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LATEINAMERIKA/2453: Aristides Rückkehr ins Notstandsprotektorat Haiti (SB)


Besatzungsmächte fürchten Störung der Mangeladministration


Die historische Zäsur der Katastrophe in Japan mit ihren noch nicht einmal ansatzweise erahnten Folgekonsequenzen für die künftige Administration der Herrschaftssicherung hat das verheerende Erdbeben in Haiti vor Jahresfrist samt der daraus resultierenden Errichtung eines permanenten Notstandsprotektorats an den äußersten Rand medialer Aufmerksamkeit gedrängt. Einzig die befürchtete Störung beim Vollzug der Hungerverwaltung auf niedrigstem Niveau in Gestalt der Rückkehr Jean-Bertrand Aristides ist den Kommentatoren noch einige irritierte Federstriche wert, wenn sie in den Chor diskreditierender Verzerrungen einstimmen.

Als der frühere haitianische Präsident nach sieben Jahren im Exil die Rückkehr in seine Heimat ankündigte, reagierten die führenden Besatzungsmächte USA und Frankreich mit einer Mischung aus Warnrufen und Drohgebärden. US-Präsident Barack Obama zeigte sich besorgt darüber, daß Aristide kurz vor der Wahlentscheidung zurückkehre, da dies die Stabilität des Landes gefährde. [1] Haitianischen Medienberichten zufolge übte die Regierung in Washington Druck auf die Behörden Südafrikas aus, die Abreise Aristides bis nach der Präsidentenwahl am kommenden Sonntag hinauszuzögern. [2] Südafrikas Minister im Präsidentenbüro, Collins Chabane, erklärte jedoch dazu: "Wir können Mister Aristide nicht gefangenhalten." [3] Vor wenigen Tagen hatte sich bereits der französische Botschafter in Haiti in einer Presseerklärung geäußert und dabei in scharfem Ton vor der Anwesenheit Aristides vor dem Wahlgang gewarnt. [4]

Aristide ließ über seinen Anwalt Ira Kurzban die Einmischung des Sprechers des US-Außenministeriums, Mark Toner, er störe die Präsidentenwahl, zurückweisen. Vor seinem Abflug bedankte er sich bei der südafrikanischen Regierung für das gewährte Exil und erklärte: "Der große Tag ist nun gekommen und wir werden in unsere Heimat zurückkehren. Viele Menschen in Haiti sind glücklich über unsere Rückkehr - ein Traum wird wahr". [5] In der jüngeren Vergangenheit hatte Aristide wiederholt versichert, er wolle sich nicht in die haitianische Politik einmischen, sondern mit Hilfe seiner Stiftung die Bildung in dem erdbebenverwüsteten Land verbessern.

Unterstützung erfuhr er durch den US-Schauspieler Danny Glover, der nach Südafrika gereist war, um Aristide und dessen Familie auf dem Rückweg nach Haiti zu begleiten. Glover schrieb auf der Website der Menschen- und Sozialrechtsorganisation Trans Africa Forum, deren Vorsitzender er ist: "Ich gehe nach Südafrika, um unsere Solidarität mit den Menschen Haitis zum Ausdruck zu bringen, indem ich an der Seite des Führers stehe, den sie zwei Mal mit überwältigender Mehrheit gewählt haben." Man könne nicht guten Gewissens untätig herumsitzen, wenn der frühere Diktator Duvalier ungehindert in sein Land zurückkehren könne, während ein demokratisch gewählter Politiker, der friedlich die Macht an einen anderen gewählten Präsidenten abgetreten habe, an der Rückkehr in sein Land gehindert werde. [6]

Um den Einfluß Aristides in der armen Bevölkerungsmehrheit des Landes auch nach seiner gewaltsamen Vertreibung zu zerschlagen, ließ man seine Partei Fanmi Lavalas nicht zu den Wahlen zu. Das war auch bei der aktuellen Präsidentschaftswahl der Fall, die daher ebenso wenig wie frühere Urnengänge Legitimität für sich in Anspruch nehmen kann. Jean-Bertrand Aristide ist der letzte demokratisch gewählte Staatschef seines Landes. Da er durch einen von den USA unterstützten Putsch entmachtet wurde, könnte er mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen, im Grunde nach wie vor der Präsident Haitis zu sein.

