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LATEINAMERIKA/2372: Regierung Uribe gefährdet das Leben der Geiseln (SB)


Kolumbiens Staatschef verhindert seit Jahren Gefangenenaustausch


Die in wenigen Tagen erwartete Freilassung der beiden Soldaten Pablo Emilio Moncayo und Josué Daniel Calvo aus der Gewalt der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) bietet Anlaß, sich mit einigen wesentlichen Aspekten zur Lage der beiderseitigen Gefangenen im kolumbianischen Konflikt zu befassen. Ausgangspunkt jeden Diskurses über die aktuelle Entwicklung des Bürgerkriegs sollte bleiben, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in Kolumbien allen Grund geben, sich für politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen einzusetzen. Die Guerilla von den systemischen Wurzeln des Konflikts abzuspalten, kann nur dem Zweck geschuldet sein, mit der angestrebten Vernichtung der Rebellen auch die Gründe ihres Kampfs endgültig unter den Teppich zu kehren.

Stets waren die herrschenden Kräfte bestrebt, den bewaffneten Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung aus diesem Zusammenhang zu reißen. Dabei kam es im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte zu einer qualitativen Steigerung der Bezichtigung, die nicht allein für Kolumbien gilt, sondern im Weltmaßstab in Stellung gebracht wurde. Räumte man zunächst noch die Existenz zweier konkurrierender Gesellschaftsentwürfe ein, als man die FARC zum Handlanger weltkommunistischer Bestrebungen erklärte, so sprach man ihr später den Status eines ideologischen Gegners ab, indem man sie kriminalisierte und zu einer Verbrecherbande erklärte. Als "Terroristen" diffamiert, beraubte man sie schließlich der Anerkennung als menschliche Wesen, womit sie jeden Anspruch auf Recht und Gesetz verloren. Da "Terroristen" per Definition keine nachvollziehbaren Gründe für ihr Handeln haben, sondern angeblich von Haß auf Freiheit und Fortschritt getrieben sind, kann man sie gnadenlos verfolgen, foltern, einkerkern und töten, so die Doktrin.

Man muß davon ausgehen, daß die kolumbianische Regierung weder an der Freilassung der Gefangenen, noch an ernsthaften Friedensverhandlungen mit der Guerilla interessiert ist. Für sie zählt ausschließlich die Vernichtung der Insurgenten und die Ausmerzung jeglicher Potentiale und Bestrebungen, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Land zu verändern. Zu diesem Zweck läßt sie sich von ihrer Schutzmacht USA alimentieren und aufrüsten, der sie überdies die Nutzung zahlreicher Militärstützpunkte überlassen hat. Präsident Álvaro Uribe hatte bei seinem Amtsantritt im Jahr 2002 der Guerilla den bedingungslosen Krieg erklärt und sich seither geweigert, mit den Rebellen über eine Freilassung Hunderter inhaftierter FARC-Mitglieder im Austausch mit ihren Geiseln zu verhandeln. Der Staatschef hat die militärische Befreiung aller Gefangenen in Händen der Rebellen angeordnet, was die Angehörigen zwangsläufig mit tiefer Sorge erfüllt.

Während sein sozialdemokratischer Vorgänger Andrés Pastrana der FARC zeitweise eine demilitarisierte Schutzzone von der Größe der Schweiz gewährt hatte, in der Gespräche geführt wurden, erklärte Uribe kategorisch, er werde den Rebellen keinen einzigen Quadratmeter kolumbianischen Bodens freiwillig überlassen und sie militärisch besiegen. Er lehnt es insbesondere ab, die Guerilla als Kriegspartei anzuerkennen, und bezeichnet sie als "Terroristen", mit denen man nicht verhandle. Die große Offensive der mit US-amerikanischer Hilfe massiv aufgerüsteten Streitkräfte blieb jedoch nach anfänglichen militärischen Erfolgen stecken, und so galt dieser Vorstoß bereits Ende der ersten Amtszeit Uribes 2006 als gescheitert.

Vertreter der kolumbianischen Zivilgesellschaft versuchen ebenso wie Diplomaten und Organisationen europäischer Länder seit Jahren vergeblich, einen Gefangenenaustausch zu vermitteln. Während die Rebellen immer wieder Gespräche über einen Austausch vorschlugen, durchkreuzte die Regierung in Bogotá alle diesbezüglichen Initiativen. Allerdings machte Uribe die Forderung der Angehörigen zu schaffen, die immer drängender einen Austausch verlangten und dafür internationale Unterstützung erhielten. Dennoch setzte der Staatschef mit seiner Weigerung, Gespräche mit der Guerilla zu führen, das Leben der Entführten aufs Spiel und ging dabei so weit, die erfolgreiche Vermittlung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez zu sabotieren, in deren Verlauf die FARC namhafte Gefangene ohne Gegenleistung freiließ.

