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LATEINAMERIKA/2468: Chiles Protestbewegung rührt an der Herrschaftsarchitektur (SB)


Leere Versprechen und Repression der Piñera-Regierung


Nach dem Tod des früheren chilenischen Diktators Augusto Pinochet warf nicht nur das Wall Street Journal die rhetorische Frage auf, ob nicht ein ansehnliches Wirtschaftswachstum ein wenig Entführung, Folter und Mord rechtfertige. Daß die Junta Chile vor dem Chaos gerettet und zu einem südamerikanischen Wirtschaftswunderland gemacht habe, ist der zentrale Mythos eines Interessenkomplexes, der die chilenischen Eliten mit ihren mächtigen Hintermännern in den Metropolen vereint. Stets ging es um Ausbeutung und Zurichtung der chilenischen Bevölkerung, der aller Widerspruchsgeist ausgetrieben werden sollte, um der neoliberalen Verwertungsoffensive den Weg zu bereiten.

Wenn heute US-Amerikaner oder Europäer behaupten, sie hätten damals das wahre Ausmaß der Diktatur nicht erkannt, zu lange geschwiegen oder vielleicht nicht entschieden genug dagegen protestiert, ist das die Fortsetzung der alten Lügen im Dienste innovativ weiterentwickelter Herrschaftsgelüste. Daß US-Amerikaner und Europäer selbst in den Folterkellern zugegen waren, haben Überlebende nicht allein in Chile bezeugt. Zweifellos war die US-Regierung am 11. September 1973 schon deswegen im Bilde, weil sie den Umsturz in Chile selbst mit vorbereitet und ihm ihre Unterstützung zugesichert hatte. Unter den Präsidenten Nixon und Ford hielt Washington seine schützende Hand über das Regime und wehrte internationale Kritik ab. Man kolportierte die alte Propagandalüge der CIA, die Allende-Regierung sei um 1972 repressiv geworden und habe gedroht, Journalisten ins Gefängnis zu werfen. Weiter behauptete man, Allendes Administration sei für Versorgungsengpässe und Inflation verantwortlich gewesen, als habe die Nixon-Regierung nie die Parole ausgegeben, die chilenische Wirtschaft so lange abzuwürgen, bis die Sozialisten darüber zu Fall gebracht seien. Washington fror Kredite ein, bremste die Ausfuhren nach Chile und pumpte Geld ins Land, um Kampagnen der Unternehmerschaft zu befördern, die zum Niedergang der Wirtschaft beitrugen.

Augusto Pinochet rief 1975 Milton Friedman und dessen "Chicago Boys" ins Land, um die Wirtschaft einer radikalen Privatisierung und Deregulierung zu unterziehen. Macht und Profite der Eliten wurden gesichert und gemehrt, indem man den Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung systematisch senkte. So wurden die Steuern auf hohe Einkommen und Unternehmensgewinne gesenkt, der Mindestlohn abgeschafft, die Rechte der Gewerkschaften eingeschränkt sowie nicht zuletzt Staatsbetriebe, Bankwesen, Altersversorgung und Bildungssystem privatisiert. Die marktwirtschaftliche Doktrin erfüllte ihren Zweck, forcierte sie doch die angestrebte Akkumulation von Reichtum der Eliten zu Lasten wachsender Teile der Bevölkerung, deren Verelendung die Substanz des angeblichen chilenischen Wirtschaftswunders bereitstellte. Während 1970 etwa 20 Prozent der Chilenen in Armut lebten, waren es 1990 am Ende der Juntazeit 40 Prozent, wobei die Reallöhne im selben Zeitraum um mehr als 40 Prozent sanken.

Das in konservativen Kreisen hochgehaltene chilenische Modell beruht mithin auf einer ausgeprägten Spaltung der Gesellschaft in eine profitierende Minderheit von einflußreichen Familien, Großunternehmen, Banken sowie dem Großbürgertum auf der einen und einer abgehängten Mittelschicht sowie einem wachsenden Anteil in Armut lebender Menschen auf der anderen Seite. Diese Konzentration von Macht und Reichtum in Händen weniger hat dazu geführt, daß heute die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung mehr als 40 Prozent aller Ausgaben der Privathaushalte repräsentieren, während die ärmsten zehn Prozent mit nur zwei Prozent auskommen müssen. Mittel- und Unterschicht bleibt nur die Alternative zwischen Konsumverzicht oder Verschuldung, was in der Konsequenz auf dasselbe hinausläuft. Zudem hat der Wirtschaftsliberalismus die Situation zementiert, daß dank zahlreicher Freihandelsverträge Waren aus aller Welt eingeführt werden, während sich die Exporte Chiles weitgehend auf Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte beschränken.

