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LATEINAMERIKA/2399: Calderóns Mexiko - subalterner Spießgeselle der USA (SB)


Pakt mit bevorzugten Kartellen einziger Ausweg aus dem "Drogenkrieg"?


In Mexiko herrscht Krieg. Das Land hat soeben die gewalttätigste Woche seit Ausbruch des "Drogenkrieges" vor dreieinhalb Jahren erlebt, denn wie die Zeitung "Reforma" berichtete, wurden zwischen dem 12. und 18. Juni nicht weniger als 300 Menschen ermordet, wobei die Opfer größtenteils in Zusammenhang mit Drogendelikten stehen sollen. Unter den Toten befanden sich 29 Polizisten und zwei Soldaten, 23 Opfer wiesen demnach Folterspuren auf, eines sei enthauptet worden. Die jüngsten Zahlen eingerechnet, wurden seit Jahresbeginn landesweit 5.228 Mordopfer registriert, während es nach Angaben der Regierung im gesamten Vorjahr 9.653 gewesen waren. Allein in Juárez, das als "Hauptstadt der Morde" gilt, wurden im vergangenen Jahr 2.660 Menschen umgebracht. [1]

Wie schrankenlos die brutale Gewaltanwendung entufert, dokumentiert auch ein Blutbad im Gefängnis der Stadt Mazatlán. Dort gingen verfeindete Häftlinge mit Schußwaffen aufeinander los, worauf in den Kämpfen 29 Insassen getötet wurden. Vor wenigen Tagen erschossen Soldaten in der Touristenstadt Taxco 15 Mitglieder einer Drogenbande. Im Bundesstaat Michoacán starben zwölf Polizisten in einem Hinterhalt. In der Stadt Madero hatten unbekannte Täter jüngst 20 Leichen abgelegt, deren Hände gefesselt waren und von denen einige Folterspuren aufwiesen. Ermordet wurde auch Manuel Lara Rodríguez, Bürgermeister der an der Grenze zu den USA gelegenen Landgemeinde Guadalupe. Die Täter warfen die Leiche vor sein Haus in der nahe gelegenen Großstadt Juárez, wohin sich Rodríguez wegen Todesdrohungen zurückgezogen hatte. [2]

Wenngleich sich diese Auseinandersetzungen als erbitterte Kämpfe um Territorien und Transportrouten zwischen den Kartellen sowie blutige Gefechte zwischen Sicherheitskräften und den Drogenbanden darstellen, fehlt es dieser deskriptiven Charakterisierung an analytischer Tiefenschärfe, um Ursachen, Verlaufsformen und Prognosen dieses Konflikts angemessen zu bestimmen. Der sogenannte Antidrogenkrieg der Vereinigten Staaten in Ländern Lateinamerikas war stets in erster Linie ein Konstrukt, Interventions- und Infiltrationsvorwände im Kampf gegen gesellschaftliche Umwälzungen zu schaffen. Der international agierende Drogenhandel erfordere eine ebensolche Operationsfreiheit bei seiner Bekämpfung, wie auch sein konspirativer Charakter jegliche Gegenmaßnahmen der Überwachung und Durchdringung rechtfertige, lautete die Faustformel. Der Schulterschluß mit regionalen Bündnispartnern ist in diesem Zusammenhang vor allem der Absicht geschuldet, soziale Bewegungen zu beschneiden, unerwünschte politische Verschiebungen auszubremsen und die Hungerrevolte präventiv einzudämmen.