Nehmen die Streitkräfte die Verfolgung von Entführern auf oder greifen deren Lager an, ist das Leben der Geiseln in höchster Gefahr. Bei einem der gravierendsten Zwischenfälle wurden am 18. Juni 2007 elf Regionalpolitiker im Verlauf eines Angriffs Uniformierter auf ein Lager der Guerilla getötet, wobei es sich um eine mißglückte Befreiungsaktion der Armee oder auch ein eher zufälliges Feuergefecht gehandelt haben könnte. Nachdem die FARC dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) die Koordinaten übermittelt hatte, wurden die sterblichen Überreste der Opfer im Dschungel aufgefunden.

Bei der spektakulärsten Befreiungsaktion kamen am 2. Juli 2008 die prominenteste Gefangene in Gestalt der früheren Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt, drei Mitarbeiter eines privaten US-amerikanischen Militärdienstleisters und weitere namhafte Geiseln durch eine unblutig verlaufene Operation frei. Kolumbianische Offiziere hatten die für die Bewachung der Geiseln verantwortlichen Rebellen bestochen und Rot-Kreuz-Symbole völkerrechtswidrig mißbraucht. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf warf der Regierung in Bogotá vor, sie habe mit der gezielten Verwendung des IKRK-Emblems bei der verdeckten Militäroperation die Genfer Konventionen gebrochen. Gegen dieses Abkommen zu verstoßen, gilt gemeinhin als außerordentliche Heimtücke einer kriegführenden Partei, die nach bislang vorherrschendem Verständnis von Völkerrecht und Humanität scharf verurteilt und womöglich sanktioniert wird.

Mit ihrer spektakulären Scharade hatte die kolumbianische Führung einen politischen Erfolg gefeiert, jedoch das Leben Hunderter weiterer Geiseln ungerührt aufs Spiel gesetzt. Da bei der Operation seit geraumer Zeit tätige Unterhändler humanitärer Organisationen mißbraucht und laufende Vermittlungsbemühungen ausgenutzt wurden, um die Rebellen zu täuschen, stand die Frage im Raum, wie die FARC je wieder angeblich neutralen und humanitär tätigen Vermittlern oder Vertretern des Roten Kreuzes über den Weg trauen sollte.

Für die Angehörigen der gewissermaßen namenlosen Gefangenen stellte die Art und Weise der Befreiung Betancourts einen Rückschlag dar. Diese einmalige Aktion ließ sich nie mehr wiederholen, und darüber hinaus wurden künftige Vermittlungsbemühungen erschwert oder sogar unmöglich gemacht. In diesem Zusammenhang muß man berücksichtigen, daß eines der gravierendsten Probleme bei der Vermittlung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez die Vereinbarung eines Übergabeorts gewesen war, an dem die Rebellen auch vor anschließender Verfolgung sicher sein konnten. Vor dem Hintergrund einer Kommunikation, die von den US-amerikanischen Satelliten, Spionageflugzeugen und stationären Lauschposten jederzeit abgehört zu werden drohte, war die Freilassung der ersten Geiseln nicht nur eine politische und humanitäre, sondern auch eine logistische Meisterleistung.

Das gilt auch für die offenbar bevorstehende Freilassung des vor über zwölf Jahren von der FARC entführten Unteroffiziers Pablo Emilio Moncayo und des im April 2009 verschleppten Soldaten Josué Daniel Calvo. Das Schicksal des mittlerweile 31 Jahre alten Moncayo, der sich länger als alle anderen Gefangenen in den Händen der Rebellen befindet, ist weithin bekannt, da sein Vater, Gustavo Moncayo, Tausende Kilometer zurückgelegt hat, um sich für die Freilassung seines Sohnes einzusetzen. Als "Wanderer für den Frieden" kennt man ihn weit über Kolumbien hinaus, seit er nicht nur von der Regierung in Bogotá, sondern auch von Hugo Chávez in Caracas, einer Reihe von europäischen Politikern und schließlich auch dem Papst empfangen wurde. Er wirft der Regierung Präsident Uribes vor, nur auf Gewalt gesetzt und einen Austausch der Geiseln gegen inhaftierte Rebellen absichtlich torpediert zu haben. [1]