Die Concertación, eine Koalition von Sozial- und Christdemokraten sowie kleinen Fraktionen, die einst die Diktatur Augusto Pinochets (1973-1990) abgelöst hatte und das Land 20 Jahre lang regierte, brach weder mit der Verfassung noch dem Wirtschaftsmodell Pinochets und behielt somit die von der Diktatur geprägten Rahmenbedingungen bei. Die stabilste Parteienkoalition in der parlamentarischen Geschichte des südamerikanischen Landes hielt das bürgerliche Lager zusammen und die Rechte auf Abstand, die ihr des öfteren gefährlich nahe kam. Am 19. Januar 2010 scheiterte schließlich der Kandidat des Mitte-Links-Bündnisses, Eduardo Frei, in der Stichwahl um das Präsidentenamt mit einem knappen Rückstand von drei Prozentpunkten an dem Bewerber der Rechten, die zwei Jahrzehnte nach Ende der Militärjunta in den Präsidentenpalast zurückkehrte.

Am 11. März 2010 trat Sebastián Piñera als Nachfolger Michelle Bachelets, deren erneute Kandidatur verfassungsgemäß nicht möglich war, das Präsidentenamt an. Sein Kabinett von 22 Mitgliedern ist fast ausschließlich mit Technokraten aus reaktionären Wirtschaftskreisen besetzt, die größtenteils Absolventen der konservativen Katholischen Universität von Santiago sind und zudem Abschlüsse US-amerikanischer Eliteschmieden gemacht haben. Der Milliardär im Präsidentenpalast hat selbst an Harvard in den Wirtschaftswissenschaften promoviert und als Staatschef seinesgleichen um sich geschart, um das Land im Stil eines Großunternehmers zu regieren.

Der aktuelle Protest der Schüler und Studenten, die seit Monaten gegen die Misere des Bildungssystems zu Felde ziehen, richtet sich gegen Strukturen, die in der Diktatur geschaffen wurden. Die Junta wälzte die Verantwortung für das Schulwesen auf die Gemeinden ab führte großzügige Subventionen für Privatschulen ein, um den Sektor für private Investoren aufzuwerten. Am 10. März 1990, dem letzten Tag der Diktatur, wurde ein Bildungsgesetz verabschiedet, das die Ausrichtung des Bildungssystems auf die Privatwirtschaft festschrieb. In einem dreigeteilten System gibt es heute einen leistungsfähigen, aber teuren Privatsektor, der für die breite Mehrheit nicht zugänglich ist. Hinzu kommt ein staatlich bezuschußter halbprivater Bereich sowie ein völlig unterfinanzierter öffentlicher Sektor, der von den Gemeinden betrieben wird.

Die hohe Quote von 1,1 Millionen Studenten an chilenischen Universitäten in einem Land von rund 17 Millionen Einwohnern ist erkauft mit einer nicht selten horrenden Verschuldung zahlloser Familien, deren Kindern andernfalls der Zugang zu besserer Bildung verwehrt wäre. Die rebellierenden Schüler und Studenten kämpfen mit Massendemonstrationen von bis zu 100.000 Teilnehmern und einer Vielfalt von Aktionsformen bis hin zum Hungerstreik für ein kostenloses Bildungswesen. Sie lassen sich nicht mit halbherzigen Reformen abspeisen und zielen im Zuge wachsender Politisierung des Protests auf den Kern der gesellschaftlichen Verhältnisse ab.

Präsident Piñera, der mit bloßen Reformversprechen und geringfügigen Zugeständnissen den Protest nicht eindämmen konnte, besteht darauf, daß Bildung ein Konsumgut und eine Investition bleiben müsse. Eine Abkehr vom Vorzug privater Trägerschaft gegenüber öffentlichen Schulen und Universitäten werde es mit ihm nicht geben. Die chilenische Jugend konfrontiert Regierung und Wirtschaftseliten jedoch mit einem Aufbegehren, das sich nicht nur gegen das Bildungssystem, sondern auch die niedrigen Löhne, die ausgedünnten Sozialleistungen, die Energiepolitik oder das Verkehrswesen richtet. Überdies stellt sie ihre Kritik in einen Zusammenhang mit den Umwälzungen in den arabischen Ländern und den aufbrechenden Sozialkämpfen in anderen Weltregionen.

