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LATEINAMERIKA/2270: Massenverfahren gegen Schergen der chilenischen Diktatur (SB)


Vergangenheit läßt sich auch in Chile nicht bewältigen


Als nach dem Tod Augusto Pinochets die obligatorischen Krokodilstränen beim Rückblick auf die Diktatur in Chile getrocknet waren, gedachte man dieses umstrittene Kapitel der Weltgeschichte endgültig zu den Akten zu legen. War nicht die wahre Aufgabe des Diktators ohnehin sehr viel komplexer, als es der Nachwelt scheinen mag, warf damals nicht nur das "Wall Street Journal" die rhetorische Frage auf, ob nicht ein ansehnliches Wirtschaftswachstum ein wenig Entführung, Folter und Mord rechtfertige. Daß die Junta Chile vor dem Chaos gerettet und zu einem südamerikanischen Wirtschaftswunderland gemacht habe, ist der zentrale Mythos eines Interessenkomplexes, der die chilenischen Eliten mit ihren mächtigen Hintermännern in den Metropolen vereint. Stets ging es um Ausbeutung und Zurichtung der chilenischen Bevölkerung, der aller Widerspruchsgeist ausgetrieben werden sollte, um der neoliberalen Offensive den Weg zu bereiten.

Wenn heute US-Amerikaner oder Europäer behaupten, sie hätten damals das wahre Ausmaß der Diktatur nicht erkannt, zu lange geschwiegen oder vielleicht nicht entschieden genug dagegen protestiert, ist das die Fortsetzung der alten Lügen im Dienste innovativ weiterentwickelter Herrschaftsgelüste. Wer Ohren hatte zu hören, konnte schon damals alles erfahren, was man wissen mußte, um Stellung zu beziehen. Es ist mitnichten eine Frage unvollständiger Kenntnisse oder fehlender Beweise, denn daß US-Amerikaner und Europäer selbst in den Folterkellern zugegen waren, haben Überlebende nicht allein in Chile bezeugt.

Längst sind die Pseudokritiker der Diktatur ins breite Fahrwasser des weltweiten Kampfs für die Menschenrechte eingeschwenkt, in dem man versöhnt mit dem Establishment Kriege auf dem Balkan, in Afghanistan, dem Irak und wer weiß noch wo fordern und feiern kann. Unter den zahlreichen Stimmen, die internationalen Zugriff und ein Weltgericht verlangen, um Altdiktatoren zu ergreifen und abzuurteilen, finden sich erschreckend wenige, die in diesem Kontext nicht die Justiz hochleben lassen und das Ende nationaler Souveränität predigen. Daß man einem Massenmörder wie Pinochet die Pest an den Hals wünschen kann, ohne zugleich das hohe Lied justiziabler Gerechtigkeit und überstaatlich inszenierter Vergangenheitsbewältigung zu singen, will diese Allianz nicht gelten lassen.

Dabei hätte man durchaus hellhörig werden können, als US-Regierungen darangingen, vormals geheime Akten aus der Juntazeit freizugeben. Hatte sich Washington etwa zum Paulus gewandelt, um bußfertig alle Sünden der Vergangenheit einzugestehen und Besserung zu geloben? Das Gegenteil war der Fall, denn erstens wurden nur jene Teile zugänglich gemacht, die keine unmittelbare Drahtzieherschaft belegten, und zweitens diente diese Vernebelungskampagne dem Zweck, die angestrebte neue Weltordnung gängig zu machen, galt es doch unter anderem, weltpolizeiliches Denken zu etablieren.

Hinzu kommt natürlich, daß die USA noch nie Probleme damit hatten, alte Verbündete und willfährige Handlanger zu opfern, wenn dies der weiterentwickelte Machtausbau geboten erscheinen ließ. Überdies geht es konform mit dem Gebaren uneingeschränkter Willkür, heute zu geißeln, was man gestern noch unterstützt hat, wenn niemand sonst über die Mittel verfügt, das Gebäude zunehmender Denkkontrolle zum Einsturz zu bringen.

Zweifellos war die US-Regierung am 11. September 1973 schon deswegen im Bilde, weil sie den Umsturz in Chile selbst mit vorbereitet und ihm ihre Unterstützung zugesichert hatte. Unter den Präsidenten Nixon und Ford hielt Washington seine schützende Hand über das Regime und wehrte internationale Kritik ab. Man kolportierte die alte Propagandalüge der CIA, die Allende-Regierung sei um 1972 repressiv geworden und habe gedroht, Journalisten ins Gefängnis zu werfen. Weiter behauptete man, Allendes Administration sei für Versorgungsengpässe und Inflation verantwortlich gewesen, als habe die Nixon-Regierung nie die Parole ausgegeben, die chilenische Wirtschaft so lange abzuwürgen, bis die Sozialisten darüber zu Fall gebracht seien. Washington fror Kredite ein, bremste die Ausfuhren nach Chile und pumpte Geld ins Land, um Kampagnen der Unternehmerschaft zu befördern, die zum Niedergang der Wirtschaft beitrugen.

