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MILITÄR/826: Neue Strategie der NATO unter Einbindung Rußlands (SB)


Albright-Entwurf soll in Lissabon verabschiedet werden


Der Entwurf einer neuen Strategie der NATO wurde von einer zwölfköpfigen internationalen Expertengruppe unter Leitung der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright erarbeitet, wobei für die Bundesregierung der frühere deutsche NATO-Botschafter Hans-Friedrich von Ploetz in diesem Gremium saß. Am 14. Oktober berieten die Außen- und Verteidigungsminister der NATO den Entwurf, der am 19. und 20. November auf dem Gipfel in Lissabon von den Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsländer verabschiedet werden soll. Die letzte vergleichbare strategische Ausrichtung des Bündnisses im Jahr 1999 wird mit dem neuen Konzept konsequent fortgesetzt, jedoch angesichts der seither vollzogenen Eskalation von Angriffskriegen und Besatzungsregimes im Kontext des sogenannten Antiterrorkriegs modifiziert, ergänzt und zugespitzt.

Während im kalten Krieg als Bündnisfall nach Artikel 5 ein bewaffneter Angriff auf eines der 28 Mitglieder galt, der als Aggression gegen alle NATO-Staaten deren gemeinsames Handeln nach sich ziehen sollte, hat sich das westliche Militärbündnis längst von der Beschränkung auf den territorialen Verteidigungsfall emanzipiert. Die Sicherheit der Mitglieder ist heute an ihre globalen Interessen gekoppelt und wird dementsprechend jenseits des ursprünglichen Bündnisgebiets offensiv durchgesetzt. Damit hat das Militärbündnis gut sechs Jahrzehnte nach seiner Gründung den weltweiten Raubzug in den Rang seines Sicherheitsinteresses erhoben und die Zerschlagung jedweder Hindernisse als unabweislichen Rechtsanspruch für sich reklamiert.

In diesem Sinn bleibt kollektive Sicherheit auch im neuen Konzept die zentrale Aufgabe der NATO, die nach offizieller Doktrin jedoch nicht gegen feindliche Blöcke oder Länder, sondern die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, den Zerfall von Staaten und den "internationalen Terrorismus" zu Felde zieht. In Verfolgung dieser als Ordnungsfunktion verschleierten Angriffsstrategie sieht sich das Bündnis mit den Grenzen seiner Kapazität konfrontiert und drängt daher auf eine noch stärkere Einbindung anderer internationaler Akteure.

Die Expertengruppe um Albright schlägt diesbezüglich ein Modell dreier Kreise vor, deren innerster das Bündnisgebiet umfaßt, während der zweite im Umfeld bis nach Rußland und dem Mittleren Osten reicht, der dritte Kreis den Rest der Welt einschließt. Ein alleiniges Eingreifen der NATO ist nach diesem Konzept um so wahrscheinlicher, je näher die postulierte Bedrohung am Kerngebiet des Bündnisses angesiedelt ist. Demgegenüber will sich das westliche Militärbündnis bei Einsätzen an der Peripherie im Zusammenspiel mit den Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder beispielsweise der Afrikanischen Union engagieren. Während also die globale Interessensphäre stärker denn je beansprucht wird, fordert die NATO künftig verstärkt die Rekrutierung anderer supranationaler Strukturen als militärische und ideologische Hilfstruppen ein.

An Bedeutung gewinnen wird auch Artikel 4 des NATO-Vertrags, der allen Mitgliedsländern das Recht einräumt, bei Gefährdung ihrer territorialen Integrität, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit die Partner zur Konsultation zu zwingen. Künftig kann ein Land unter Verweis auf seine gefährdete Energiesicherheit oder Lebensmittelversorgung auf die rückhaltlose Unterstützung der übrigen Mitgliedsländer bei der militärischen Bewältigung der Problemlage drängen. In diesem Sinn formuliert das nordatlantische Bündnis die Notwendigkeit, seine Streitkräfte aus einer statischen Aufstellung des kalten Krieges hin zu einer flexibleren, mobileren und wendigeren zu verändern, da die NATO beweglich und effizient sein müsse, um weit entfernt agieren zu können. Zudem zielt der Strategieentwurf darauf ab, in einem vernetzten Ansatz von militärischen und zivilen Maßnahmen als zentraler Organisator aufzutreten.

Da ein strategisches Bündnis zwischen Rußland und China der denkbar schwerste Rückschlag für die NATO wäre, erfordert der Umgang mit Moskau sehr viel mehr Fingerspitzengefühl als noch vor zehn Jahren. Zunächst schien mit dem Untergang der Sowjetunion der Hauptrivale endgültig ausgeschaltet zu sein, worauf die westlichen Mächte darangingen, die endgültige Zerschlagung des ehemaligen Ostblocks zu betreiben und Rußland zugleich von innen her zu zersetzen. Was unter Jelzin so gut wie bewerkstelligt schien, wurde von Putin auf ungeahnte Weise durchkreuzt, dessen Führung seinem wiedererstarkenden Land verloren geglaubten Zusammenhalt und Einfluß verschaffte. Zwar hatte die NATO unterdessen durch Aufnahme ehemaliger Staaten des Warschauer Pakts bis an die Grenze Rußlands die Einkreisung vervollkommnet und die Raketenabwehrpläne vorangetrieben, doch stieß diese Offensive zunehmend auf Widerstände, die eine differenziertere Vorgehensweise erforderlich machen.

