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LATEINAMERIKA/2457: Das Jahrzehnt Lateinamerikas - doch zu wessen Nutzen? (SB)


Handelsbeziehungen mit China befeuern Kapitalverwertung in der Krise


Über die "Zukunft Lateinamerikas" zu sprechen, unterschlägt die unhinterfragten Voraussetzungen dieses Sammelbegriffs für einen Kontinent, der nicht nur Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, sondern insbesondere extreme Klassenwidersprüche ideologisch unter einer nicht vorhandenen Gemeinsamkeit subsumiert. Viele Länder Lateinamerikas zeichnen sich durch eine außergewöhnlich weite Spreizung zwischen reichen Eliten und relativ wohlhabenden Mittelschichten auf der einen und Millionen in tiefster Armut lebenden Menschen aus, was auszublenden oder mit einem obligatorischen Halbsatz an den äußersten Rand der Erwägungen zu drängen eine fundierte Analyse und Prognose obsolet macht. Bei der Einschätzung und Bewertung aktueller Verläufe und den daraus abgeleiteten Vorhersagen für die künftige Entwicklung gilt es daher zuallererst zu klären, in wessen Interesse man die Stimme erhebt. Meint man die ökonomisch stärksten Staaten und deren Bestreben, die regionale Führerschaft zu Lasten ihrer schwächeren Nachbarländer auszubauen wie auch die Ambitionen, in den globalen Verteilungskämpfen ein größeres Stück vom Kuchen für sich zu reklamieren? Oder rückt man die gesellschaftlichen Verhältnisse und hier insbesondere die kapitalistische Verwertung samt deren imperialistischer Expansion in der Fokus des Streits?

Wenn diese Weltregion gelobt und umworben wird, wie das in jüngerer Zeit der Fall ist, drängt sich die Frage auf, welche Begehrlichkeiten sie weckt. So belebend es auch sein mag, die lähmende Epoche des "vergessenen Kontinents" überwunden zu haben und sich selbstbewußt im internationalen Kontext zu positionieren, sollte das nicht der Verkennung Vorschub leisten, die alten Hegemonialmächte seien zahnlos geworden und die neuen internationalen Partner verfolgten lauterste Absichten. Die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu brechen, ist ebenso notwendig, wie die Diversifizierung der wirtschaftlichen Beziehungen auf neue Fallstricke zu prüfen. Zweifellos birgt diese Zeit des Umbruchs die Gelegenheit, innovative Entwürfe zu schmieden, doch stehen und fallen diese mit der grundlegenden Frage nach dem Kampf gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgrenzung.

Der Generalsekretär der OECD, Angel Guerria aus Mexiko, bezeichnet die USA nach wie vor als wichtigen Partner Lateinamerikas, hält China jedoch für "perfekt geeignet", Wirtschaftswachstum, Infrastruktur und technologische Entwicklung in dieser Weltregion zu beflügeln. Mit Hilfe chinesischer Investitionen in Infrastrukturprojekte werde es den lateinamerikanischen Ländern gelingen, sich vollständig in die Weltwirtschaft zu integrieren und das "Jahrzehnt Lateinamerikas" einzuläuten. Eine Grenze dieser Entfaltung sei nicht in Sicht, befindet Guerria, der zur Begründung auf die durchschnittliche Wachstumsrate von 5,5 Prozent im vergangenen Jahr verweist, die deutlich über jener der hochentwickelten Industriestaaten lag. Millionen von Arbeitsplätzen entstünden und angesichts der reichhaltigen natürlichen Ressourcen verfüge die Region über ein enormes Potential. [1]

