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LATEINAMERIKA/2234: Bohnen und Mais für viele Mexikaner unerschwinglich (SB)


Hunger im Schwellenland unter der Knute der USA


Das Kalkül der Eliten Mexikos, sich dem größten Räuber in der Absicht anzudienen, eng an seiner Seite den denkbar ergiebigsten Anteil der Beute abzubekommen, hat sich für die herrschende Minderheit durchaus gelohnt. Die Zeche bezahlen muß die breite Mehrheit der Menschen im Land mit schlechteren Lebensverhältnissen, die zunehmend in eine massenhafte Verelendung übergehen und das Millionenheer der Mittellosen anschwellen lassen. Ganze Familien, die Bahnstrecken nach Getreide, Viehfutter und anderem Eßbaren absuchen, das mitunter aus den Waggons vorüberfahrender Güterzüge fällt, sind wieder ein alltägliches Bild des Hungers geworden.

Im Februar berichtete die Wochenzeitung "Proceso" unter Berufung auf Informationen zweier Eisenbahngesellschaften von einer dramatischen Zunahme der Diebstähle von Mais und anderen Nahrungsmitteln. Demnach kamen den beiden privaten Unternehmen 2008 im Schnitt 35 Tonnen Mais pro Monat abhanden, worauf dieser Wert im Januar 2009 auf 700 Tonnen hochgeschnellt sei. Ähnliches verlautete von seiten des Agrogiganten Cargill, bei dem in den letzten drei Jahren durchschnittlich 2,5 Tonnen, Anfang 2009 jedoch bereits 35 Tonnen Mais im Monat verschwanden. Die Tageszeitung "La Jornada" bestätigte im März, daß es verzweifelte Familien seien, die ihren Hunger mit entwendetem Mais zu stillen versuchten. Was aber das zweite wichtige Grundnahrungsmittel Bohnen betreffe, sei inzwischen das organisierte Verbrechen dabei, sich der Beschaffung und Distribution dieses kostbar gewordenen Gutes zu bemächtigen. (World Socialist Web Site 13.07.09)

Wenn Menschen in einem Schwellenland wie Mexiko, das nach wie vor in weiten Teilen eher eine Agrar- als eine Industriegesellschaft ist, in ihrer Not selbst Grundnahrungsmittel auflesen oder stehlen müssen, um den ärgsten Hunger zu stillen, zeugt dies von einer fundamentalen Zerrüttung und Zerstörung der Lebensverhältnisse, die von der Weltwirtschaftskrise massiv verstärkt wird, doch lange vor dieser strukturell angelegt war. Die Preise für Bohnen sind in diesem Jahr um 50 Prozent gestiegen, was unmittelbar darauf zurückzuführen ist, daß Mexiko 35 Prozent seiner benötigten Nahrungsmittel importieren muß und die Landeswährung Peso vor allem in Folge enormer Kapitalflucht seit Einsetzen der Krise um 50 Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar verloren hat.

Damit schlägt die durch den NAFTA-Beitritt Mexikos vollzogene Überantwortung an die weitaus stärkeren Partner USA und Kanada erneut mit verheerender Wucht durch. Angesichts der daraus resultierenden millionenfachen Vernichtung kleinbäuerlicher Existenzen der Subsistenzwirtschaft wie auch der Schädigung weiter Teile der größeren landwirtschaftlichen und Lebensmittel produzierenden Betriebe ist Mexiko von den Importen aus den USA abhängig geworden und den damit verbundenen Teuerungen hilflos ausgeliefert. Das zeigte sich bereits in der sogenannten Tortillakrise, die von einem sprunghaften Anstieg der Preise für Mais und Maismehl im internationalen Handel ausgelöst wurde. Um die ausbrechende Hungerrevolte zu dämpfen, sah sich die mexikanische Regierung zu Ergänzungskäufen und subventionierten Preisen gezwungen.

Entschlüsselt man diesen Verlauf als langfristig angelegte Strategie der Herrschaftssicherung, so zeichnet sich angesichts fehlender und rapide knapper werdender Sourcen des Überlebens ein global angelegter Prozeß der Zugriffssicherung zugunsten der Metropolen ab, deren Eliten auf dem Rücken der einheimischen Bevölkerung und um so mehr unter Ausbeutung und Zurichtung anderer Regionen ihren Nachschub verfügbar machen, indem sie ihn anderen vorenthalten. Dabei ist die in allen Kontroversen um die Gestaltung des Welthandels präsente Frage der Produktion und Verteilung von Lebensmitteln von zentraler Bedeutung. Will man es auf einen kurzen Begriff bringen, so wird Mexiko insbesondere von den USA der Möglichkeit beraubt, sich aus eigenen Kräften zu ernähren. Weit über die aktuell realisierten Profite US-amerikanischer Produzenten und Agrarkonzerne hinaus wird auf diesem Weg ein umfassendes Regime der Abhängigkeit geschaffen.