Was die Besatzungsmächte fürchten, ist die nicht abzusehende Größe und Tragfähigkeit seiner Anhängerschaft. Nachdem man die Fanmi Lavalas, die eher eine Bewegung als eine klar konturierte Partei ist, durch jahrelange Drangsalierung und Ausgrenzung zerschlagen zu haben glaubte, ist angesichts der Rückkehr Aristides nicht auszuschließen, daß die zutiefst verelendete Bevölkerung in ihm den langersehnten Kulminationskern zur erhofften Besserung ihrer Lage verortet. In Erwartung der Heimkehr Aristides renovierten seine Anhänger die frühere Residenz im Stadtteil Tabarre und schmückten sie mit Fähnchen. In Flugblättern rief die Lavalas-Partei zu einer Versammlung am internationalen Flughafen von Port-au-Prince auf, um ihn zu empfangen. Die Repräsentantin der Partei, Maryse Narcisse, lud Vertreter ausländischer Medien zu einer Pressekonferenz in der Hauptstadt ein.

Jean-Bertrand Aristide wurde am 15. Juli 1953 als Sohn einer Bauernfamilie in Port Salut im Süden Haitis geboren. Er besuchte in Port-au-Prince die Schulen der Salesianer und studierte Philosophie und Psychologie, dann auch Theologie. Nach weiteren Studien im Ausland promovierte er in Theologie und trat in den Salesianerorden ein. Bischof Willy Romelus von Jeremie, der seinerzeit zu den schärfsten Kritikern des Duvalier-Clans gehörte, weihte ihn 1983 zum Priester. Die Erlebnisse in den Armenvierteln der Hauptstadt ließen Aristide gegen die Diktatur aufbegehren, wobei er nicht nur das Gewaltregime, sondern auch die Rolle der USA anprangerte, deren langjährige Statthalter die Duvaliers waren. Vom einfachen Volk geliebt und verehrt, wurde er zum Befreiungstheologen und Identifikationsfigur der "kleinen Kirche", die mit den Ausgebeuteten lebt.

Der Sturz der seit den 1930er Jahren herrschenden Duvaliers mündete 1986 in eine Militärdiktatur. Nach zahlreichen internen Konflikten schlossen die Salesianer Aristide 1988 aus ihrem Orden aus, worauf er sich weiterhin in der Demokratiebewegung engagierte und 1990 für ein linkes Parteienbündnis zur Präsidentschaftswahl antrat. Als Hoffnungsträger der Armen gewann er klar mit 63 Prozent und versprach den Menschen Demokratie und Gerechtigkeit. Doch nur sieben Monate später putschte ihn das Militär 1991 aus dem Amt. Er ging zunächst nach Venezuela und dann in die USA ins Exil. Washington brachte ihn 1994 im Zuge einer Militärintervention wieder ins Präsidentenamt, nicht ohne ihm zuvor politische Zugeständnisse abgezwungen zu haben, deren Ausmaß nie in vollem Umfang bekannt geworden ist.

Da die Verfassung eine zweite Amtszeit in Folge ausschloß, wurde sein Gefolgsmann René Garcia Préval Präsident. Die Partei Lavalas gewann weiter an Einfluß und brachte Aristide 2000 erneut ins höchste Staatsamt. Unter wachsendem Druck oppositioneller Kräfte und der US-Regierung, die ihn angesichts mangelnder Willfährigkeit mit Sanktionen überzog, die seinen politischen Handlungsspielraum drastisch einengten und die angestrebten Sozialreformen verhinderten, spitzte sich seine Lage zu. Von ausländischen Medien als autokratischer Machthaber oder gar neuer Duvalier diskreditiert, formierte sich eine Front, die seinen Sturz forderte und betrieb. Er überlebte mehrere Mordanschläge und rüstete angesichts zunehmend gewaltsamer Auseinandersetzungen seine bewaffneten "Chimären" auf, worauf man ihm vorwarf, er greife in seiner Machtbesessenheit auf die gefürchteten geheimpolizeilichen Zwangsmittel der Diktaturzeit zurück. Im Gegensatz zum Vatikan stand die katholische Kirche Haitis lange zu dem längst laisierten Priester, doch kam es zum endgültigen Bruch, nachdem er 2003 die Voodoo-Religion mit dem Katholizismus gleichgestellt hatte. Als Aristide am 1. Januar 2004 zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit von Frankreich nach Le Gonaives kam, wo 1804 die Republik ausgerufen wurde, blieb ihm die Kathedrale demonstrativ verschlossen. [7]

