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MILITÄR/877: Wer waren die Scharfschützen auf dem Kiewer Maidan? (SB)


Wer waren die Scharfschützen auf dem Kiewer Maidan?

Ungewöhnliches Vorgehen läßt auf Spezialstreitkräfte schließen



Am 5. März, mitten in der Krim-Krise, hat der russische Nachrichtensender Russia Today durch die Veröffentlichung einer Gesprächsaufzeichnung zwischen der Außenbeauftragten der EU, Baroness Catherine Ashton, und dem estnischen Außenminister Urmas Paet für eine Sensation gesorgt. Auf dem Audiomitschnitt, dessen Echtheit von der Regierung in Tallinn inzwischen bestätigt worden ist, tauschen sich die beiden EU-Diplomaten unter anderem über Hinweise aus, wonach die Scharfschützen, die am 20. Februar in Kiew, am blutigsten Tag der Proteste auf dem dortigen Maidan-Platz, 60 Menschen erschossen, nicht - wie von westlichen Medien kolportiert - aus den Reihen der Sicherheitskräfte um Präsident Viktor Janukowitsch, sondern aus denen der Opposition stammten. (Insgesamt sind bei den wochenlangen Protesten in der ukrainischen Hauptstadt, die am 22. Februar mit der Flucht von Janukowitsch und der Machtergreifung durch dessen politische Gegner zu Ende gingen, mindestens 79 Menschen getötet und 570 verletzt worden.)

Das Gespräch zwischen Ashton und Paet fand am 25. Februar, nach einem eintägigen Besuch des estnischen Außenministers in Kiew, statt. Unter Berufung auf die Ärtzin Olga Bogomolets, die während der Proteste die medizinische Versorgung verletzter Demonstranten leitete, berichtete Paet der EU-Außenbeauftragten von "beunruhigenden" Erkenntnissen, wonach es "dieselben Scharfschützen" gewesen sein sollen, die "Polizisten und die Leute auf der Straße" bzw. "die Leute von beiden Seiten ... töteten". "Es drängt sich der Verdacht auf, daß nicht Janukowitsch, sondern jemand aus der neuen Koalition hinter den Scharfschützen stand", sagt der Minister. Ashton äußerte sich bestürzt über die Information und spricht sich für eine Untersuchung der Vorfälle aus. Dagegen wendet Paet ein, daß die "neue Koalition ... nicht untersuchen will, was genau passiert ist". Damit hätten sich die neuen Machthaber in Kiew selbst "gleich zu Beginn diskreditiert", stellt er deprimierend fest.

Insgesamt gibt sich Paet wenig optimistisch über die weitere Entwicklung in der Ukraine und sagt Ashton, viele Menschen hätten wenig Vertrauen in die neue Regierung, von deren Mitgliedern einige eine "schmutzige Vergangenheit" hätten. Gemeint sind vermutlich die Angehörigen der rechtsextremen Partei Swoboda, die gleich fünf Posten in der neuen Administration, darunter auch die des Generalstaatsanwalts, erhalten hat, und die nationalistische Paramilitärgruppierung Prawji Sektor, deren Vorsitzender Dimitri Jarosch Stellvertretender Chef der Nationalen Sicherheit wurde. Gegen Jarosch wird seitens der Behörden in Moskau wegen des Aufrufs am 1. März an Dokka Umarow, einen Al-Kaida-nahestehenden tschetschenischen Anführer, zu Anschlägen gegen Ziele in Rußland wegen der Mobilisierung der russischen Streitkräfte auf der Krim, polizeilich ermittelt.