Der 57 Jahre alte Lehrer aus der im Südwesten des Landes gelegenen Ortschaft Sandoná hatte sich 2006 einen Namen gemacht, als er zunächst nur in Begleitung seiner Tochter zu Fuß in anderthalb Monaten die mehr als 1.200 Kilometer bis in die Hauptstadt Bogotá zurücklegte, um die Unterstützung der Regierung einzufordern. Auf seinem langen Weg schlossen sich ihm immer mehr Menschen an, die seinen Wunsch nach einem Austausch aller Gefangenen teilten. Als ständig sichtbares Symbol ließ sich Moncayo Ketten anlegen, die er erst nach der Freilassung seines Sohnes ablegen will. "Die Gefangenen der Guerilla gewaltsam zu befreien, käme einem Todesurteil für sie gleich", warnte er schon damals und forderte eine politische Lösung durch Verhandlungen. [2]

Nach Angaben der oppositionellen Senatorin Piedad Córdoba, der die Rebellen trauen, da sie bereits mit Chávez als Vermittlerin tätig war, hat die FARC ein zwischen der Regierung und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ausgehandeltes Protokoll der Freilassung akzeptiert. Den genauen Ort der Übergabe kennt bislang nur Córdoba, die unter Berufung auf die Guerilla mitteilte, daß dort gegenwärtig noch gekämpft werde. Der Friedensbeauftragte der kolumbianischen Regierung, Frank Pearl, hat jedoch zugesagt, daß die Streitkräfte in einem größeren Gebiet von Freitagabend bis Sonntagmorgen alle Kampfhandlungen einstellen. Der Übergabeort dürfte irgendwo in den Urwäldern im Süden des Landes liegen, wobei zwei brasilianische Hubschrauber in der Provinzhauptstadt von Meta, Villavicencio, erwartet werden. Mit ihnen sollen die Gefangenen und die sterblichen Überreste eines 2006 in der Geiselhaft gestorbenen Polizisten abgeholt werden.

Bedenklich stimmt jedoch, daß die Armee ausgerechnet im unmittelbaren Vorfeld dieser komplizierten Aktion fünf andere Geiseln gewaltsam befreit hat. Wie General Rafael Neira bekanntgab, seien 2.500 Soldaten an der Operation in der Provinz Arauca im Osten des Landes nahe der Grenze zu Venezuela beteiligt gewesen. Bei dem Ort Gaviota hätten die Rebellen nach Gefechten die Flucht ergriffen, worauf die Geiseln zu den Soldaten gelaufen seien. Die Arbeiter waren erst vor wenigen Tagen entführt worden, wobei die Rebellen sie offenbar irrtümlich für Ingenieure gehalten hatten. Wie der geschilderte Verlauf der Geiselbefreiung zeigt, war das Leben der Gefangenen dabei in höchster Gefahr. Wenngleich sich dieser Vorfall weit entfernt von der Region, in der die Übergabe der beiden Soldaten stattfinden soll, abgespielt hat, ist seine Signalwirkung doch denkbar kontraproduktiv.

Die FARC hatte bereits im April 2009 in einem Kommuniqué angekündigt, sie wolle Pablo Emilio Moncayo ohne Gegenleistung freilassen, sofern Senatorin Piedad Córdoba bei der Übergabe des Gefangenen anwesend sei und die Regierung die notwendigen Garantien für eine ungefährdete Freilassung gebe. Bogotá verweigerte jedoch lange die Sicherheitsgarantien und stemmte sich gegen eine Beteiligung Córdobas, so daß die Freilassung verzögert wurde. Uribe versucht auch in diesem Fall zu verhindern, daß die Rebellen und seine politischen Gegner politischen Nutzen aus einer erfolgreichen Vermittlung ziehen können, weshalb man noch in letzter Sekunde eine weitere Intrige befürchten muß.

Anmerkungen:

[1] Kolumbien: Militärschlag vor erhoffter Geiselfreilassung (24.03.10)
http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=55&tx_ttnews%5Btt_news%5D=76138&tx_ttnews%5BbackPid%5D=23&cHash=0885a689af

[2] Freilassung von Moncayo und Calvo rückt näher (23.03.10)
http://www.redglobe.de/amerika/kolumbien/3609-freilassung-von-moncayo-und-calvo-rueckt-naeher

24. März 2010