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LATEINAMERIKA/2238: Kontroverse um Sandinisten schlägt hohe Wogen (SB)


30 Jahre nach dem Sieg über Somoza schießen die Kommentare ins Kraut


Dreißig Jahre nach dem 19. Juli 1979, der den Sieg der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) über das verhaßte Regime des Despoten Anastasio Somoza Debayle und dessen Flucht nach Miami als historisches Datum markiert, schlägt die Kontroverse um Daniel Ortega und die in Nicaragua regierenden Sandinisten hohe Wogen. Befürworter und Gegner der ebenso häufig wie unzulässig auf die Person des Präsidenten reduzierten aktuellen Entwicklung in dem zweitärmsten Staatswesen Lateinamerikas hauen einander von Glaubensdoktrin und Moralanspruch überfrachtete Brocken um die Ohren, als gelte es allen Ernstes, entweder ein gelobtes Land in den Himmel zu heben oder einen Wolf im Schafspelz rundweg zu verteufeln. Diese Entuferung in verabsolutierte Polaritäten zurückzunehmen, muß nicht zwangsläufig ein Plädoyer für die Wankelmütigkeit eines opportunistischen Mittelwegs sein, der sich alle Optionen offenzuhalten glaubt. Es könnte ja ganz im Gegenteil dazu führen, die oftmals unhinterfragt in die Diskussion geworfenen Begriffe und Konzepte nüchtern auf ihren Gehalt zu überprüfen und mittels dieser Analyse eine Positionierung ins Feld zu führen, die nicht dem Dilemma der Anpassungsnöte anheimfällt.

So widersprüchlich die Berichte und Einschätzungen hinsichtlich Nicaraguas auch sein mögen, kommt man doch einen Riesenschritt voran, wenn man die Verfechter der jeweils vorgetragenen Bewertung auf ihre politische Einbettung und Interessenlage abklopft. Wenn bürgerliche Autoren und Medien Krokodilstränen über die gescheiterte Revolution in dem mittelamerikanischen Land vergießen, kann man diese scheinheilige Häme getrost als durchsichtige Propaganda entsorgen.

Vor 30 Jahren setzten die Sandinisten in Nicaragua dem diktatorischen, Menschen verachtenden Somoza-Clan ein Ende. Was folgte, war allerdings ein mindestens ebenso autoritäres und brutal regierendes Regime. [1]

Kann der Kommentator nicht umhin, die Diktatur Somozas als solche zu bezeichnen, so dient ihm dies doch lediglich als Vehikel, mit einer im Lichte geschichtlicher Kenntnisse nachgerade absurden Gleichsetzung die Sandinisten in Bausch und Bogen zu verdammen.

Den Wahlsieg erlangten Sandinisten im Jahr 2006 vielen Kritikern zufolge nicht wegen, sondern vielmehr trotz Daniel Ortega und aus Mangel an Alternativen: 16 Jahre rechter und konservativer Regierungen konnten dem Land auch keine wirtschaftliche Erholung verschaffen. Ende 2006 war Nicaragua nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas und viele Jungwähler hatten die Entbehrungen der Sandinistenzeit und den Bürgerkrieg kaum noch in Erinnerung. [2]

Auch dies ein ebenso verbreiteter wie dümmlicher Winkelzug, den Wahlsieg einer unerwünschten Fraktion von allen konkreten Gründen seitens der Wähler zu entkoppeln und zu einer Notlösung zu erklären, hinter der angeblich niemand ernsthaft stand. Den Jungwählern der FSLN wird schlicht Unwissenheit unterstellt, wobei man den Sandinisten Entbehrungen und Bürgerkrieg in die Schuhe schiebt, als hätten sie die massiven Anfeindungen durch die USA zu verantworten.

Nach 17 Jahren in der Opposition ist die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) in Nicaragua wieder an der Macht. Doch mit der Partei, die im Jahre 1979 unter dem Jubel Hunderttausender nach Managua einzog, hat die FSLN nicht mehr viel gemein. Der Mythos ist verblasst, die einstigen Ideale sind einer korrupten Machtpolitik gewichen. [3]

Unter Verwendung plakativer Schlagwörter wird ein Szenario der Bezichtigung eröffnet, zu dessen Illustration sich der Autor in der Folge genüßlich des Streits der ehemaligen Kampfgenossen Ernesto Cardenal, Sergio Ramírez und Edén Pastora um die Grundsatzfrage bedient, wer die Revolution verteidigt und wer sie verraten habe. Für einen Journalisten, dem revolutionäre Bestrebungen zutiefst suspekt sind, ist es natürlich ein gefundenes Fressen, sich an der Spaltung des feindlichen Lagers zu weiden und seine These durchzutragen, daß es dabei ohnehin nur um Machtgier, Bereicherung und Geltungssucht gehe.