Um Rußland einzubinden und darüber zu neutralisieren, wurde nach dem Ende des Georgien-Konflikts der NATO-Rußland-Rat wiederbelebt und im April 2010 ein neues START-Abkommen unterzeichnet. Ein heißes Eisen blieb beiderseits jedoch eine mögliche Mitgliedschaft in der NATO, die das transatlantische Bündnis vermeidet, da es Rußland nicht zum dauerhaften Partner haben, sondern auf lange Sicht unterwerfen will. Gefragt sind daher taktische Optionen einer Kooperation, die der neue Entwurf ausdrücklich anmahnt, indem er die Zusammenarbeit mit anderen Partnern wie insbesondere Rußland als höchst wünschenswert ausweist. Empfohlen wird unter anderem eine Verzahnung in Fragen der Abrüstung und Raketenabwehr oder Bekämpfung von Drogenhändlern und Piraten. Zugleich sollen aber die baltischen und osteuropäischen Staaten, die angesichts ihre Nähe zu Rußland konkrete Zeichen der Verteidigungsbereitschaft fordern, mit Übungen, einsatzfähigen Truppen, Notfallplanungen und Versorgungsplänen beruhigt werden, womit die NATO ihre Präsenz an der russischen Grenze weiter verstärkt. Da sich die Raketenabwehr gegen Rußland richtet, was offiziell vehement bestritten wird, hat man sich darauf verlegt, sie als unverzichtbaren Schutz Europas vor einem möglichen Raketenangriff des Irans auszuweisen.

Einem partiellen Alleingang der Bundesregierung, die mit Hilfe eines Abzugs der hierzulande stationierten US-Atomwaffen nicht zuletzt vor der eigenen Bevölkerung Friedensbemühungen vortäuschen möchte, die den Ausbau ihres konventionellen Angriffspotentials nicht tangieren, erteilt der Entwurf eine Absage. Solange Atomwaffen existierten, benötige die NATO verläßliche Nuklearwaffen mit einer breit angelegten Verantwortung für Stationierung und operationelle Unterstützung.

Am Rande des Gipfels der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G 20) im südkoreanischen Seoul hat sich Rußlands Außenminister Sergej Lawrow nun offen für die Beteiligung seines Landes am geplanten NATO-Raketenabwehrsystem in Europa gezeigt. Voraussetzung sei allerdings eine "gleichberechtigte Zusammenarbeit", wollte Lawrow bloße Handlangerdienste Moskaus ausschließen. Mit "gutem Willen" und "gegenseitigem Respekt" sei der Aufbau eines gemeinsamen Raketenschildes möglich, der sich jedoch nicht gegen Drittländer richten dürfe, sondern hervorheben solle, daß Rußland und die NATO "gemeinsamen Risiken" gegenüberstünden. [1]

Dem Vernehmen nach will die NATO auf dem Gipfel in Lissabon, an dem Rußland teilnimmt, der russischen Regierung im Gegenzug für die Beteiligung an der Raketenabwehr Zugang zu einigen Daten von US-Militärsatelliten gewähren. Nachdem die Pläne der NATO zur Errichtung einer Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen lange Zeit für erhebliche Spannungen mit Moskau gesorgt haben, zeichnet sich damit eine Einigung ab.

Unterdessen hat Außenminister Guido Westerwelle in der Bundestagsdebatte über das neue strategische Konzept der NATO betont, daß Deutschland Militärschläge als Reaktion auf Cyber-Attacken ablehnt. Angriffe aus dem Internet oder auf die Energieversorgung zählen zu den Gründen, die dem geplanten Konzept zufolge künftig die Ausrufung des Bündnisfalls nach sich ziehen sollen. Westerwelle verwies in diesem Zusammenhang auf Artikel 4 des Nordatlantikvertrags, der im Falle von Streitigkeiten zunächst Beratungen der NATO-Mitglieder vorsieht. [2]

Da NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen den Entwurf zum neuen strategischen Konzept als geheim eingestuft hatte, kam es zu der extremen Situation, daß der Bundestag über das Thema debattierte, ohne daß das entsprechende Dokument vorlag. Die Bundesregierung hatte sich geweigert, den Abgeordneten das Papier vorzulegen, worauf letzten Endes nur vierzehn Parlamentarier in der Geheimschutzstelle Einblick nehmen durften.

Anmerkungen:

[1] G-20-Gipfel. Russland bereit zu Beteiligung an Raketenabwehr (12.11.10)
http://www.welt.de/politik/ausland/article10893110/Russland-bereit-zu-Beteiligung-an-Raketenabwehr.html

[2] Deutschland lehnt Nato-Schlag gegen Cyber-Attacken ab (11.11.10)
http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE6AA0IV20101111

12. November 2010