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LATEINAMERIKA/2272: Calderóns Rede zur desaströsen Lage der Nation (SB)


Ausbau der inneren Sicherheit gegen die soziale Revolte


In seiner alljährlichen Rede zur Lage der Nation sah sich Mexikos Präsident Felipe Calderón gezwungen, die Katastrophen beim Namen zu nennen, die das Land in den zurückliegenden zwölf Monaten heimgesucht haben: Eine von der globalen kapitalistischen Systemkrise zerrüttete Wirtschaft, dramatisch gesunkene Erlöse aus dem Ölgeschäft, eine verheerende Dürre im Gefolge des Klimawandels und den staatlich inszenierten Notstand angesichts der Schweinegrippe. Eine stellte er allen anderen voran: Das eskalierende Massaker des von ihm forcierten Kriegs gegen die Drogenkartelle, der das Szenario schafft, den Hungernden und Elenden eine repressive Sicherheitspolitik entgegenzusetzen, der ihre Revolte im Keim ersticken soll.

Er sei der erste anzuerkennen, daß alles bislang Erreichte unzulänglich bleibe gemessen an der Vision jenes Mexiko, das man erstrebe, beschwor der Präsident ein verbindendes nationales Vorhaben, das die aufbrechenden gesellschaftlichen Widersprüche in die eiserne Klammer einer übergeordneten Notstandsverfügung zwingen soll. Er schlage nichts weniger vor, als die stets vom politischen Kalkül beschränkte Logik möglicher Veränderungen zu überwinden und zur Folgerichtigkeit eines tiefgreifenden Wandels vorzudringen, der es gestatte, mit der lähmenden Untätigkeit zu brechen, erklärte er im Nationalpalast. [1]

Calderón schloß seine Rede mit dem Appell an die Opposition, die im Kongreß die Mehrheit hat, bei der Bewältigung der sich auftürmenden Probleme mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Dem an diversen Fronten belagerten Präsidenten beizustehen, dürfte indessen nicht gerade der innigste Wunsch seiner parteipolitischen Konkurrenz sein, die nach den massiven Verlusten der regierenden PAN bei den Wahlen im Juli Morgenluft wittert. Die Wiederauferstehung der jahrzehntelang herrschenden PRI ist in vollem Gange, da sie inzwischen die weitaus größte Fraktion im Parlament stellt und die krönende Rückkehr in den Präsidentenpalast ins Auge faßt, wenn Calderóns Amtszeit in knapp zwei Jahren ausläuft. Der Staatschef muß daher in einer Parteienkonstellation Politik machen, die zum überwiegenden Teil von seinem Scheitern zu profitieren hofft.

Ginge es tatsächlich darum, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, wäre das unter diesen Umständen ein aussichtsloses Unterfangen. Da sich die politisch einflußreichen Gruppierungen jedoch unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit in ihrem strategischen Beitrag zur Herrschaftssicherung einig sehen, findet mindestens partiell und befristet ein Schulterschluß statt, der die gesellschaftlichen Verhältnisse innovativ ausbaut. Die von den Politikern stets bemühte Wohlfahrt Mexikos oder der Mexikaner bleibt natürlich wie überall eine Fiktion, da es im wesentlichen darum geht, die Ausbeutungsverhältnisse fortzuschreiben und weiterzuentwickeln.

Den ersten Teil der Ansprache widmete Calderón den angeblichen Erfolgen seiner Administration im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Da die mexikanischen Zeitungen in ihrer laufenden Statistik inzwischen bei mehr als 13.600 Toten seit Amtsantritt des Präsidenten im Dezember 2006 angelangt sind, zweifeln immer mehr Bürger daran, daß die Vorgehensweise der Regierung zielführend und daher unterstützenswert ist. Solchen Kritikern hielt der Staatschef entgegen, man habe unter seiner Führung nicht nur erstmals den Kampf gegen die Kartelle aufgenommen, sondern auch durch zahlreiche Festnahmen, enorme Drogenfunde sowie in großem Umfang beschlagnahmte Waffen und Fahrzeuge die Branche spürbar geschwächt.

Natürlich geht diese Rechnung nicht auf, da alle Erfahrung im internationalen Antidrogenkampf in erster Linie von fortgesetzten Verschiebungsprozessen und rasch wechselnden Verhältnissen zeugt. So ist der Aufstieg der mexikanischen Kartelle nicht zuletzt eine Folge der Diversifizierung der vordem führenden kolumbianischen Bandenszene infolge staatlicher Eingriffe. Vor allem aber stellt der Antidrogenkampf ein Instrument staatlicher und insbesondere überstaatlicher Sicherheitspolitik dar, das sich aus dem Phänomen des illegalisierten Drogengeschäfts speist, das zu bekämpfen es vorgibt.

Felipe Calderón hat den Krieg gegen die Kartelle in den Rang des vordringlichen Konflikts der mexikanischen Gesellschaft erhoben, der alle anderen und für die alltägliche Lebensbewältigung von Millionen Menschen weitaus wichtigere Anliegen in den Hintergrund drängt. Die Umrüstung des Staates zu einem sehr viel repressiver strukturierten Zugriffsgefüge schreitet unter Verweis auf die blutigen Drogenkämpfe in Riesenschritten voran, damit der Bevölkerung Geist und Mut des Widerstands ausgetrieben werden können, sollte sie die Hungerrevolte auf die Straße tragen.