Wenn heute im größten Massenverfahren der chilenischen Justizgeschichte rund 120 frühere Mitglieder der Geheimpolizei und ehemalige Militärs wegen Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur angeklagt werden, gilt es daher über den bloßen Reflex der Genugtuung hinaus erheblich mehr in Erwägung zu ziehen, als das alte Lied von der erfolgreichen Wiederherstellung der Demokratie in Chile hergibt. Unter der Pinochet-Diktatur wurden zwischen 1973 und 1990 etwa 3.100 Menschen umgebracht und mindestens 50.000 Opfer von Folter. Bisher wurde gegen 711 Täter aus dem Bereich von Polizei und Militär Anklage erhoben, wobei 51 von ihnen bereits Haftstrafen absitzen. [1]

Unter den aktuell Angeklagten befindet sich auch der frühere Chef der Geheimpolizei DINA unter Diktator Augusto Pinochet, Manuel Contreras. Er wurde bereits wegen anderer Menschenrechtsverbrechen zu insgesamt 300 Jahren Gefängnis verurteilt. Während bei früheren Prozessen fast ausschließlich Führungskräfte des gefürchteten Geheimdienstes zur Rechenschaft gezogen wurden, klagt man im aktuellen Massenverfahren auch untere Ränge wie etwa Wachen der damaligen Folterlager an. Aus Justizkreisen verlautete dazu, daß es sich bei den Beschuldigten um Offiziere und Unteroffiziere aller Waffengattungen und der Geheimpolizei handle. Sämtliche Haftbefehle sollen umgehend vollstreckt werden. [2]

Wie der zuständige Richter Victor Montiglio sagte, sei man damit einem Abschluß wesentlich näher gekommen. Er hatte die Ermittlungen im Jahr 2006 von dem Richter Juan Guzmán übernommen, der sie seit 1998 führte. Die Staatsanwaltschaft legt den Verdächtigen zur Last, Mittäter bei Entführungen von Diktaturgegnern gewesen zu sein, in deren Folge Dutzende Menschen, darunter auch die Führung der kommunistischen Partei, umgebracht wurden. "Wir ermitteln gegen alle in der Kaserne, sofern sie beteiligt waren, beteiligt gewesen sein könnten oder von der Freiheitsberaubung der Opfer gewußt haben könnten", sagte Montiglio dem Rundfunksender "Radio Cooperativa".

Diese Prozesse müßten mit Haftstrafen enden, da sich die Justiz andernfalls lächerlich machen würde, erklärte die Sprecherin der Vereinigung der Angehörigen von Entführten und verschwundenen Diktaturopfern, Mireya García.

Die Ermittlungen beziehen sich auf die Kampagnen "Operation Condor" und "Operation Colombo", mit denen in den 1970er Jahren systematisch Jagd auf Regimegegner gemacht wurde. Der "Operation Colombo" fielen 1975 insgesamt 119 chilenische Oppositionelle zum Opfer. Richter Montiglio hatte im Zusammenhang mit dieser Kampagne Pinochet im Dezember 2005 unter Hausarrest gestellt. Bei der "Operation Condor" handelte es sich um eine koordinierte Repression der Militärregierungen Chiles, Argentiniens, Brasiliens, Boliviens, Paraguays und Uruguays, die linke politische Kräfte grenzüberschreitend verfolgten und ermordeten. Hunderte Menschen verschwanden während dieser Zeit spurlos oder wurden bei Anschlägen umgebracht, darunter auch der 1974 in Buenos Aires ermordete chilenische Armeechef Carlos Prats und der 1976 in Washington getötete chilenische Minister Orlando Letelier.

Wie nach jedem Regimewechsel steht auch im Falle Chiles die vielzitierte Vergangenheitsbewältigung vor dem Problem, die tief in zahlreiche Sektoren der Gesellschaft verästelte Beteiligung an der Diktatur auszublenden und den Täterkreis einzuengen, um mit einer scharfen Trennlinie zwischen einigen wenigen Despoten und Millionen Unschuldigen die Option einer präzisen Abrechnung und insbesondere eines Neuanfangs zu suggerieren. Immerhin munkelt man derzeit, daß die aktuellen Anklagen vor allem deswegen erhoben worden sind, weil die Regierung dreieinhalb Monate vor der Präsidentenwahl wegen der Enthüllung unter Druck geraten ist, daß die Militärs ehemalige Mitglieder des staatlichen Unterdrückungsapparats bis heute beschäftigen und ihnen hohe Gehälter zahlen.

Anmerkungen:

[1] 120 Anklagen in Chile wegen Diktatur-Verbrechen. Regierung wegen Enthüllungen kurz vor Präsidentenwahlen unter Druck (02.09.09)
NZZ Online

[2] Chile: Haftbefehle gegen 129 Sicherheitskräfte der Pinochet-Diktatur (02.09.09)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5jZ1uADx-Vr0PtyVknKbEbz-6ZJcQ

2. September 2009