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MEDIEN/431: Twitter in Teheran gut - Twitter in Pittsburgh böse (SB)


Twitter in Teheran gut - Twitter in Pittsburgh böse

Demokratie von unten beim G20-Gipfel in den USA unerwünscht


Was haben sich die Menschen Hoffnung gemacht, daß mit dem Einzug Barack Obamas, des ersten Präsidenten der USA, ein Wandel in der Innen-und Außenpolitik Amerikas einhergehen würde. Inzwischen stellt sich immer mehr heraus, daß die einzige "Change" im Austausch eines verbrauchten, ignoranten, reaktionären "good ol' boy" aus Texas gegen einen smarten, rhetorisch-gewandten, liberalen Vorzeigeanwalt aus Chicago als Galionsfigur der (noch) einzig verbliebenen Supermacht auf Erden bestanden hat. Dies mußten am eigenen Leibe am 24. und am 25. September die rund 5000 Globalisierungsgegner erleben, die bei ihrem Versuch, gegen den G20-Gipfel in Pittsburgh, Pennsylvania, zu demonstrieren, von den staatlichen Sicherheitskräften mindesten so hart wie im letzten September die Demonstranten gegen den republikanischen Parteitag in St. Paul, Indiana, angepackt wurden. Um ein störungsfreies Gipfeltreffen zu gewährleisten, haben Tausende von örtlichen Polizisten, FBI-Beamten und Nationalgardisten die einstige Stahlmetropole in einen regelrechten Hochsicherheitstrakt verwandelt. Die Einwohner der Innenstadt durften ihre Häuser nicht verlassen. Jeder Ansatz, einen öffentlichen Protest auf die Beine zu stellen, wurde mit Tränengas, Blendgranaten, Gummiknüppeln und neuartigen akustischen - nicht-tödlichen - Waffen unterbunden. Mindestens 200 Personen wurden in Gewahrsam genommen.

Über eine interessante Episode am Rande des G20-Gipfels in Pittsburgh berichtete am 5. Oktober die britische Tageszeitung Guardian. Laut deren New Yorker Korrespondenten Ed Pilkington hat in Pittsburgh die Polizei die beiden "Anarchisten" Elliott Madison und Michael Wallschlaeger festgenommen, weil diese während des Gipfels die Globalisierungsgegner über die Bewegungen der Polizei informiert hätten. Obwohl das Abhören von US-Bürgern laut Verfassung eigentlich verboten ist - weshalb die letzten drei Jahre der Bush-Regierung vom Vorwurf des illegalen Lauschangriffs im Innern überschattet waren -, hat die Polizei beim G20-Gipfel in Pittsburg laut Pilkington "Twitter offen kontrolliert, um die Kommunikationen der Protestierenden zu verfolgen". Die Überwachung des Nachrichtenaustausches hat die Behördenvertreter offenbar zu einem Zimmer im Carefree Inn Motel in Pittsburg geführt, wo laut nach Angaben des Guardians Madison und Wallschlaeger "Kopfhörer und Mikrophone trugen" und "vor einer Wand aus Laptops und Polizeifunkscannern saßen". Ebenfalls im Zimmer stellte die Polizei "viele Karten und Kontaktnummern" fest.

Der 41jährige Madison ist Sozialarbeiter in New York und Mitglied der freiwilligen People's Law Collective, die Teilnehmern an öffentlichen Aktionen im Umgang mit den Behörden - zum Beispiel nach der Verhaftung durch die Polizei - rechtliche Beihilfe leistet. Der 46jährige Wallschlaeger produziert eine allwöchentliche Radiosendung fürs Internet mit Namen "This Week in Radical History". Im Guardian-Bericht wird aus Gerichtsdokumenten zitiert, denen zufolge die beiden Männer Twitter benutzt haben, "um die Protestierenden und Gruppen über die Bewegungen und Aktivitäten der Polizei zu informieren". Gegen Madison ist Anklage wegen Behinderung der Justiz erhoben worden. Er wurde gegen eine Kaution von 30.000 Dollar freigelassen. Während sich Madison im Untersuchungshaft in Pennsylvania befand, hat die Polizei in New York in seiner Wohnung im Stadtteil Queens eine Razzia durchgeführt. Dort hat man nach Angaben des Guardian-Reporters Pilkington "elf Gasmasken, fünf Schutzbrillen, Reagenzgläser und Becher beschlagnahmt" und - nicht zu vergessen, ganz wichtig!! - "anarchistische Bücher und Bilder von Marx und Lenin mitgenommen".

Man glaubt es nicht, 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts hat in den USA der Besitz von Konterfeis des ollen Revoluzzerpaars Marx und Lenin irgendwie immer noch strafrechtliche Relevanz. Am besten sollte die Polizei Madisons Wohnung nochmals stürmen. Vielleicht hat sie das eine oder andere Che-Guevara-T-Shirt im Wäschekorb, ein paar illegal aus Kuba ins "Home of the free and the Land of the Brave" eingeschmuggelte Cohibas oder eine CD-Scheibe der Hiphoptruppe Public Enemy übersehen, welche der Staatsanwaltschaft nachher beim Prozeß helfen können, ein Gruselbild von Madison als Bedrohung der nationalen Sicherheit zu entwerfen.