Im Internet findet man bestätigende Hinweise für den Verdacht, daß die tödlichen Schüsse auf die Demonstranten am Maidan nicht - jedenfalls nicht nur - von der Sonderpolizei kamen. Sehenswert ist zum Beispiel die Videoaufnahme "BBC Raw: Under sniper fire in Ukraine uprising" vom 20. Februar im Zentrum von Kiew. [1] In der etwa zehnminütigen Sequenz, die im britischen Fernsehen nicht ausgestrahlt, sondern erst am 28. Februar ins Netz gestellt wurde, begleitet Kameramann Jack Garland seinen Reporterkollegen Gabriel Gatehouse. Zu Beginn der Aufnahme stehen sie auf der Straße und beobachten, wie reihenweise Menschen mit Schußverletzungen in ein provisorisches Krankenhaus hineingetragen werden. Nach kurzer Zeit brechen die beiden Männer in Richtung des naheliegenden Maidan-Platzes auf. Auf dem Weg dorthin geraten sie und die Demonstranten in ihrer unmittelbaren Nähe unter Beschuß. Nachdem sie hinter der Säule des Portals eines Regierungsgebäudes Schutz gefunden haben, zeigt Gatehouse auf ein großes Haus auf der anderen Seite der Straße und stellt mit einer gewissen Überraschung in seiner Stimme fest, daß die Schüsse aus ihrem Hotel kämen. Gemeint ist das 16stöckige Hotel Ukraine, das den Maidan-Platz und die umliegenden Zufahrtsstraßen überragt. (Das Hotel Ukraine lag den Demonstranten quasi im Rücken.) Gatehouse kann sogar das offene Fenster identifizieren - "fünf von links und zwei von oben" -, von wo aus der Mörder schießt, und bittet Garland mit der Kamera heranzuzoomen, was dieser auch tut. Der Schütze ist jedoch nicht zu sehen, da die Vorhänge bis auf einen kleineren Schlitz vorgezogen sind.

Noch erschreckender und brutaler ist die Analyse, welche unbekannte Personen anhand verschiedener Presseaufnahmen von tödlichen Schüssen auf Demonstranten am 20. Februar zusammengestellt und unter dem Titel "Maidan. Inconvenient truth: shooting in the back" sowie mit englischen und russischen Untertiteln versehen auf der Webseite Liveleak.com veröffentlicht haben. [2] In der sechseinhalbminütigen Produktion werden verschiedene Aufnahmen in Echtzeit und Slowmotion gezeigt, auf denen sich Regierungsgegner in Richtung Polizeiabsperrung auf dem Maidan bewegen, plötzlich unter Feuer geraten und sich zurückzuziehen versuchen. Auch hier ist immer wieder eindeutig zu erkennen, daß die Schüsse aus einer für die Opfer unerwarteten Richtung - nämlich von hinten, aus der Richtung des Hotels Ukraine - kommen.

Bisher weiß niemand, wer die Scharfschützen waren und wer sie befehligte. Die Vermutung liegt jedoch nahe, daß hinter der Aktion Kräfte standen, die zwecks eines Regimewechsels eine Zuspitzung der Lage in Kiew beabsichtigten. Der politische Analyst F. William Engdahl hält es für möglich, daß an der Aktion Mitglieder der rechtsextremen UNA-UNSO beteiligt gewesen sein könnten. Während des Kalten Krieges arbeitete die ukrainisch-nationalistische UNA-UNSO eng mit der CIA gegen die Sowjetunion zusammen und war in das berüchtigte Stay-Behind-Projekt der NATO - auch Gladio genannt - verwickelt. Einige UNA-UNSO-Angehörige haben in den letzten Jahren in Tschetschenien und in Georgien an Kämpfen gegen die russische Armee teilgenommen. Bei den Protesten am Maidan hat sich die UNA-UNSO dem bereits erwähnten Prawji Sektor angeschlossen.

Aus naheliegenden Gründen geht der Likeleaks-Videoschnitt über die "unbequeme Wahrheit" am Maidan mit einem Foto von Victoria Nuland, der für Europäische und Eurasische Angelegenheiten im State Department zuständigen Staatssekretärin, und Geoffrey Pyatt, dem US-Botschafter in Kiew, zu Ende. Das Bild, auf dem im Hintergrund das Hotel Ukraine deutlich zu erkennen ist, entstand vor wenigen Wochen, als sich die beiden US-Diplomaten mit den Anti-Janukowitsch-Demonstranten auf dem Maidan-Platz solidarisierten. Nuland, die in Washington der neokonservativen Kriegstreiberfraktion angehört, und Pyatt sorgten Anfang Februar international für Schlagzeilen, als der russische Geheimdienst ein Telefongespräch der beiden vom 25. Januar im Internet veröffentlichte. In dem Mitschnitt geht es um die Proteste in der Ukraine und den Versuch, an den Europäern vorbei - "Fuck the EU" - Janukowitsch zum Rücktritt zu zwingen, und an dessen Stelle den Oppositionsführer Arseni Jazenjuk als Regierungschef einzusetzen. Wenige Tage nach dem Massaker auf dem Maidan war dieses Ziel erreicht.

Fußnoten:

1. http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-26398112

2. http://www.liveleak.com/view?i=5dc_1393953567#BZMW7p4A9oSIwWgD.99

6. März 2014