Am Mittwoch hat ein zweitägiger landesweiter Generalstreik begonnen, zu dem Gewerkschaften, linke Parteien und Studentenverbände aufgerufen haben. Die ausgewiesenen Ziele zeugen davon, daß die Bewegung längst in breiten Kreisen der Bevölkerung nicht nur Sympathien genießt, sondern Fuß zu fassen beginnt. Gefordert werden Verfassungs- und Gesetzreformen, ein neues Arbeitsrecht, die Rückführung der privatisierten Rentenversicherung in öffentliches Eigentum und mehr staatliche Investitionen in die Gesundheitsversorgung und die Bildung. Wie seinerzeit während der Militärdiktatur trommeln die Menschen wieder lautstark auf Töpfen und Pfannen, um ihrem Aufbegehren gegen Willkür und Repression Ausdruck zu verleihen. In verschiedenen Teilen Santiago de Chiles wurden Barrikaden errichtet, um die Kundgebungen vor erneuten Übergriffen der Polizei zu schützen. [1]

Schon am Vorabend waren in der Hauptstadt rund 2000 Polizisten stationiert worden, und gestern marschierten an strategisch wichtigen Punkten wie dem Regierungssitz paramilitärische Carabineros auf. Präsident Piñera will das ursprünglich aus dem Jahr 1937 stammende Staatssicherheitsgesetz gegen die Streikenden anwenden, das den Einsatz der Armee zur "Aufrechterhaltung der inneren Ordnung" erlaubt und die drohenden Strafen verdreifacht. Der Gewerkschaftsbund CUT verurteilte die Kriminalisierung des Streiks und rief die Regierung zu Verhandlungen über die wirtschaftlichen und sozialen Forderungen der Streikenden auf.

Am ersten Tag des Generalstreiks wurden nach Angaben eines Regierungssprechers bei Zusammenstößen mindestens 36 Menschen verletzt, darunter auch 19 Polizisten. Bis zum späten Nachmittag seien 348 Menschen festgenommen worden. Zu den heftigsten Auseinandersetzungen kam es in der Hauptstadt, wo die Polizei an mehreren Orten Wasserwerfer und Tränengas einsetzte, um an Kreuzungen errichtete Straßensperren zu räumen. Die Demonstranten zündeten Barrikaden an und bewarfen die Polizisten mit Steinen. Zusammenstöße gab es auch um die Universitäten, doch waren sie weniger schwer als bei den Studentenprotesten der vergangenen Wochen. [2]

In Santiago blieben einige Geschäfte und Behörden geschlossen, viele Büros waren verwaist. Die Regierung bezeichnete den Streik jedoch als gescheitert, weil der öffentliche Personenverkehr im Land kaum beeinträchtigt sei. Präsident Piñera und sein Kabinett versuchen angesichts ihrer bislang schwersten Belastungsprobe offensichtlich, Ausmaß und Tragweite des Aufbegehrens kleinzureden, während der Protest zugleich mit harter Hand von der Straße getrieben werden soll.

Wie erbittert die Auseinandersetzung geführt wird, unterstreicht der Umstand, daß der Oberste Gerichtshof Polizeischutz für die Vorsitzende des Studentenverbandes FECH, Camila Vallejo, angeordnet hat. Die 23jährige Geographiestudentin und Aktivistin der Kommunistischen Jugend ist das bekannteste Gesicht des Bildungsprotests, wodurch sie sich die unverhohlene Feindschaft reaktionärer Kreise zugezogen hat, die bis hin zu offenen Morddrohungen im Internet reichen. Kürzlich hat Tatiana Acuña, eine hochrangige Mitarbeiterin des Kultusministeriums, Vallejo massiv angegriffen: "Ist die Hündin tot, beruhigt sich die Meute", postete die Funktionärin in Twitter. Dieser Satz ist in Chile aus dem Funkverkehr zwischen dem späteren Diktator Pinochet und dem Kommando bekannt, das am 11. September 1973 den Präsidentenpalast La Moneda stürmte und über den Äther den Umgang mit dem verschanzten Präsidenten Salvador Allende beriet. Wenige Minuten später war Allende tot. [3]

Fußnoten:

[1] http://www.jungewelt.de/2011/08-25/058.php

[2] http://derstandard.at/1313025089765/Traenengas-eingesetzt-36-Verletzte-am-ersten-Tag-des-Generalstreiks-in-Chile

[3] http://www.heise.de/tp/artikel/35/35334/1.html

25. August 2011