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LATEINAMERIKA/2360: Kanada drangsaliert Haiti in vorderster Front (SB)


Ottawa dient sich Washington als kongenialer Juniorpartner an


Im Windschatten der Brachialgewalt US-amerikanischer Suprematie schickt sich auch Kanada mit aggressivem Impetus an, einen Vorzugsplatz an den umkämpften Fleischtöpfen perspektivischer Überlebenssicherung zu Lasten einer ausgegrenzten Mehrheit der Menschheit einzufordern. Erinnert man sich daran, daß dieses Land einst in Kontrast zu seinem südlichen Nachbarn in dem Ruf stand, moderater, friedliebender und weltoffener zu sein, so sieht man sich kaum mehr als eine Generation später mit dem monströsen Drang der politischen Führung konfrontiert, dieses Image als verweichlicht zu diskreditieren und um so energischer Härte und Machtstreben zu demonstrieren.

Die furchterregenden Implikationen dieses Übergriffs bekommt derzeit auch Haiti zu spüren, das nach der Serie verheerender Erdbeben als hilflosestes aller Opfer endgültig in ein Experimentierfeld administrativer Elendsregulation verwandelt wird. Wie sich Millionen von Menschen, die verdursten, verhungern, Verletzungen oder Krankheiten erliegen, obdachlos sind und vergeblich auf angemessene Hilfe hoffen, militärisch unter Kontrolle bringen, politisch steuern und mit geringfügigstem Aufwand zwischen Leben und Sterben deponieren lassen, erproben die Besatzungsmächte unter dem fadenscheinigen Deckmantel der Katastrophenhilfe.

Da die Vereinigten Staaten kurzerhand die Führung an sich gerissen haben und demzufolge kritische Einwände auf sich konzentrieren, übersieht man leicht das vom Umfang her kleinere, jedoch nicht minder skrupellose Vorgehen der Kanadier. Der konservative kanadische Premierminister Stephen Harper reklamiert mit Nachdruck eine führende Rolle beim Hilfsprogramm und Wiederaufbau Haitis für seine Regierung, was nichts anderes bedeutet, als militärisch präsent, politisch einflußreich und wirtschaftlich erfolgreich an der Restverwertung der Haitianer und ihrer außerordentlich billigen Arbeitskraft beteiligt zu sein.

Die kanadische Regierung treibt mit massiven Mitteln ihre "robuste" Außenpolitik voran, deren Kernstück eine maßgebliche Beteiligung der Canadian Armed Forces (CAF) an der Bekämpfung des afghanischen Widerstands gegen das verhaßte Okkupationsregime der alliierten Kriegstreiber ist. Das haitianische Desaster eröffnet Harper und Konsorten nun die willkommene Gelegenheit, dasselbe Vormachtstreben in der Karibik unter dem Vorwand humanitärer Intervention zu exekutieren, das von der Opposition und den kanadischen Medien enthusiastisch unterstützt wird. [1]

In einer Rede vor Angehörigen der kanadischen Streitkräfte in Haiti diskreditierte Harper die liberalen Vorgängerregierungen seines Landes als Protagonisten einer "soft power" in internationalen Angelegenheiten, was historisch fragwürdig, jedoch als propagandistisches Kontrastmittel nichtsdestoweniger brauchbar war, um sein Hohelied der "hard power" zu singen. Die ganze Welt, verkündete der Premier, sei nun Zeuge, daß Kanada ein bedeutender Akteur bei der Intervention im Falle von Naturkatastrophen ist. Dies sei nur möglich geworden, weil seine Regierung vier riesige C-17 Transportflugzeuge erworben habe, mit deren Hilfe man Nachschub nach Afghanistan und an Schauplätze künftigen militärischen Engagements in Übersee befördern könne. Die Welt von heute komme ohne "hard power" eben nicht aus, weshalb die Moral der Geschichte sei, daß man "hard power" brauche, um "soft power" wie im Katastrophenfall in vollem Umfang gewährleisten zu können.