Der rabiate Umgang der US-Behörden mit den Twitter-Phänomen in Pittsburgh steht im krassen Widerspruch zu der Art und Weise, wie im Juni und Juli die amerikanische und übrige westliche Presse in Verbindung mit den Protesten in Teheran gegen die Wiederwahl Mahmud Ahmadinedschads das Thema Social Networking hochgepuscht hat. Damals wurde man nicht müde, Twitter, Facebook und wie sie alle heißen zu einer Art High-Tech-Wunderwaffe zu bejubeln, die endlich den Sturz des verhaßten iranischen "Mullah-Regimes" herbeiführe. Tatsächlich hat das Außenministerium Hillary Clintons das Unternehmen Twitter darum gebeten, eine von ihm für die Zeit um die iranische Präsidentenwahl am 12. Juni geplante, wartungsbedingte, teilweise Stillegung des Systems zu verschieben, damit dem Nachrichtenfluß unter der "Zivilgesellschaft" in der Islamischen Republik kein Abbruch getan würde. Auf dem Höhepunkt der Straßenproteste wurden in der iranischen Hauptstadt über Twitter nachweislich nicht wenige Falschmeldungen zu Ungunsten des wiedergewählten Ahmadinedschads und zu Gunsten des unterlegenen "Reformers" Mir Hussein Mousavi in Umlauf gebracht, was bei einigen unabhängigen Beobachtern den naheliegenden Verdacht auslöste, dahinter seien Psychokrieger im Pentagon oder bei der CIA in Langley am Werk.

Wenn die "grüne Revolution", deren schönste Teilnehmerinnen durch das Abblichten ihre Konterfeis auf den Titelseiten der großen internationalen Tageszeitungen die Herzen von Millionen erobert haben, nicht von Erfolg gekrönt wurde, hat dies nicht am propagandistischen Einsatz westlicher Hofberichterstatter gelegen. Tage- sogar Wochenlang wurden diese nicht müde, die kreative Verwendung der neuen mobilen Kommunikationstechnologie in Teheran als Beweis für die Existenz eines "modernen" Irans, der sich nach "Regimewechsel" samt Anschluß an den Westen sehne, auszulegen. Ein besonders krasses Beispiel solcher Selbstbeweihräucherung des angeblich unaufhaltsamen Siegeszugs des okzidentalen Freiheitsgedankens lieferte der namhafte britische Historiker Timothy Garton Ash am 18. Juni in einem Gastbeitrag für den Guardian mit der völlig weltfremden Überschrift "Twitter counts more than armouries in this new politics of people power" ("In dieser neue Politik der Volksmacht zählt Twitter mehr als Waffenlager"). In einem Artikel, der am 23. Juni bei der New York Times unter der Überschrift "Web Pries Lid of Censorship by Iranian Government" ("Netz lüftet Deckel der Zensur der iranischen Regierung" erschienen ist, schrieben die Reporter Brian Stelter und Brad Stone zum Thema der sogenannten "Farbenrevolutionen" folgendes:

Früher konnten autoritäre Regime einfach einen Schleier über die Ereignisse in ihren Ländern ziehen, indem sie die Telefonverbindungen ins Ausland kappten und die Bewegungsmöglichkeiten einiger Ausländer einschränkten. Doch jetzt haben wir es mit einer neuen Kampfarena der Zensur im 21. Jahrhundert zu tun, eine Welt, in der Mobiltelephonkameras, Twitterkonten und das ganze Drum und Dran des World Wide Web die alten Berechnungen darüber verändert haben, wieviel Macht Regierungen haben, ihre Nation den Augen der Welt zu entziehen und ihrer eigenen Bevölkerung das Versammeln, Protestieren und Rebellieren schwer zu machen.

Nicht erwähnt in diesem Zusammenhang werden ganz andere "Berechnungen" wie sie beispielsweise die Lauschbehörde National Security Agency (NSA) durchführt, deren Untergebene und die Mitarbeiter befreundeter, privater Spionageunternehmen den Schnüffelstaat "des 21. Jahrhunderts" erfunden haben und fortlaufend perfektionieren und deren Technologien die Verhaftung der beiden westlichen Dissidenten Madison und Wallschlaeger sozusagen auf frischer Tat ermöglichten. Auffällig ist jedenfalls, daß von den zahlreichen Bewunderern der im Keim erstickten "grünen Revolution" in Teheran niemand am Umgang der US-Behörden mit den Gipfeldemonstranten von Pittsburgh - Twitter hin, Twitter her - etwas auszusetzen hatte.

6. Oktober 2009