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MILITÄR/918: Nervengift in England - Parteikarrieren gehen vor ... (SB)


Nervengift in England - Parteikarrieren gehen vor ...


Der angebliche Mordanschlag auf den 66jährigen russischen Ex-Agenten Sergej Skripal und seine 33jährige Tochter Julia am 4. März im englischen Salisbury hat hohe Wellen geschlagen und zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen den NATO-Staaten und Rußland geführt, die in ihrer Schnelligkeit einzigartig ist. Die Hauptverantwortlichen für die Krise sitzen in London. Ohne der Öffentlichkeit einen einzigen Beweis vorzulegen, haben Premierministerin Theresa May und Außenminister Boris Johnson offen den russischen Präsidenten Wladimir Putin beschuldigt, einen Angriff mit einem chemischen Kampfstoff in England und damit den erstmaligen Einsatz von Massenvernichtungswaffen in Europa seit 1945 in Auftrag gegeben zu haben.

Am 15. März haben sich die USA, Deutschland und Frankreich diesem voreiligen Urteil angeschlossen. Die Zeichen stehen auf Krieg. Die nächste Eskalation könnte in Syrien erfolgen, wo russische Streitkräfte seit 2015 die Syrische Arabische Armee (SAA) im Kampf gegen islamistische Rebellen unterstützen. Aktuell ziehen sich größere Marinestreitkräfte der NATO im Mittelmeer und im Persischen Golf zusammen, und so steht zu befürchten, daß demnächst die Nachricht vom Einsatz chemischer Waffen durch die Syrer als Vorwand für massive Bomben- und Raketenangriffe genutzt werden könnte.

Was wirklich am 4. März im südenglischen Salisbury vorgefallen war, ist bis heute unklar. Julia Skripal war zu Besuch bei ihrem Vater. Das ehemalige Mitglied des russischen Militärgeheimdienstes lebt seit 2010 in Großbritannien. 2006 war er wegen illegaler Zusammenarbeit mit dem britischen Auslandsgeheimdienst MI6 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden, kam später jedoch im Rahmen eines Agentenaustausches mit dem Westen frei. Am besagten Sonntagmittag hatten die beiden Skripals in einem Restaurant in Salisbury, wo der Vater wohnt, gemeinsam gegessen. Am späten Nachmittag wurden sie bewußtlos an einer Parkbank gefunden. Am 5. März berichtete die Lokalzeitung Salisburys, die Polizei vermute eine Vergiftung mit dem synthetischen Opioid Fentanyl. Die Notärztin, die sich um die Tochter gekümmert hat, will keine chemischen Substanzen bemerkt haben.

Erst am 8. März ging das große Theater los, als die britische Innenministerin Amber Rudd, ohne jemanden direkt zu beschuldigen, von einem "hinterhältigen Mordversuch" sprach. Wenige Tage später erklärte Premierminister May im Parlament, es habe sich um einen Anschlag mit einem chemischen Kampfmittel namens Novichok, das "mit hoher Wahrscheinlichkeit" aus Rußland stamme, gehandelt. Sie legte sich darauf fest, daß es nur zwei mögliche Erklärungen geben könnte: Entweder habe Rußland die Kontrolle über sein Waffenarsenal verloren oder den Anschlag selbst angeordnet. Sie gab Moskau 48 Stunden Zeit, um zu erklären, welche der beiden Varianten die richtige sei.

Rußland hat das Ultimatum als "vollkommen inakzeptabel" und die Vorwürfe als "absurd" bezeichnet. Schließlich hat im September 2017 die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) der Russischen Föderation offiziell bescheinigt, ihre gesamten Bestände an chemischen Kampfstoffen samt Laboren und Produktionsstätten vernichtet zu haben. Gegen Mays Behauptung, Novichok könne nur aus Rußland stammen, spricht der Umstand, daß solche Mittel während der Sowjetära ausschließlich in Usbekistan erforscht wurden. Dort haben nach dem Ende des Kalten Kriegs die Amerikaner die entsprechende Forschungsanlage demontiert. Der Vater der gesamten Novichok-Forschung, Wil Mirzanjanow, lebt seit Jahren in den USA. Vielleicht deshalb behauptet nun der britische Außenminister Johnson, Rußland betreibe an der OPCW vorbei heimlich - und damit illegal - Nervengiftforschung. Ein ähnlicher Vorwurf wird von westlichen Mächten gerne erhoben, etwa wenn es darum geht, nach irgendwelchen Giftgaseinsätzen der Rebellen in Syrien die Behauptung in die Welt zu setzen, Damaskus habe die 2013 versprochene Beseitigung seiner C-Waffenfähigkeiten doch nicht erfüllt, sondern setze - mit Duldung Rußlands, versteht sich - weiterhin derlei Kampfmittel im Krieg ein. Die syrische und die russische Regierung haben diesen Vorwurf wiederholt als infame Lüge zurückgewiesen.