Die Partizipation am Drogengeschäft bleibt vom Anfang bis zum Ende der Produktionskette in hohem Maße ein Armutsphänomen, da diese Erwerbstätigkeit allzu oft die einzige oder mit Abstand einträglichste für zahllose Menschen im Dunstkreis der Kartelle ist. Die soziale Frage auszublenden oder allenfalls beiläufig zu erwähnen, gliche dem hilflosen Versuch, das Phänomen des Drogenhandels unter Absehung von seinem zentralen konstitutiven Merkmal erörtern zu wollen. Hinzu kommt im Falle Mexikos dessen Pufferfunktion für das nördliche Nachbarland USA, das seine Südgrenze auf diesem Wege gegen die Armutsmigration abzuschotten versucht. Die anbrandende Woge des Elends soll bereits auf mexikanischem Territorium gebrochen und zurückgeworfen werden, wodurch dieses Land in zunehmendem Maße in einen Hexenkessel eskalierender Auseinandersetzungen verwandelt wird.

Bezeichnenderweise setzt die mexikanische Regierung unter massiver Mithilfe der US-Administration auf eine militärische Lösung des Problems, die sich nur solange als kontraproduktiv darstellt, wie man dem vorgehaltenen Zweck der Bekämpfung des Drogenhandels Glauben schenkt. Erkennt man jedoch die Militarisierung der Innenpolitik und den forcierten Ausbau sicherheitsrelevanter Strukturen als gewünschte und gezielt herbeigeführte Stoßrichtung, erschließt sich die Logik eines permanenten "Antidrogenkriegs" im Dienst der Etablierung eines innovativen Repressions- und Administrationsregimes.

Daß die Schwächung alteingesessener Kartelle zwangsläufig deren innere Hierarchie aufbricht und gegenseitige Gebietsabsprachen hinfällig macht, mithin zum Ausbruch blutiger Machtkämpfe zahlreicher Fraktionen und neuer Akteure führt, hat schon das Beispiel Kolumbiens gelehrt. Mexikos Präsident Felipe Calderón hat den einheimischen Kartellen den Krieg erklärt und damit denselben Prozeß dramatisch eskalierender Waffengewalt in Gang gesetzt, der von den USA im Rahmen der Merida-Initiative mit vielen Millionen Dollars Rüstungshilfe subventioniert wird. Da die mexikanische Führung diesen zunehmend zügellosen Verlauf jedoch weniger denn je kontrollieren kann, verdichten sich in jüngerer Zeit Hinweise, wonach die Regierung Calderón ihr Heil in der Rückkehr zu den alten Verhältnissen suchen könnte, soweit es das Gefüge der Drogenkartelle betrifft. Alle derartigen Organisationen in die Knie zu zwingen, ist weitaus schwieriger, als sie gegeneinander auszuspielen und dabei jenen zur Vorherrschaft zu helfen, die man favorisiert.

Als die Organisation "Los Zetas" am 19. März mindestens 31 Straßen und Autobahnen der nordwestlichen Großstadt Monterrey mit geraubten Lastwagen, Ambulanzen und anderem Gefährt versperrte und sich im Zentrum mit der Armee ein schweres Gefecht mit automatischen Feuerwaffen und Handgranaten lieferte, glich dies einem unmißverständlichen Signal an das ganze Land, daß die Straße dem Kartell gehört. Nach der Hauptstadt ist Monterrey, das etliche große Konzerne beherbergt, die reichste Metropole Mexikos, in dessen Herz der Krieg damit vorgedrungen ist. [3]

Der "Drogenkrieg" hat sich vor allem deshalb nach Monterrey wie auch den gesamten Nordosten des Landes ausgeweitet, weil dort die Allianz zwischen dem Golfkartell und seinem bewaffneten Arm in Gestalt der Zetas zerbrach. Verhilft die Regierung in diesem Territorium dem Golfkartell zum Sieg über die als besonders grausam geltenden Zetas, könnte dies durchaus den Effekt einer Befriedung der Region haben. Wie Experten andernorts beobachtet haben wollen, bevorzugen die Behörden das Kartell von Sinaloa. Obgleich die von Joaquín "El Chapo" Guzmán geführte Organisation geschätzte 45 Prozent des Drogenhandels kontrolliere, sei sie in den letzten sechs Jahren nur von einem vergleichsweise geringen Bruchteil der insgesamt 53.000 Festnahmen betroffen gewesen. Dem liege keineswegs ein Plan Calderóns zugrunde, doch sei dieses Kartell schlichtweg in Sachen Korruption außerordentlich effektiv.