Die extreme Ausrichtung auf die Vereinigten Staaten lockt mit befristeten und oftmals nur fiktiven Konkurrenzvorteilen zu Lasten Dritter, bis Mexiko auf den Boden der Tatsache zurückgeschmettert wird, daß es im Rahmen der NAFTA den Part des schwächsten Gliedes zu erfüllen hat. Die durch ein Handelsabkommen erzwungene Öffnung ist in einem derartigen Verhältnis stets mit einer Preisgabe des verbliebenen Schutzes gegen den Übergriff des Stärkeren verbunden. Wie eng der mexikanische Manövrierraum geworden ist, dokumentiert auch der Umstand, daß der Kursverfall des Peso keineswegs den Exportsektor gestärkt hat, der im laufenden Jahr aktuellen Schätzungen zufolge um 31 Prozent einbrechen wird. Hauptabnehmer der Ausfuhren sind die USA, deren rückläufige Nachfrage die Wirtschaft des südlichen Nachbarlands in die Knie zu zwingen droht.

Dies wiederum beschleunigt den Verlust von Arbeitsplätzen in Mexiko, was die nördliche Grenzregion am gravierendsten zu spüren bekommt, die am meisten vom Export in die USA profitiert hat. Zwischen 2001 und 2007 stellte die mexikanische Wirtschaft 1,2 Millionen neue Arbeitsplätze bereit, die nur einem Drittel dessen entsprachen, was erforderlich gewesen wäre. Im vergangenen Jahr gingen rund 750.000 und in den ersten vier Monaten dieses Jahres noch einmal 700.000 Jobs verloren, womit der zuvor erlangte Zuwachs mehr als getilgt ist.

Die Bereitstellung billiger mexikanischer Arbeitskraft im Rahmen der NAFTA hat dazu geführt, insbesondere den Sektor der Sweatshops gewaltig aufzublähen, bis Konkurrenten in Mittelamerika und vor allem die Chinesen dem frei flottierenden Kapital noch ergiebigere Voraussetzungen boten. Die Maquiladoras zahlen nicht nur Hungerlöhne für harte Arbeit unter unwürdigen Bedingungen, sie verhindern auch den Aufbau einer einheimischen Industrie, die sich auf Dauer von dem Regime ausländischer Ausbeuter und ihrer Mittelsmänner abkoppeln kann. Und da die Sweatshops in Sonderzonen operieren, sind sie jedweder Abgaben und Verantwortung entbunden, so daß in ihrem Umfeld nicht selten ein soziales Desaster in Gestalt wuchernder Elendsquartiere ohne jede Infrastruktur seinen Lauf nimmt.

Unter diesen Umständen blieb für zahllose Mexikaner die Migration in die USA das Mittel der Wahl, wovon die zurückgebliebenen Angehörigen und nicht zuletzt die Kommunen wie auch der Staatshaushalt profitierten. Die von mexikanischen Arbeitsmigranten rücküberwiesenen Gelder machten auf ihrem Höhepunkt im Jahr 2007 etwa 2,5 Prozent des Bruttosozialprodukts aus und konnten sich als Devisenquelle mit dem Ölexport und dem Tourismus messen. Seither hat die Wirtschaftskrise die Erwerbsmöglichkeiten in den USA drastisch eingeschränkt, zumal Sektoren wie das Baugewerbe, in denen besonders viele Migranten beschäftigt sind, in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs zuallererst Einbußen zu verzeichnen haben. Einer Studie der Interamerikanischen Entwicklungsbank zufolge erhielten im vergangenen Jahr rund 600.000 Mexikaner weniger Geld von ihren Angehörigen im nördlichen Nachbarland. Im ersten Quartal 2009 betrug der Rückgang gegenüber dem Vorjahreszeitraum fünf Prozent.

Auch diese Entwicklung offenbart den Charakter und die Folgekonsequenzen des Abhängigkeitsverhältnisses Mexikos von den USA, das keine Reduzierung zugunsten einer tendenziellen Annäherung und Gleichstellung erkennen läßt, sondern vielmehr von heftigen Wechselfällen gekennzeichnet ist, die sich unter dem Strich zu einer Negativbilanz für die schwächere Seite ballen. Daß Präsident Felipe Calderón den Krieg gegen die Kartelle entfesselt hat, dem seit Beginn seiner Amtszeit mehr als 11.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, macht unter den Maßgaben der Herrschaftssicherung durchaus Sinn: Die Schreckensbilanz dieses Konflikts besetzt das Feld, auf dem andernfalls die soziale Katastrophe weit mehr in Erscheinung treten würde. Zugleich befördert diese Auseinandersetzung die Militarisierung der inneren Sicherheit und die Durchsetzung repressiver Maßnahmen und Instrumente auf nahezu reibungslose Weise, so daß sich der mexikanische Staat im Schulterschluß mit der US-Administration für die Niederwerfung künftiger Hungeraufstände rüsten kann.

14. Juli 2009