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LATEINAMERIKA/2263: Sippenhaft im Dienst der inneren Sicherheit Mexikos (SB)


Antidrogenkampf rüstet den Staat gegen die Bürger


Mexiko zählt zu jenen Ländern Lateinamerikas, in denen die Kluft zwischen einer kleinen, außerordentlich wohlhabenden Elite und einem Millionenheer in Armut lebender Menschen besonders deutlich ausgeprägt ist. Die Weltwirtschaftskrise trifft die Mexikaner aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten besonders hart, wobei die Einkünfte der reichsten Bevölkerungsteile nicht gelitten haben, während die Masse der Menschen mit geringen Verdienstmöglichkeiten die schwersten Rückschläge zu verkraften hat. Daß es bei dieser Form der Umlastung bleibt, hat sich der konservative Präsident Felipe Calderón auf die Fahne geschrieben, der jüngst die fehlende Anstrengung und Opferbereitschaft seiner Landsleute zur Stimulierung der Wirtschaft beklagte und allen Ernstes verkündete, die Zukunft liege allein in Privatisierung, Liberalisierung und Marktkontrolle durch die Wirtschaft. Unterdessen bescheinigen jüngste Wirtschaftsdaten Mexiko die schwerste Krise seit 1932 samt einer verheerenden Zunahme der Arbeitslosigkeit. Reguläre Beschäftigungsverhältnisse, die das Einkommen sichern, können immer weniger Menschen für sich in Anspruch nehmen, wobei insbesondere die junge Generation kaum noch Erwerbsmöglichkeiten findet. [1]

Soziale Unruhen bis hin zu regelrechten Hungerrevolten sind es folglich, zu deren Eindämmung und Niederschlagung sich der mexikanische Staat zur Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse strategisch rüstet. Vor diesem Hintergrund sorgt der sogenannte Antidrogenkampf, dessen Eskalation die Administration Präsident Calderóns herbeigeführt hat, für ein Szenario ständiger Bedrohung, das den Ausbau eines repressiven Arsenals samt dessen Akzeptanz in der Bevölkerung begründet und rechtfertigt. Der Krieg gegen die Kartelle verschleiert nicht nur die wesentlichen gesellschaftlichen Widersprüche und Bruchlinien, er erhebt auch die Sicherheitsfrage in den Rang der alles entscheidenden Maßgabe, hinter der sämtliche anderen Konflikte zurückzustehen haben.

Zugleich leistet er einer rasanten Militarisierung Vorschub, indem Zehntausende Soldaten an die Brennpunkte der Auseinandersetzungen entsandt werden, wo sie Polizeifunktionen ausüben und mitunter sogar den Polizeiapparat ganzer Städte ersetzen. Teile der Sicherheitskräfte im Handstreich auszutauschen, Führungspositionen von höchster Stelle zu besetzen und schwerbewaffnete Truppen an jedem beliebigen Ort einsetzen zu können, ohne daß diese Vorgänge einer nennenswerten parlamentarischen Kontrolle unterliegen, schafft die Voraussetzungen für ein Regime, das über weitgehend unbegrenzte Zwangsmittel und Zugriffsmöglichkeiten verfügt, wenn es gegen den eigentlichen Feind im Innern, nämlich eine aufbegehrende Bevölkerung geht.

Die Calderón-Administration, deren aggressive Vorgehensweise gegen die Strukturen des Drogengeschäfts von den USA subventioniert und unterstützt wird, die Mexiko zur Pufferzone gegen den anbrandenden Hunger des Südens ausbauen, sieht keinen Grund zur Deeskalation. Der fortgesetzte Waffengang gegen die Kartelle ist zwar politisch durchaus prekär, verspricht aber den Ausbau eines starken Staates und massive Unterstützung Washingtons in Gestalt von Geldern, Waffen, Ausbildung und behördlicher Zusammenarbeit. Wenngleich die Regierung dies natürlich heftig bestreiten würde, um Gesicht und Wählerschaft nicht zu verlieren, handelt es sich längst um einen strategischen Entwurf, der im Schulterschluß mit den USA durchgesetzt wird.

