 Milliarden Dollar. Darin war die vergleichsweise geringe Summe von 41,5 Millionen Dollar für die Anschaffung von Ersatzmaschinen für die beiden veralteten Boeing-Flugzeuge vom Typ OC-135B vorgesehen, mit denen zuletzt das US-Verteidigungsministerium seine Kontrollflüge über das Gebiet der Russischen Föderation absolvierte. Doch die Republikaner im Kongreß tun nun so, als würde man den gebeutelten amerikanischen Steuerzahler ernsthaft entlasten und die Sicherheit der USA erhöhen, wenn das Militär auf die Anschaffung und zugleich die Kontrollflüge verzichtet. Im März schrieben drei der profiliertesten Kriegsfalken im Senat, Richard Burr aus North Carolina, Tom Cotton aus Arkansas und Ted Cruz aus Texas, in einem Brief an Esper: "Die Kosten des OST gehen weit über die Geldverschwendung hinaus. Er erodiert unsere nationale Sicherheit, indem er russische Spionage über den Vereinigten Staaten ermöglicht."

Unerwähnt im Schreiben des republikanischen Trios bleibt die Tatsache, daß die USA seit 2002 insgesamt 200 Aufklärungsflüge über russischem Territorium, die Russen dagegen nur 70 über dem amerikanischen Festland durchgeführt haben. Zählt man man die Aufklärungsflüge der europäischen NATO-Partner dazu, die ebenfalls Unterzeichnerstaaten des 1992 ins Leben gerufenen OST sind, dann liegen die Vorteile des Arrangements eindeutig auf westlicher Seite. Dessen ungeachtet führen die Amerikaner einseitige Einschränkungen der Russen ins Feld, warum das Abkommen angeblich nicht mehr das Papier wert ist, auf dem es geschrieben wurde. Stein des Anstoßes sind zwei von Moskau verhängte Flugverbotszonen: Zum einen in einem Umkreis von 500 Kilometer um Kaliningrad, wo das russische Militär angeblich Atomraketen für einen eventuellen Angriff auf Ziele in Westeuropa stationiert haben soll, sowie in einer Breite von 10 Kilometern entlang der Grenze Georgiens zu den abgespaltenen, von Rußland anerkannten "Republiken" Abchasien und Südossetien.

Die Sperrung des Luftraums um Kaliningrad erfolgte, nachdem ein polnisches Flugzeug dort 2014 unangemeldet eingedrungen und sich durch einen seltsamen Zickzackkurs auffällig verhalten hatte. Doch wie die russische Zeitung Kommersant am 8. April berichtete, fand im Februar über Kaliningrad zum ersten Mal wieder seit längerem ein gemeinsamer Aufklärungsflug der estnischen, litauischen und amerikanischen Luftwaffe nach dem OST statt, ohne daß es zu irgendwelchen Schwierigkeiten von russischer Seite gekommen wäre. Wie der Guardian am 13. Mai berichtete, haben sich 16 ehemalige NATO-Vertreter im Namen des European Leadership Network (ELN) in einem offenen Brief an die Trump-Administration für den OST als Säule strategischer Stabilität und Berechenbarkeit im eurasischen Raum stark gemacht und einen Verbleib der USA im Vertrag plädiert. Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehörten der ehemalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, General a. D. Klaus Naumann, der ehemalige Chef der französischen Luftwaffe, General a. D. Bernard Norlain, und der ehemalige britische Generalstabschef, General Sir David Richards.

Bereits letztes Jahr hatte das State Department Mike Pompeos an alle NATO-Partner geschrieben und sie um ihre Meinung zur Frage einer Beibehaltung oder Abschaffung des OST gebeten. Die Antwortschreiben sind niemals veröffentlicht worden. Dennoch geht man davon aus, daß sich alle europäischen NATO-Hauptstädte für ersteres ausgesprochen haben. Doch wie man aus dem ersten Besuch Donald Trumps bei der NATO im Mai 2017 weiß, als er mit seiner aggressiven, polternden Art alle anderen Staatschefs vor dem Kopf stieß, sieht der amtierende US-Präsident in der Allianz einen lästigen Klotz am Bein, den es abzuschütteln gilt. Wegen Trumps "America First"-Politik geht man in Kreisen der russischen Diplomatie jetzt davon aus, daß die USA im kommenden Februar den New START Treaty, den Barack Obama und Dmitri Medwedew 2009 unterzeichnet haben und der die Zahl der Washington und Moskau unmittelbar zur Verfügung stehenden Atomsprengköpfe auf 1550 begrenzt, auslaufen lassen werden. Das wäre dann das endgültige Aus für die strategische Rüstungskontrolle, wie wir sie seit den Tagen John F. Kennedys und Nikita Chrustschows, Richard Nixons und Leonid Breschnews, Ronald Reagans und Michail Gorbatschows kennen. Der Ausstieg aus dem OST ist nur ein kleiner Zwischenschritt zum Erreichen dieses von den Republikanern langersehnten Ziels und deshalb wird er von den USA vollzogen werden.

16. Mai 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang