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MILITÄR/889: Ex-US-Geheimdienstler warnen Merkel vor Ukraine-Eskalation (SB)


Ex-US-Geheimdienstler warnen Merkel vor Ukraine-Eskalation

Die Kassandra-Rufe von VIPS erreichen Berlin



Scheinbar unaufhaltsam spitzt sich die Krise um die Ukraine und die Konfrontation zwischen der NATO und Rußland mit jedem Tag weiter zu. Die zahlreichen von Medien und Politik breitgetretenen Gedenkveranstaltungen zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren kommen einem wie der reine Hohn vor, angesichts der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Staatsmänner und -frauen von heute, die Entwicklung hin zum ganz großen Inferno - dem atomaren Schlagabtausch - zu stoppen. Statt dessen wird vom Westen, dessen Selbstgerechtigkeitsgefühl offenbar keine Grenzen kennt, immer neues Öl ins Feuer gegossen. Deutschlands Präsident Joachim Gauck hat seine Rede am 1. September auf der polnischen Halbinsel Westerplatte vor Gdansk genutzt, um Rußland zum Paria unter den Industrienationen und Wladimir Putin quasi zum Kriegstreiber Europas zu stempeln. Die NATO entsendet zusätzliche Streitkräfte in das Baltikum und Osteuropa und will auf ihrem Gipfeltreffen im walisischen Cardiff am 4. und 5. September im Beisein des ukrainischen Staatsoberhaupts Petro Poroschenko Rußland zur strategischen Bedrohung erklären.

In den USA treiben die Russophoben, die durch den von ihnen herbeigeführten, gewaltsamen Sturz des amtierenden ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Februar den Zusammenbruch der Partnerschaft des Westens mit Rußland verursacht haben, Barack Obama vor sich her. In den Medien werfen die Anhänger der neokonservativen Ideologie dem US-Präsidenten vor, durch Zögerlichkeit und ein Zuviel an Entgegenkommen gegenüber Putin die aktuellen Krisen in der Ukraine, in Syrien und im Irak verursacht zu haben. (Das Chaos in Libyen erwähnen sie aus naheliegenden Gründen mit keinem Wort.) Angesichts der Dauerkritik an seinem Führungsstil fällt es Obama schwer, sich den Kriegsfalken im Kongreß, wie den beiden republikanischen Senatoren John McCain und Lindsey Graham, in den Weg zu stellen.

Vor diesem brenzligen Hintergrund hat sich eine Gruppe ehemaliger ranghoher US-Geheimdienstler, die sich Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS) nennt, mit einem offenen Brief an Angela Merkel gewandt in der Hoffnung, die deutsche Bundeskanzlerin könnte in eine Vermittlerrolle treten und die NATO und Rußland aus der scheinbar zwangsläufigen Eskalation führen. Der Brief ist auf den 30. August datiert und am 1. September auf der Website Consortiumnews.com des früheren AP- und Newsweek-Reporters Robert Parry, der in den achtziger Jahren einen wichtigen Beitrag zur Aufdeckung der Iran-Contra-Affäre geleistet hat, erschienen. [1]

VIPS hatte erstmals am 7. Februar 2003 mit einem offenen Brief an George W. Bush von sich Reden gemacht. Damals tat die Gruppe das Material, das US-Außenminister Colin Powell zwei Tage zuvor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen in den Händen Saddam Husseins und einen "finsteren Nexus" zwischen dem Irak und Osama Bin Ladens Al-Kaida-"Netzwerk" vorgelegt hatte, als Produkt von Geheimdienstmanipulationen seitens der Neocons im Pentagon und der CIA ab. Wie erwartet ignorierte Bush jun. den VIPS-Brief. Später sollten sich die Vorwürfe der Fälschung von Geheimdiensterkenntnissen als richtig herausstellen. Die von VIPS prognostizierte Katastrophe im Irak trat ein und dauert heute immer noch an.

Die VIPS-Gruppe führt Bundeskanzlerin Merkel die Parallele von damals und heute vor Augen:

Sie müssen wissen, daß die Behauptungen bezüglich eines größeren russischen Einmarsches in die Ukraine offenbar nicht durch verläßliche Geheimdiensterkenntnisse gestützt werden. Statt dessen scheinen die "Erkenntnisse" von derselben zweifelhaften, politisch vorgegebenen Art zu sein, die man vor 12 Jahren benutzte, um den von den USA angeführten Angriff auf den Irak zu "rechtfertigen".

Wir sahen damals keinen glaubhaften Beweis für Massenvernichtungswaffen im Irak; wir sehen heute keinen glaubhaften Beweis für eine russische Invasion. Vor zwölf Jahren hat sich Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sich der Dürftigkeit der Beweise für irakische Massenvernichtungswaffen bewußt war, geweigert, sich am Überfall auf den Irak zu beteiligen. Unserer Meinung nach sollten Sie dementsprechend die Behauptungen seitens des US-Außenministeriums und NATO-Vertretern bezüglich einer russischen Invasion mit Skepsis betrachten.

Die Geheimdienstveteranen sprechen vor allem Außenminister John Kerry und NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen jede Glaubwürdigkeit in der Ukraine-Krise ab und erinnern daran, wie beide Männer vor genau einem Jahr vergeblich einen angloamerikanischen Luftangriff auf die syrischen Streitkräfte mit "Beweisen" für deren Beteiligung an einem Giftgasangriff bei Damaskus zu provozieren versuchten. Später sollte sich herausstellen, daß hinter dem Vorfall nicht die Truppen um Syriens vielgeschmähten Präsidenten Baschar Al Assad, sondern die islamistischen Rebellen steckten, die mit Hilfe irgendwelcher Geheimdienste - diejenigen der USA, der Türkei und Saudi-Arabien führen die Liste der Verdächtigen an - eine klassische "Falsche-Flagge-Operation durchgeführt hatten.

Nach Einschätzung der VIPS-Gruppe, deren Mitglieder früher zum Teil in der Nachrichtenauswertung gearbeitet haben, liefern weder die veröffentlichten Satellitenbilder der Geheimdienste der NATO bezüglich irgendwelcher Panzerbewegungen in der Grenzregion Ukraine-Rußland noch die jüngsten Erfolge der ostukrainischen Regierungsgegner einen Beleg für eine russische Invasion, sondern weisen vielmehr auf die "Unfähigkeit" und "mangelnde Führungsqualität" des Generalstabs in Kiew hin. Demnach stammen die Panzer, mit denen die Aufständischen in letzter Zeit gesichtet wurden, nicht aus russischen Beständen, sondern sind im Verlauf der Kämpfe erbeutet worden.

Die Geheimdienstveteranen, darunter Ray McGovern, der jahrelang das Daily Presidential Briefing (DPB) vorbereitete und dieses jeden Morgen Ronald Reagan und später George Bush sen. im Weißen Haus vortrug, sowie William Binney, einst führender Analytiker der National Security Agency (NSA), appellieren deshalb an Merkel, die Sorgen Rußlands vor der Einkreisung durch die NATO und die Unterstützung, welche die Rebellen in der Ostukraine genießen, zur Kenntnis zu nehmen und den gefährlichen Ostwärtsdrang der nordatlantischen Allianz aufzuhalten. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die Kassandrarufe von VIPS zur Ukraine-Krise genauso wirkungslos wie vor 11 Jahren im Fall des Nahen Ostens verhallen.


Fußnote:

1. http://www.consortiumnews.com/2014/09/01/warning-merkel-on-russian-invasion-intel/

2. September 2014