Den meisten Armen in Nicaragua sind diese Ränke egal. Für sie zählen die Sozialprogramme, die Ortega aufgelegt hat. Mit den venezolanischen Petrodollars und internationalen Hilfsgeldern werden Häuser und Straßen gebaut, Nahrungsmittel in den Armenvierteln subventioniert und der Analphabetismus bekämpft. Trotzdem muss jeder Zweite in Nicaragua weiter mit zwei Dollar am Tag auskommen. Auch deshalb ist Ernesto Cardenal gestern nicht zu den 30-Jahr-Feiern nach Managua gefahren. Für ihn gibt es nichts zu feiern. [4]

Diese Schlußbemerkung des Kommentatoren zeigt seine Verachtung für die angebliche Dummheit der armen Leute, denen völlig egal sei, woher das Geld kommt. Zwar kann der Autor die Sozialprogramme der Regierung Ortegas nicht unterschlagen, doch diskreditiert er sie postwendend mit dem Nachsatz, daß "trotzdem" jeder Zweite in Armut lebe. Zu feiern gibt es nichts in Managua, lautet das Fazit, weshalb es sich bei dem nicht zu bestreitenden Zuspruch zur Sozialpolitik der Führung in Managua in weiten Teilen der Bevölkerung nur um das Blendwerk einer Klientelpolitik handeln kann. Aus Perspektive des Wohlstandsbürgers ist Armut ein Phänomen, das man am besten ausgrenzen und keinesfalls besonders berücksichtigen sollte. Tut man es doch, muß es sich zwangsläufig um Populismus handeln, da Geld und andere Zuwendungen von armen Schluckern bekanntlich konsumiert, aber nicht investiert werden und folglich verschwendet sind.

Wie solche Streiflichter aus dem konservativen Blätterwald zeigen, nährt sich die selbstgefällig vorgehaltene Herablassung nicht zuletzt von den Brocken, die der erbitterte Streit unter den Sandinisten abwirft. Wenn Ernesto Cardenal über die "Familiendiktatur" der Ortegas wettert oder Ramírez den Präsidenten zu nichts weiter als einem lateinamerikanischen Caudillo degradiert, wenn der heutigen Regierung jede Verbindung zu früheren Bestrebungen abgesprochen und der revolutionäre Pathos ganz und gar für die eigene Position reklamiert wird, munitioniert man geradezu zwangsläufig jene Kräfte, die Sandinisten damals wie heute für ein Ärgernis halten, das aus der Welt geschafft werden muß.

Zweifellos hat Ortega zahlreiche Schritte vollzogen und Manöver eingeleitet, die man mit Fug und Recht als fragwürdig bezeichnen muß. Er hat Allianzen mit ideologischen Erzfeinden wie Ex-Präsident Arnoldo Alemán geschmiedet, um sich Mehrheiten in Parlament und Institutionen zu verschaffen, sich dem konservativsten Teil der Katholischen Kirche angedient, für ein paßförmiges Wahlgesetz gesorgt, Verwandte in Schlüsselpositionen plaziert, einträgliche Geschäfte getätigt und dabei geradezu machiavellistische Qualitäten an den Tag gelegt.

Andererseits hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) die nicaraguanische Regierung im Mai 2009 für ihre vorbildliche Politik bei der Nahrungsmittelsicherheit gelobt, gilt die Alphabetisierung als erfolgreich, ist das Gesundheitswesen kostenlos, wurde die Sozialversicherung wieder eingeführt und das Bildungswesen entprivatisiert, erhalten arme Bauernfamilien Kredite und ebenso wie Kinder besondere Leistungen, um nur die wichtigsten Maßnahmen zu nennen. Die Bürgerkomitees greifen auf ein Konzept direkter Demokratie zurück und außenpolitisch ist Nicaragua Mitglied des Bolivarianischen Bündnisses für die Völker Amerikas (ALBA).

In Washington teilt man offenbar die vielfach kolportierte Auffassung nicht, daß die sandinistische Partei unserer Tage ein verwässertes, verfälschtes und bürgerliches Zerrbild früherer Ambitionen sei, das man nicht ernstnehmen müsse. Dank geheimdienstlicher Erkenntnisse weiß man auf US-amerikanischer Seite sicher genauso gut wie in Managua, womit man es zu tun hat. Der Angriff gilt Ortega als Person, der FSLN als Partei, der Regierungspolitik in Nicaragua und schließlich auch des Potentials, das diese politische Führung wachrufen könnte. Strategisches Denken und Handeln greift über den Tag hinaus und sieht Gespenster, bevor sie die Konsistenz greifbarer Phänomene annehmen.

Der Debatte der Linken um Nicaragua würde es gut zu Gesicht stehen, sich insofern vom Streit der Fraktionen zu emanzipieren, als dieser mit Katechismus, Glaubensbekenntnis und Exkommunikation ausgetragen wird. Spätestens der Beifall von unerwünschter Seite sollte doch gemahnen, daß einen der Wunsch nach ideologischer Rechtschaffenheit weit über eine entschiedene Positionierung am Frontverlauf der Widerspruchslage hinausgetragen und zur Rückkehr ins Lager der Herrschaftssicherung legitimiert hat.

Anmerkungen:

[1] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,4493502,00.html

[2] ebenda

[3] http://www.handelsblatt.com/politik/international/nicaragua- abklatsch-in-zartrosa;2434506;2

[4] ebenda

21. Juli 2009