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LATEINAMERIKA/2461: Brasilien zeigt Rückgrat - Cesare Battisti darf bleiben (SB)


Aufenthaltsgenehmigung erteilt - Keine Auslieferung an Italien


Im Szenario globaler Kriegsführung der westlichen Mächte nach außen und repressiver Einschnürung im Innern zeigt Brasilien an prägnanter Stelle Rückgrat und schlägt dem universalen Zugriffsbegehren die Tür vor der Nase zu. Cesare Battisti, in Italien unter dem fragwürdigen Vorwurf mehrfachen Mordes in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, wird eine Aufenthaltsgenehmigung gewährt. Damit gilt als sicher, daß er dauerhaft im Land bleiben darf und der italienischen Justiz entzogen wird. Mit der soeben gefällten Entscheidung des Nationalen Einwanderungsrats in Brasília, der dem Arbeitsministerium angegliedert ist, wurde die Voraussetzung für ein Daueraufenthaltsvisum geschaffen, dessen Ausstellung durch das zuständige Justizministerium in Kürze erwartet wird. [1]

Die Weigerung Brasiliens, Battisti an Italien auszuliefern, hatte eine Krise zwischen Rom und Brasília ausgelöst. Der Oberste Gerichtshof Brasiliens wies vor zwei Wochen eine Klage der italienischen Regierung auf Auslieferung ab und ordnete die umgehende Haftentlassung Battistis an. Offenbar hatte das in Form und Inhalt schroffe und fordernde Ansinnen der Berlusconi-Regierung nicht nur seine einschüchternde Wirkung auf ganzer Linie verfehlt, sondern auf brasilianischer Seite den Widerstand gegen diesen Übergriff geradezu beflügelt. Welchen Motiven diese Standhaftigkeit auch immer entsprungen sein mag, so bleibt jedenfalls festzuhalten, daß es sich um eine ebenso außergewöhnliche wie beispielhafte Verteidigung von Souveränität und Rechtsempfinden handelt. Die Drohgebärde der italienischen Regierung, ihren Botschafter aus Brasilien zu Beratungen zurückzubeordern und eine Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzukündigen, dürfte um so mehr geeignet sein, Öl ins Feuer brasilianischer Selbstbehauptung zu gießen.

Zum Jahreswechsel 2010/2011 übergab Luiz Inácio Lula da Silva das Präsidentenamt in Brasilien an Dilma Rousseff, die als erste Frau die Geschicke des aufstrebenden südamerikanischen Schwellenlandes in führender Position lenkt. Er nahm seiner Nachfolgerin eine heikle Entscheidung ab, indem er in einer seiner letzten Amtshandlungen die Auslieferung des früheren Linksaktivisten Cesare Battisti an Italien verweigerte. Mit der Begründung, Battisti drohe wegen seiner politischen Vergangenheit in Italien eine "Verschärfung der Lage", folgte der scheidende Staatschef einer Empfehlung der Generalstaatsanwaltschaft.

Cesare Battisti hatte die Untergrundgruppe "Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus" mitgegründet und soll angeblich Ende der 1970er Jahre an vier Morden in Italien beteiligt gewesen sein. Nachdem Kronzeugen gegen ihn ausgesagt hatten, wurde er in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Battisti bestreitet die Taten und hatte sich im Exil bereiterklärt, sich einem neuen Prozeß zu stellen, was Italien jedoch prinzipiell ablehnt. Nach dem Ausbruch aus einem italienischen Gefängnis fand Battisti jahrelang in Frankreich Asyl, wo ein Pariser Gericht 1991 seine Auslieferung nach Italien ablehnte. Als Frankreich 2004 sein Asyl aufhob, entkam Battisti über Umwege nach Brasilien. Der heute 56jährige wurde am 18. März 2007 in Rio de Janeiro festgenommen und saß in Brasília im Gefängnis.

Die Entscheidung Luiz Inácio Lula da Silvas schlug in Italien hohe Wellen. Regierungschef Silvio Berlusconi erklärte zunächst zynisch, bei so einem wie Battisti sei es ja fast besser, ihn nicht im eigenen Land zu haben, wo er den Staat im Gefängnis auch noch Geld koste. Auf Druck der von den Medien geschürten Empörung schwenkte er wenig später um und verkündete "mit tiefster Bitterkeit", der Fall sei nicht abgeschlossen. Italien werde alles tun, um sein Recht auf Auslieferung in allen Instanzen geltend zu machen. Verteidigungsminister Ignazio La Russa erklärte, eine Nicht-Auslieferung sei "ungerecht und sehr beleidigend". Nun sei das "schlimmste Szenario" eingetreten. Nach Konsequenzen befragt, erklärte der Minister, er persönlich würde niemandem raten, ein Land zu besuchen, in dem Mörder frei herumlaufen können. Staatspräsident Giorgio Napolitano nannte Lulas Entscheidung "unverständlich" und "bitter". Man könne nur auf ein ernsthaftes Überdenken des Beschlusses durch die Zuständigen in Brasilien hoffen.

Die Regierung Berlusconi kündigte wirtschaftliche und rechtliche Konsequenzen an. Außenminister Frattini erklärte, die im Januar 2011 geplante Verabschiedung eines strategischen Handelsabkommens werde auf Eis gelegt. Damit schnitt sich Italien allerdings vor allem ins eigene Fleisch, da die Lieferung von Schiffen, Radaranlagen und Raketen im Wert von rund fünf Milliarden Euro nach Brasilien ausgesetzt wurde.