Da die kanadische Öffentlichkeit einer massiven Medienkampagne zum Trotz dem Kriegseinsatz in Afghanistan ihre Zustimmung entzogen und den Abzug der Kampftruppen bis Ende 2011 den Weg bereitet hat, kommt der Funktionalisierung der Katastrophenhilfe in Haiti, die man den Bürgern angesichts des dortigen Schreckensszenarios ausgezeichnet verkaufen kann, vorrangige Bedeutung zu. In enger Abstimmung mit Washington entsandte die Regierung in Ottawa unmittelbar nach dem ersten schweren Erdbeben 2.000 Soldaten und zwei Kriegsschiffe nach Haiti. Während das Hauptkontingent der Truppen in Port-au-Prince stationiert wurde, positionierte man kleinere Einheiten in den Städten Jacmel und Léogâne, wo sie die Führungsrolle der US-Streitkräfte in der Hauptstadt kopierten, einen Flughafen besetzten und die humanitäre Hilfe kontrollierten. Diese Vorgehensweise trug auch dort dazu bei, daß tatsächliche Hilfslieferungen erst verspätet eintrafen und die konkreten Maßnahmen zur Unterstützung der sterbenden und notleidenden Bevölkerung nur verzögert anliefen.

Am 25. Januar war die kanadische Regierung Gastgeber einer internationalen Wiederaufbaukonferenz in Montreal, in deren Mittelpunkt die Debatte stand, wie man Haiti zu einem Hort des Niedriglohnsektors vor allem in der Textilfertigung ausbauen könne. Die vollmundig angekündigte finanzielle Unterstützung des karibischen Armenhauses hält sich hingegen in kleinlichen Grenzen, da die kanadische Regierung zu den geschätzten 14 Milliarden Dollar, auf die der Wiederaufbau des verwüsteten Landes derzeit veranschlagt wird, kaum mehr als 1,5 Prozent beisteuern wollen.

In Anbetracht bestehender und für die Zukunft ins Auge gefaßter wirtschaftlicher Verbindungen zu lateinamerikanischen Ländern richten kanadische Regierungen schon seit geraumer Zeit ihren begehrlichen Blick in diese Weltregion. Dabei treten sie jedoch in Konkurrenz zu den USA, die Lateinamerika als ihren Hinterhof für sich reklamieren und die Einmischung anderer nationalstaatlicher Ausbeuter oder überstaatlicher Bündnisse aus dem Feld zu schlagen versuchen. Angesichts dieser Klemme sieht Ottawa offensichtlich sein Heil darin, sich der Hegemonialmacht als Juniorpartner anzudienen, um an der Seite des stärksten Räubers nicht weggebissen, sondern bevorzugt an der Beute beteiligt zu werden.

Da die Vereinigten Staaten den wachsenden Einfluß Chinas und der EU in den Ländern Lateinamerikas fürchten müssen und den Aufstieg der Brasilianer zu einem überregionalen Schwergewicht mit Argwohn verfolgen, setzt die kanadische Führung darauf, sich mit militärischem Engagement und politischem Gleichschritt aus Perspektive Washingtons unentbehrlich zu machen. Kanada sei hilfreich, formulierte es jüngst dessen Außenminister Lawrence Cannon, um den Eindruck zu entkräften, der näherrückende Abzug aus Afghanistan könne den Einfluß seines Landes in Washington schmälern. Außenpolitisch liege man doch in vielfacher Hinsicht auf einer Linie mit den Amerikanern.