Wenig später rückten die Banden ehemaliger Soldaten, Geheimpolizisten und anderer Schergen oder Mitläufer aus Diktaturzeiten gegen die Hauptstadt Port-au-Prince vor, während internationale Medien ungerührt von einer Demokratiebewegung sprachen, die sich aufgemacht habe, den Despoten zu stürzen. Aristide ersuchte mangels einer Armee, die er selbst Jahre zuvor abgeschafft hatte, die US-Regierung um Unterstützung gegen den drohenden Staatsstreich. Washington verweigerte ihm jedoch die erbetene Hilfe mit der absurden Begründung, man wolle sich in die inneren Angelegenheiten Haitis nicht einmischen. Erst im letzten Augenblick flogen US-Soldaten im Februar 2004 den entmachteten Präsidenten und seine Familie ins Exil aus, nicht ohne ihn zuvor zu bedrängen, eine vorgefertigte Abdankungserklärung zu unterzeichnen. Aristide verweigerte dies jedoch und sprach in der Folge von einer Verschleppung, zumal man ihn in der ferngelegenen Zentralafrikanischen Republik ruhiggestellt zu haben glaubte.

Auf die Vertreibung Aristides folgte die sofortige Besetzung des Landes durch US-Marines und die nachfolgende Okkupation durch die UN-Mission MINUSTAH. Aristide fügte sich nicht und reiste zunächst nach Jamaika, doch hätte seine sofortige Rückkehr nach Haiti zu einem Bürgerkrieg geführt. So nahm er schließlich das Angebot eines Exils in Südafrika an. Dort studierte er an der University of South Africa und erhielt 2007 einen Doktortitel für eine vergleichende Studie des haitianischen Kreyòl und der Zulu-Sprache. Seine Frau lehrte am Institute for African Renaissance Studies der Universität.

Nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 wurde Haiti unter dem Vorwand humanitärer Hilfe beim Wiederaufbau zu einem Protektorat degradiert. Maßgebliche Entscheidungen werden von äußeren Kräften diktiert, wobei in erster Linie die USA, Frankreich und Kanada zu nennen sind, die mit erheblichen Teilen der über tausend im Land präsenten NGOs eine administrative Allianz geschmiedet haben.

Wie populär Jean-Bertrand Aristide in Haiti noch immer ist, unterstreicht die Haltung der beiden Präsidentschaftskandidaten Mirlande Manigat und Michel Martelly. Um sich Wählerstimmen aus dem Lager der größten, aber nicht zur Wahl zugelassenen Partei Fanmi Lavalas zu sichern, überboten sie einander mit Willkommensgrüßen. Manigat erwähnte gar, sie würde im Falle ihres Wahlsiegs Aristide, der sich im südafrikanischen Exil intensiv mit Neurolinguistik beschäftigt hat, gerne in ihre Bildungspolitik einbinden. Die 70 Jahre alte Rechtsprofessorin und frühere Präsidentengattin Manigat und der ebenso populäre wie rechtslastige 50jährige Musiker Martelly haben einen weitgehend inhaltsleeren Wahlkampf geführt und die vordringlichen Themen des Wiederaufbaus und Besatzungsregimes tunlichst ausgespart. Wer auch immer am 16. April zum neuen Präsidenten Haitis ausgerufen wird, dürfte kaum mehr als eine Marionette jener Kräfte sein, die an Haiti die innovative Verfügungsform eines Protektorats im Namen der Katastrophenregulation exerzieren.

Anmerkungen:

[1] Aristide-Rückkehr überschattet Wahl in Haiti (18.03.11)
http://www.dw-world.de/dw/function/0,,83389_cid_14922376,00.html

[2] Aristide lässt Rückkehr nach Haiti vorbereiten (17.03.11)
http://www.focus.de/politik/ausland/wahlen-aristide-laesst-rueckkehr-nach-haiti-vorbereiten_aid_609527.html

[3] Stichwahl in Haiti. Verwirrung über Aristides Rückkehr (17.03.11)
http://www.taz.de/1/politik/amerika/artikel/1/verwirrung-ueber-aristides-rueckkehr/

[4] Haiti: Showdown vor der Wahl. Gerüchte über Rückkehr von Ex-Präsident Aristide bestimmen die Lage. Einmischung der USA und Frankreichs. Wahlkampf weitgehend ohne Inhalte (17.03.11)
http://amerika21.de/nachrichten/2011/03/25818/haiti-aristide-wahl

[5] Haiti - Aristide: "Wir freuen uns nach Hause zu kommen" (18.03.11)
http://latina-press.com/news/79574-haiti-aristide-wir-freuen-uns-nach-hause-zu-kommen/

[6] Früherer Präsident Aristide kehrt nach Haiti zurück (17.03.11)
NZZ Online

[7] "Das Volk fordert meine Rückkehr". Ex-Präsident Aristide ist wieder in Haiti (18.03.11)
http://www.domradio.de/aktuell/72185/das-volk-fordert-meine-rueckkehr.html

18. März 2011