Fest steht, daß der Anschlag auf die Skripals nur 14 Kilometer vom größten Chemiewaffenlabor Europas, der britischen Militäreinrichtung Porton Down, stattfand. Verteidigungsminister Gavin Williamson, der vor Wochen von einer Seitensprungaffäre abzulenken versuchte, indem er von "Tausenden von Toten" in Großbritannien infolge eines russischen Hackerangriffs fabulierte, hat vor wenigen Tagen unter Hinweis auf den Skripal-Vorfall Porton Down 48 Millionen Pfund an neuen Forschungsgeldern bewilligt. Anschließend erklärte er der russischen Regierung, sie solle "die Schnauze halten". Auch Mays und Johnsons Benehmen in diesem Zusammenhang strotzt nur so vor britischer Arroganz. Die Premierministerin empörte sich darüber, daß die bisherigen Einlassungen Moskaus von "Trotz" zeugten, während Johnson die Weigerung des Kreml, ihn und seine konservative Parteichefin ernst zu nehmen, zum "Beweis" dafür erklärte, daß Putins Schergen hinter dem "Anschlag" steckten.

Das britische Militär hat Teile von Salisbury quasi in ein militärisches Sperrgebiet verwandelt. Am Restaurant, an der Werkstatt, wohin Sergej Skripals Auto abgeschleppt wurde, sowie an der Wohnung des russischen Überläufers ist das Militär aufgefahren; Chemiker laufen in Spezialanzügen herum, Plastikzelte werden überall aufgebaut und schweres Kriegsgerät sichtbar für die Fernsehkameras in Stellung gebracht. Unklarheit herrscht sowohl über den genauen Ort der Vergiftung als auch über das verwendete Mittel. Sollte das extrem toxische Novichok in Spiel gewesen sein, wie kann es sein, daß die Notfallärztin und ihre Kollegen, die als erste die Skripals behandelten, keine Negativfolgen erlitten haben?

Für den Verdacht, daß es sich hier um eine Inszenierung handeln könnte, spricht einiges. Auf seinem vielgelesenen Blog behauptet Craig Murray, der in den Nullerjahren als britischer Botschafter in Usbekistan von der Regierung Tony Blair gefeuert wurde, nachdem er sich gegen die Folter von "Terrorverdächtigen" mit Zustimmung der CIA und des MI6 ausgesprochen hatte, über seine Kontakte im gehobenen britischen Staatsdienst erfahren zu haben, daß die Experten in Porton Down das verwendete Gift bisher nicht haben identifizieren können und dennoch unter enormem Druck stünden, "Beweise" für die offizielle Linie der Regierung in London zu finden. Dies würde vielleicht erklären, warum sich Großbritannien bislang weigert, Rußland eine Probe von dem gefundenen Material zukommen zu lassen, obwohl dies die Chemiewaffenkonvention ausdrücklich vorschreibt.

Man sollte auch nicht vergessen, daß es die Blair-Regierung war, die im September 2002 die Pläne der USA für einen Krieg gegen den Irak mit einem extrem wichtigen Impuls unterstützte. Damals veröffentlichte Downing Street ein Dossier, in dem stand, nach Erhalt eines entsprechenden Befehls von Saddam Hussein könnten die irakischen Streitkräfte "innerhalb von 45 Minuten" Großbritannien mit ballistischen Raketen, die mit C-Waffen bestückt wären, angreifen. Die Schauergeschichte machte weltweit Schlagzeilen und heizte in Großbritannien und in den USA die Kriegsstimmung erheblich an.

Tatsächlich war nicht von einem direkten Angriff auf das britische Festland selbst, sondern auf britische Basen in Zypern die Rede - ein ziemlicher Unterschied, der jedoch im ganzen Tohuwabohu unterging. Später stellte sich heraus, daß der einzige Hinweis des MI6 für derlei Absichten der Iraker von einem Taxifahrer in Bagdad stammte. Dieser soll die brisanten Informationen aus dem Gespräch zweier Kunden auf dem Rücksitz seines Taxis erlauscht haben. Unvergessen bleibt auch die Tatsache, daß Professor David Kelly, damals Biowaffenexperte in Porton Down, im Juli 2013 in einem Waldstück tot aufgefunden wurde, nachdem er kurz zuvor dem BBC-Journalisten Andrew Gilligan offenbart hatte, daß das ganze Szenario einer vom Irak ausgehenden Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen erstunken und erlogen war.

19. März 2018


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