Daß dem so ist, haben die Kanadier unter Beweis gestellt, als es galt, das Ärgernis Jean-Bertrand Aristide zu eliminieren. Der haitianische Präsident mußte entfernt werden, weil er mit Unterstützung der in Armut lebenden Bevölkerungsmehrheit zu regieren versuchte. Wenngleich die ihm von Washington und dessen Verbündeten unterstellten Ambitionen seine tatsächlichen Möglichkeiten und Absichten überzeichneten und verzerrten, verkörperte er doch aufgrund seines Rückhalts in der Bevölkerung ein Potential möglichen Widerstands gegen den uneingeschränkten Zugriff hegemonialer Verfügung. Washington fror unter einem an den Haaren herbeigezogenen Vorwand bewilligte Kredite und zugesagte Hilfsgelder ein, wodurch Aristide daran gehindert wurde, geplante Sozialleistungen und Infrastrukturvorhaben umzusetzen.

Haiti steht als Exerzierfeld eines von den USA hinterrücks inszenierten Staatsstreichs in einer Reihe mit Venezuela, wo die Putschisten 2002 umgehend verjagt wurden, und Honduras, wo die Restauration der angestammten Herrschaftsverhältnisse vorerst gelang, während sich Washington vor den Augen der Welt die Hände in Unschuld wusch. Nachdem der aufgezwungene ökonomische Druck die Lage dramatisch verschärft hatte, aber die Mehrheit der Haitianer nach wie vor zu Aristide stand, ließ man eine Mörderbande von Exmilitärs, ehemaligen Polizeichefs und anderem Gesindel von der Kette, die aus dem benachbarten Ausland einfiel und eine demokratische Erhebung gegen die angeblich despotische Präsidentschaft vortäuschen sollte.

Da Aristide Jahre zuvor in seiner ersten Amtszeit die Streitkräfte abgeschafft hatte, die zu nichts anderem als Putschversuchen taugten, und die schwachen Polizeikräfte den vorrückenden Paramilitärs nicht gewachsen waren, bat Aristide angesichts des drohenden Bürgerkriegs und Umsturzes die USA eindringlich um Hilfe. Diese wurde ihm von Washington mit dem durchsichtigen Argument verweigert, man wolle sich in die inneren Angelegenheiten des Landes nicht einmischen. Als sich der Präsident nicht mehr halten konnte und die Mobilisierung seiner zahllosen Anhänger zu einem Blutbad geführt hätte, entführten ihn US-Soldaten in letzter Minute in die Zentralafrikanische Republik, wobei sie ihm vergeblich eine Rücktrittserklärung abzupressen versuchten. Heute lebt Jean-Bertrand Aristide im südafrikanischen Exil und darf nicht in seine Heimat zurückkehren, da die USA und die Regierung in Port-au-Prince noch immer seinen Einfluß fürchten.

Gemeinsam mit Washington und Paris trug die kanadische Regierung im Jahr 2004 die perfide Strategie zur Entmachtung Aristides mit. Kaum war dieser außer Landes gebracht, als auch schon US-Marines und kanadische Eliteeinheiten in Haiti einmarschierten, um die Anhänger des Präsidenten in Schach zu halten und eine Marionettenregierung zu installieren. Kanadische Ausbilder schulten die haitianische Polizei, um regimetreue Sicherheitskräfte zu formieren. Ottawa förderte die Gründung einer gemeinsamen Handelskammer beider Länder und hob die Zölle für Textilien und Bekleidungsgüter auf, um die Sweatshops in Haiti zu fördern und die darin ausgepreßte Arbeitskraft zu verwerten.

Somit hat die kanadische Führung in der Tat den Beweis erbracht, daß sie dem Denken und Handeln Washingtons in nichts nachsteht. Die Verbindung von Unterwürfigkeit gegenüber dem Stärksten und Aggressivität gegenüber dessen Opfern, deren sich Ottawa heute mehr denn je befleißigt, läßt die eingangs erwähnte Erinnerung an das andere Kanada - wenn es denn je existiert hat - zu einem fernen Traum verblassen, als seien alle Brücken zu einer solchen Tradition unwiderruflich abgebrochen.

Anmerkungen:

[1] Canada's prime minister uses Haiti visit to promote "hard power" (25.02.10) World Socialist Web Site

26. Februar 2010