Solche Lobeshymnen sollten hellhörig machen, waren doch die Ressourcen Lateinamerikas vier Jahrhunderte lang das Ziel kolonialer Ausplünderung durch die Mächte Europas und während der letzten hundert Jahre der Hort, aus dem sich der US-Imperialismus unersättlich bedient hat. Was also sollte sich grundlegend ändern, wenn nun das Jahrhundert der Chinesen anbricht, die sich diesen Nachschub an Rohstoffen verfügbar machen? "Wir wollen nicht Chinas nächstes Afrika sein", vertraute ein mexikanischer Regierungsvertreter einem Wirtschaftsexperten der US-Botschaft an, wie aus einer Depesche vom Februar 2009 hervorgeht, die von WikiLeaks veröffentlicht wurde. Er bezog sich damit auf den Vorwurf, die Chinesen bedienten sich der Ressourcen Afrikas, ohne den Kontinent zu entwickeln. Eine weitere publik gemachte Depesche ähnlichen Inhalts stammt aus Shanghai, wo der brasilianische Generalkonsul zwei Monate später zu bedenken gab, Chinas Strategie in Lateinamerika sei klar: Beijing strebe "die Kontrolle über den Nachschub an Rohstoffen an".

Natürlich müssen sich Europäer und US-Amerikaner fragen lassen, was sie denn zur Entwicklung Afrikas und Lateinamerikas beigetragen haben, so daß sich zwangsläufig ein Szenario weitgehend übereinstimmender Absichten ergibt, die in erbitterter Konkurrenz zu Lasten der Ausgeplünderten aufeinanderprallen. US-Präsident Barack Obama, der kürzlich einige lateinamerikanische Länder bereiste, um in unausgesprochener Konkurrenz zu den Chinesen die verlorengehenden Wirtschaftsbeziehungen aufzupolieren, sprach von einer "Region in Bewegung, stolz auf ihren Fortschritt und bereit, eine große Rolle im Weltgeschehen zu spielen". Dem schloß sich der Präsident der Interamerikanischen Entwicklungsbank, Alberto Moreno, in einer Kolumne der Financial Times mit der Einschätzung an, man stehe am Beginn des "Jahrzehnts Lateinamerikas". Nachdem diese Region die Finanzkrise gut überstanden habe, könne sie nun gemeinsam mit Asien den weltweiten Aufschwung anführen.

Washington tue gut daran, Lateinamerika nicht zu ignorieren, warb Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos kürzlich auf einem Staatsbesuch in den USA für das seit Jahren verschleppte Freihandelsabkommen: "Unser Kontinent birgt ein so großes Potential!" Santos zieht zugleich den chinesischen Vorschlag in Erwägung, eine Eisenbahnverbindung zwischen den Ozeanen zu schaffen, die dem Panamakanal Konkurrenz machen könnte. Der OECD-Generalsekretär preist dies als leuchtendes Beispiel dafür, wie kreativ lateinamerikanische Staatsmänner gemeinsam mit China kühne Pläne schmiedeten, um das Wirtschaftswachstum zu befördern. Dabei ließ Guerria keineswegs unerwähnt, daß chinesische Investitionen allein den Erfolg nicht garantierten. Voraussetzung für das "Jahrzehnt Lateinamerikas" sei nicht minder, die eklatante Ungleichheit der Einkommen zu mildern, Sozialprogramme auf den Weg zu bringen und den Bildungsstand zu heben. Es sei nicht hinnehmbar, daß die reichsten 10 Prozent in dieser Weltregion über 40 Prozent aller Einkünfte verfügten, während für die ärmsten 10 Prozent nur ein einziges Prozent abfalle.

Natürlich sind es keine sozialistischen Regungen, die den OECD-Präsidenten zu solche Einlassungen anspornen, denn wie er hinzufügt, wäre die Ungleichheit im Grunde nicht größer als in Europa und den USA, würde man nur die Steuern vernünftig eintreiben und die Sozialausgaben erhöhen. Guerria plädiert für eine Modernisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften nach dem Muster der Industriestaaten, um soziale Unwuchten samt den daraus resultierenden Spannungen zu bremsen und das Feuer optimal vernutzter Arbeitskraft zu schüren.