Zudem liefert der Antidrogenkampf den Schlüssel zur Öffnung aller Tore für die Administration der USA, die den internen mexikanischen Krieg nicht nur durch milliardenschwere Militärhilfe subventioniert, sondern auch den Schulterschluß der Sicherheitsapparate einfordert und erhält. Militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit läuft in diesem Verhältnis zwangsläufig nicht auf eine Partnerschaft, sondern überproportionale Verfügungsgewalt zu Lasten des Vasallenstaats hinaus, zu dem Washington das südliche Nachbarland zurichtet. Mexiko soll die Südgrenze der USA als Vorposten gegen den Ansturm der verhungernden Massen abpuffern, wozu es enger als je zuvor an die Kandare genommen wird.

Worauf das hinausläuft, bekommen die Mexikaner in wirtschaftlicher Hinsicht längst zu spüren, da ihr Land härter als die meisten anderen von der weltweiten Krise erschüttert wird. Selbst optimistischen Vorhersagen zufolge wird die Wirtschaft in diesem Jahr um mindestens sieben Prozent schrumpfen, womit das Land den schwersten Rückschlag seit der großen Depression hinnehmen muß und im Kreis der weltweit maßgeblichen Volkswirtschaften nur noch von Rußland mit schätzungsweise elf Prozent Schwund übertroffen wird. Das sinkende Bruttosozialprodukt geht mit einem dramatischen Kursverfall des Peso einher, der nur durch massive Stützungsmaßnahmen der Zentralbank sowie die einsetzende Schwäche des US-Dollars gebremst wurde. [2]

Für die ohnehin prekäre Erwerbslage der Bevölkerung zeitigt das verheerende Folgen. Niemand spricht heute mehr hinter vorgehaltener Hand, wenn er die ökonomische Abhängigkeit Mexikos von den USA als Hauptursache dieser Heimsuchung nennt. Dies zeugt davon, wie weitreichend die mexikanischen Eliten um ihres Vorteils willen das Land einem weitaus mächtigeren Räuber überantwortet haben. Vorgebliche Entwicklungspotentiale Mexikos wie die Manufakturen zur Belieferung des US-Markts haben sich angesichts der krisenhaften Entwicklung im Hauptabnehmerland als besonders anfällig erwiesen. Entlehnte Stärke verwandelt sich in eine Fessel, was sie aus Perspektive des Gläubigers von Anfang an war.

Seit ihrer Einbindung in die NAFTA hat sich die Wirtschaft Mexikos von ihrer weitgehenden Ausrichtung auf die heimische Nachfrage abgewandt und dem Export vor allem in die USA den Zuschlag gegeben, wohin heute der Löwenanteil der Ausfuhren geht. Zugleich kommen auch die Importe und Investitionen überwiegend aus dem nördlichen Nachbarland. Der Verfall des Ölpreises, Einbrüche im Tourismus und in der Fertigung von Exportgütern, aber auch rückläufige Geldüberweisungen von mexikanischen Arbeitsmigranten haben die wichtigsten Einnahmequellen schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Hunderttausende Arbeitsplätze gingen insbesondere in grenznahen industriellen Zentren wie Ciudad Juárez, Nuevo Laredo und Tijuana verloren, so daß groben Schätzungen zufolge inzwischen 20 Millionen Arbeitskräfte in den informellen Sektor abgedrängt wurden, was 45 Prozent der arbeitenden Bevölkerung des Landes entspricht. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist heute wesentlich schlechter als während der Wirtschaftskrise von 1994 und nähert sich zusehends den elenden Zuständen in den 1930er Jahren.

Die Administration Calderóns hatte zunächst alle Warnungen vor der Wirtschaftskrise scharf als unverantwortliche Panikmache kritisiert und versichert, die Ökonomie Mexikos sei gegen die Verwerfungen auf den Finanzmärkten des Nordens so gut wie gefeit. Als die Krise dann durch die offene Tür zu den USA mit voller Wucht hereinbrach, erteilte die mexikanische Regierung naheliegenden konventionellen Ansätzen zur Dämpfung der Folgen im eigenen Land wie etwa einer Ankurbelung des Konsums oder einer erleichterten Kreditvergabe ein Absage. Durch Kürzungen des Staatshaushalts und steigende Zinsen aufgrund der Geldpolitik der Zentralbank wurde die Wirtschaft zusätzlich abgewürgt.

Der krisenverschärfende Kurs der konservativen Regierung resultiert nicht zuletzt aus dem Diktat der Wall Street, deren über die Ratingagenturen vermittelten Drohungen Mexiko folgen muß, will es den Wertverfall seiner Staatsanleihen bremsen und damit die verbliebene Kreditwürdigkeit retten. In den Ketten der Schuldknechtschaft gebunden, unterwirft sich die mexikanische Führung dem Willen der Gläubiger, deren Profite auf der Schaffung von Unwert in Gestalt massenhaften Elends im abhängigen Nachbarland beruhen. Somit ist der Regierung Calderóns der Weg verwehrt, dem Beispiel der USA oder der Europäer zu folgen und die Verwertungsbedingungen der eigenen Wirtschaft mittels immenser Zuwendungen von Steuergeldern befristet wiederzubeleben.

Anmerkungen:

[1] Leader Urges Cooperation Against Ills Mexico Faces (03.09.09)
New York Times

[2] Mexican economy in free-fall (26.08.09)

World Socialist Web Site

4. September 2009