Der Entscheidung Lulas war ein fast zweijähriges Tauziehen vorausgegangen. Anfang 2009 hatte der damalige brasilianische Justizminister Battisti politisches Asyl gewährt und dies damit begründet, daß eine politische Verfolgung in Italien nicht ausgeschlossen werden könne. Im November 2009 sprachen sich die Richter des Obersten Gerichtshofs in Brasilien mehrheitlich für eine Auslieferung nach Italien aus, doch hatte der Präsident das letzte Wort und verweigerte sich diesem Ansinnen. Im Februar 2010 wurde Battisti von einem Gericht in Rio de Janeiro wegen eines Paßvergehens zu zwei Jahren in offenem Vollzug verurteilt.

Der Prozeß gegen Cesare Battisti wurde 1986 vor einem italienischen Berufungsgericht unter verschärften juristischen und exekutiven Bedingungen, den sogenannten Sondergesetzen durchgeführt, die der italienische Staat für den Kampf gegen den "Terrorismus" geschaffen hatte. Diese Maßnahmen stellten einen Frontalangriff auf grundlegende demokratische Rechte dar und gelten zum Teil noch heute. In Widerspruch zu dem fundamentalen Rechtsprinzip, wonach eine Person solange als unschuldig gilt, bis sie von einem Gericht schuldig gesprochen wird, wurde die Vorbeugehaft auf acht Jahre verlängert. Später wurde sie sogar auf zehn Jahre und acht Monate ausgedehnt und mit rückwirkenden Elementen versehen. Man erweiterte die Vollmachten der Polizei, indem unter anderem die Bestimmungen für den Schußwaffengebrauch gelockert und die Durchsuchungsrechte für Personen und Gebäude erweitert wurden.

"Sonderhaftbedingungen" sahen vor, Häftlingen die Besuchsrechte zu entziehen und sie in Isolationshaft unter völliger Schallisolierung und ohne jeden menschlichen Kontakt einzukerkern. Prozesse in Abwesenheit des Angeklagten zu führen, wurde erleichert, Abhörmaßnahmen mußten nicht mehr von einem Gericht angeordnet werden und mit solchen Methoden gewonnene Indizien erlangten Gültigkeit im Prozeß. Die Polizei durfte der Verschwörung Verdächtigte bis zu vier Tage ohne das Recht auf einen Anwalt festhalten. Mit der sogenannten "Zusammenarbeit mit der Justiz" führte man eine Kronzeugenregelung ein, die Beschuldigten im Gegenzug für Informationen ein milderes Strafmaß zuschanzte. [2]

Wie dokumentiert worden ist, wurde Battisti bei Polizeiverhören mißhandelt und mehrfach mithilfe eines Trichters mit Wasser zwangsernährt, während man ihm gleichzeitig in den Bauch trat. Wenig glaubwürdige Zeugen sagten gegen ihn aus, mehrere von ihnen unter der Kronzeugenregelung. Zudem soll auf juristischen Dokumenten seine Unterschrift gefälscht worden sein. Der gesamte Prozeß war von Widersprüchen und reinen Mutmaßungen durchsetzt. So wurde er zweier Morde beschuldigt, die gleichzeitig, aber an 270 km voneinander entfernten Orten geschehen waren. Mehreren Experten zufolge beweisen die ballistischen Spuren Battistis Unschuld.

Zahlreiche Menschenrechtler und Intellektuelle, darunter Fred Vargas, Bertrand Tavernier und Bernard-Henri Lévy verteidigen Battisti entschieden gegen den willkürlichen Angriff des italienischen Staats. Nach Auffassung der Menschenrechtsliga war der französische Auslieferungsbescheid illegal, weil Battisti nach italienischem Recht kein neuer Prozeß über das Urteil zugestanden hätte, das in Abwesenheit gegen ihn gefällt worden war. Dies sei eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die 1955 das römische Prinzip übernahm, daß niemand in Abwesenheit verurteilt werden darf.

Zielt die insbesondere in Italien entfesselte Hexenjagd auf die Diffamierung und Sanktionierung Battistis als Person ab, so weist sie zugleich in ihren Implikationen weit darüber hinaus. Die italienischen Sondergesetze sind eine Variante dessen, was in zahlreichen anderen Staaten nicht minder aggressiv gegen traditionelle Rechtsauffassung und demokratische Grundsätze in Stellung gebracht worden ist. Am 5. Februar 2009 verabschiedete das Europäische Parlament eine Entschließung, welche die italienische Position stützt, und hielt eine Schweigeminute zum Gedenken an die angeblichen Opfer Battistis ab.

Ob dieser ein politischer Flüchtling sei und deshalb einen Anspruch auf Asyl habe, war auch in Brasilien umstritten. Nachdem das Nationale Flüchtlingskomitee seinen Antrag abgelehnt hatte, gab ihm der daraufhin angerufene Justizminister Tarso Genro im Januar 2009 statt. Sein italienischer Amtskollege Angelino Alfano legte daraufhin der brasilianischen Administration dringend nahe, diese Entscheidung "im Licht der internationalen Kooperation gegen den Terrorismus" zu überdenken. Staatspräsident Giorgio Napolitano ließ Luiz Inácio Lula da Silva wissen, daß diese schwerwiegende Entscheidung "Emotionen und verständliche Reaktionen" in Italien ausgelöst habe. Die Antwort des damaligen brasilianischen Präsidenten war bemerkenswert: Wie Lula erwiderte, gründe die Entscheidung des Justizministers auf der brasilianischen Verfassung, der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 und sei ein Akt der Souveränität Brasiliens. Das waren Worte, wie man sie in den Tagen von Guantánamo Bay und Abu Ghraib, José Padilla und Abu Omar schmerzlich vermißt.

Fußnoten:

[1] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/brasilien_italien_linksextremist_battisti_bleiberecht_1.11020239.html

[2] http://www.wsws.org/de/2011/jan2011/batt-j14.shtml

23. Juni 2011