Institutionen der Weltwirtschaft suchen verzweifelt nach Mitteln und Wegen, das vom Zusammenbruch bedrohte System kapitalistischer Verwertung am Leben zu halten, und führen eine ausgewogenere Ordnung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen im Munde, um noch nicht restlos ausgebeutete Potentiale und innovative Zugriffsmöglichkeiten verfügbar zu machen. China soll als Motor der Weltwirtschaft herhalten, auch Lateinamerika hat die Krise bislang größtenteils ohne tiefgreifende Schäden ausgeritten. Daß sich auf dieser Schiene ein bedeutender Strang ökonomischen Wachstums Bahn bricht, mag zwar aus Perspektive nationalstaatlicher Konkurrenz den US-Amerikanern und Europäern ein Dorn im Auge sein, doch den Bedingungen kapitalistischer Verwertung könnte dies für eine gewisse Frist zum Rettungsanker gereichen.

Während die chinesischen Investitionen vielerorts in Lateinamerika für einen beträchtlichen Anschub der Volkswirtschaften sorgen, drohen sie doch auf lange Sicht die einseitige Abhängigkeit von der Ausfuhr von Rohstoffen zu verfestigen und eine Diversifikation der regionalen Ökonomie zu bremsen. Zwischen Januar 2000 und Januar 2010 sind die lateinamerikanischen Exporte nach China um sagenhafte 1.800 Prozent gestiegen, während die Einfuhr chinesischer Erzeugnisse im selben Zeitraum um 1.153 Prozent zunahm. Im Jahr 2004 prognostizierte Präsident Hu Jingtao, daß das diesbezügliche Handelsvolumen bis 2010 auf 100 Milliarden Dollar wachsen werde, doch wurde dieses Ziel bereits 2007 erreicht. China ist heute der wichtigste Handelspartner Brasiliens und Chiles und rangiert in Argentinien und Peru an zweiter Stelle. [2]

Aufstrebende Volkswirtschaften wie China, Indien, Südkorea oder die Golfstaaten, die hohe Bevölkerungszahlen aufweisen und über nicht ausreichende Anbauflächen verfügen, kaufen oder pachten im großen Stil Land in Afrika und Lateinamerika, um ihre künftige Versorgung mit Nahrungsmitteln zu sichern. Ihnen folgen Spekulanten auf dem Fuß, die den Mangel auf diesem Gebiet zu ihrem Profit machen. Die chinesische Führung hat die Lebensmittelsicherheit zu einem der wichtigsten Ziele auf ihrer Agenda erklärt und sie verfügt mit mehr als 1,8 Billionen Dollar über gewaltige Devisenreserven, die sie in die Versorgung mit Rohstoffen investieren kann. Lateinamerikanische Kritiker weisen darauf hin, daß chinesische Investoren in Ländern wie Argentinien oder Peru dieselben Bedingungen wie beliebige andere Unternehmen einfordern und insbesondere auf Garantien für den Absatz ihrer eigenen Fertigwaren bestehen. Da die Länder Lateinamerikas mit den extrem niedrigen Löhnen in China nicht konkurrieren können, wirkt sich dies auf Dauer verheerend für die einheimische Industrie aus.

Als vorwiegende Rohstofflieferanten verlieren die Volkswirtschaften der Region die Souveränität über ihre Ressourcen, können ihre eigene Bevölkerung nicht mehr versorgen, erleiden gravierende Umweltschäden und verzeichnen keine nennenswerte industrielle Entwicklung. Kommt es zu einer bloßen Verdrängung US-amerikanischer und europäischer Investitionen durch jene Chinas, droht sich der Prozeß lähmender Abhängigkeit von Europa bis ins 19. und von den USA im 20. Jahrhundert zu wiederholen. Soll das "Jahrzehnt Lateinamerikas" nicht als Strohfeuer den Ausverkauf der Ressourcen und Potentiale zur Beförderung kapitalistischer Restverwertung illuminieren, gilt es andere und tiefgreifendere Fragen zu entwickeln als die Wahl zwischen vermeintlichen Alternativen.

Anmerkungen:

[1] China's role in realizing 'Latin America decade' (12.04.11)
The Christian Science Monitor

[2] China's Growing Presence in Latin America. (15.-17.04.11)
Counterpunch

18. April 2011