Wie tief dieser Krieg in das soziale Gefüge eingreift und dessen Zusammenhalt zerstört, dokumentiert die Auseinandersetzung der Administration mit dem Kartell "La Familia" im Bundesstaat Michoacán. Dessen Anführer Servando Gomez hatte die Regierung kürzlich in einem lokalen Fernsehsender gewarnt, man werde es mit ihm zu tun bekommen, falls man seinen Vater, seine Mutter oder seine Brüder angreife. Genau das ist jedoch wenig später geschehen, da seine Mutter Maria Teresa Martinez und sein Bruder Luis Felipe Gomez Martinez festgenommen wurden. Während die Mutter zwei Tage später aufgrund fehlender Beweise wieder freigelassen wurde, befindet sich der Bruder weiterhin in Haft. [2]

Damit geht die Regierung dazu über, die Familienmitglieder hochrangiger Kartellführer mit der Bezichtigung ins Visier zu nehmen, sie seien entweder am organisierten Verbrechen beteiligt oder verfügten zumindest über verwertbare Informationen, die preiszugeben man sie zwingen müsse. Gomez hatte in seiner Stellungnahme ein Szenario an die Wand gemalt, in dem Verwandte, Freunde und selbst Leute, die man besuche, als Komplizen betrachtet und ins Gefängnis geworfen werden. Mit dieser Perspektive hatte er die Stoßrichtung der jüngsten Entwicklung durchaus auf den Kopf getroffen, die auf eine generalisierte Kriminalisierung des Umfelds hinausläuft.

Die staatlichen Sicherheitskräfte funktionalisieren das Argument, die Kartelle seien vorzugsweise in Familienverbänden organisiert, die ein Höchstmaß an interner Vertrauenswürdigkeit garantierten. Um diese Strukturen aufzubrechen, müsse man bei der Beteiligung aller ansetzen und auf diese Weise Druck ausüben. Mit einer derartigen Praxis ist man jedoch umgehend bei einer Spielart der Sippenhaft gelandet, welche die Unschuldsvermutung endgültig entsorgt und Strafverfolgung in eine Form der Aufstandsbekämpfung verwandelt. Meist sind die Kartelle mit der ansässigen Bevölkerung in der Weise verzahnt, daß sie nicht nur zahlreichen Menschen Erwerbsmöglichkeiten verschaffen, sondern auch Infrastrukturprojekte realisieren, die staatliche Stellen schuldig geblieben sind.

Das trifft in besonderem Maße für "La Familia" zu, die, wie schon ihr Name andeutet, als Organisation mit besonders eng verflochtenem inneren Zusammenhalt gilt. Ursprünglich als eine Gruppe von Vigilanten ins Leben gerufen, die sich den Schutz der örtlichen Bevölkerung vor Banden und Entführern zur Aufgabe gemacht hatte, verfügt sie über ungewöhnlich großen Rückhalt in Bundesstaat Michoacán, auf den sie ihre Aktivitäten bislang weitgehend beschränkt hat. Die Übernahme des Drogengeschäfts liegt noch nicht lange zurück und ist ein Resultat der Schwächung ehemals vorherrschender Kartelle, die zu eskalierenden Verteilungskämpfen um die lukrativen Einkünfte führte. Binnen relativ kurzer Frist stieg "La Familia" zur landesweiten Führerschaft beim Handel mit Amphetaminen auf.

Die Organisation sorgte 2006 überregional für Schlagzeilen, als Unbekannte fünf abgeschlagene Köpfe in einen Nachtklub warfen, um konkurrierenden Banden eine unmißverständliche Kampfansage zu machen. Mit dem rasch wachsenden Einfluß des Kartells spitzte sich die Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften dramatisch zu, was inzwischen zu der Einschätzung Anlaß gibt, es handle sich bei "La Familia" um eine der gefährlichsten Gruppierungen des Landes. Nachdem im Juli der mutmaßliche Operationschef der Organisation festgenommen worden war, folgte eine Welle von Feuerüberfällen auf Polizeistationen in einer ganzen Reihe von Städten, die offenbar die ungebrochene Macht des Kartells unter Beweis stellen sollte. Zudem fand man die Leichen von zwölf Bundespolizisten zu einem Haufen gestapelt neben einer Überlandstraße, was nur als weitere Drohung den Behörden gegenüber interpretiert werden konnte.

Willkürlich Menschen unter dem Vorwurf zu verhaften, sie stünden im Dienst des Kartells, wird indessen mit Sicherheit nicht dazu beitragen, Rückhalt für das Vorgehen der Regierung zu schaffen. Dies ist jedoch nachrangig aus Perspektive einer Administration, die sich höherwertige Ziele gesetzt hat. Die offizielle Lesart, wonach sich das organisierte Verbrechen in seinem Umfeld durch Bestechung einkaufe, verschleiert die prekären sozialen Verhältnisse und fordert die um ihre Existenzsicherung ringende Bevölkerung auf, sich für illegal erklärter informeller Tätigkeiten zu enthalten. Auch dieser Aspekt einer repressiven Politik der inneren Sicherheit verweist darauf, daß hier strategische Optionen umgesetzt werden, die sich des sogenannten Antidrogenkampfs bedienen, jedoch weit darüber hinausgreifen.

Anmerkungen:

[1] Mexikos Wirtschaft wankt (20.08.09)

junge Welt

[2] Mexico goes after mother of cartel leader (21.08.09)
http://www.csmonitor.com/2009/0821/p06s12-wogn.html

24. August 2009