Wo eine Organisation klar dominiert, nehmen gewaltsame Auseinandersetzungen in der Regel deutlich ab. Zwar hat die Regierung Calderón die Option einer staatlich vermittelten Aufteilung der Gebiete unter den Kartellen stets kategorisch ausgeschlossen und wird das wohl auch künftig in ihren offiziellen Verlautbarungen tun, doch könnte politische Opportunität durchaus dazu führen, einer solchen Tendenz stattzugeben. Die Lage der konservativen Regierungspartei gilt als derart katastrophal, daß eine Niederlage des Partido Acción Nacional (PAN) bei den wichtigen Gouverneurswahlen am 5. Juli so gut wie feststeht. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen von 2012 sieht es gegenwärtig keinen Deut besser aus, sofern es Calderón nicht gelingt, dem alltäglichen Morden ein Ende zu setzen und den Bürgern ein Gefühl wachsender Sicherheit zu geben. Der Präsident hat die heftige Kontroverse um mutmaßliche Manipulationen bei seiner Wahl lange Zeit weitgehend zum Schweigen gebracht. Sollte als Fazit seiner Amtszeit gezogen werden, daß er das Land in ein beispielloses Blutbad gestürzt hat, ohne einen Ausweg daraus zu finden, wird man sich wohl auch daran erinnern, mit welchen Mitteln er seinerzeit an die Macht gekommen ist.

Das politische Schicksal Felipe Calderóns und der PAN könnte daher auf Gedeih und Verderb mit einer Kumpanei verwoben sein, wie sie in früheren Jahren weithin das Feld beherrschte. Drogenkartelle als Ordnungsfaktoren einer informellen Ökonomie, die ihre Einflußsphäre konsolidieren und unter den Radar öffentlicher Wahrnehmung abtauchen, um ungestört ihren lukrativen Geschäften nachzugehen, ja womöglich sogar zu einem Kodex gegenseitiger Umgangsformen zurückfinden, würden dann den Eindruck erwecken, das Land sei nach einigen Jahren letztendlich sinnloser Eskalation wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt.

Die Auffassung, Felipe Calderón habe auf ganzer Linie versagt und im günstigsten Fall das Rad am Ende wieder zurückgedreht, könnte jedoch kaum irreführender sein. Sollte dieser Präsident samt seiner Partei im landläufigen Sinn scheitern, was keineswegs ausgeschlossen ist, änderte das nicht das Geringste an den verhängnisvollen Prozessen, die unter der politischen Führung dieses Staatschefs vorangetrieben worden sind. Er hat das Tor für die Vereinigten Staaten sperrangelweit aufgestoßen und Mexikos innere Sicherheit nicht nur an den Tropf US-amerikanischer Militärhilfe gehängt, sondern seinem Land zugleich den Vasallenstatus eines subalternen Spießgesellen verpaßt. Calderón hat die Bundespolizei modernisiert, die Streitkräfte aufgerüstet und die Sicherheitspolitik militarisiert, um erfolgreich Krieg gegen jene wachsenden Sektoren der mexikanischen Bevölkerung wie auch zugewanderte Hungermigranten aus anderen Ländern führen zu können, deren elende Lebensverhältnisse zur Revolte drängen.

Anmerkungen:

[1] Blutigste Woche im mexikanischen Drogenkrieg (21.06.10)
http://news.search.ch/ausland/2010-06-21/blutigste-woche-im-mexikanischen-drogenkrieg

[2] Welle der Gewalt. 300 Morde in einer Woche in Mexiko (21.06.10)
http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article8116922/300-Morde-in-einer-Woche-in-Mexiko.html

[3] Harte Jungs gegen böse Buben im Drogenkrieg (22.06.10)
Neue Zürcher Zeitung

24. Juni 2010