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LATEINAMERIKA/2216: Mexikos Straßenkinder sollen verschwinden (SB)


Repressive Initiative unter dem Deckmantel angeblichen Kinderschutzes


Straßenkinder sind ein charakteristisches Armutsphänomen zahlreicher Länder Lateinamerikas, das insbesondere im Gefolge massenhafter Verelendung und einer daraus resultierenden Migration aus der nicht länger existenzerhaltenden ländlichen Subsistenzwirtschaft in die exzessiv wuchernden urbanen Slumgebiete weithin in Erscheinung tritt. Die jeweils konkreten Umstände erstrecken sich über eine breite Palette prekärer Lebensverhältnisse angefangen von Kinderarbeit zum Unterhalt der Familie oder dem frühzeitigen Aufbau einer unabhängigen Existenzssicherung über Elternlosigkeit und fehlende soziale Bezüge bis hin zur Rekrutierung in das Bandenwesen, Drogenabhängigkeit und Zwangsprostitution.

Daraus folgt zweierlei für den Umgang mit diesem Problemkomplex: Erstens gilt es den spezifischen Gründen und Lebensverhältnissen Rechnung zu tragen, wofür zweitens stets die Linderung der Armut und existenziellen Perspektivlosigkeit Voraussetzung ist. In einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die noch dazu in vielen lateinamerikanischen Gesellschaften zu einer extremen Polarisierung der Besitzverhältnisse geführt hat, ist das schlechterdings nicht möglich. Dabei soll das Engagement sozialer und karitativer Initiativen keineswegs in Abrede gestellt werden, doch können diese der unablässigen Hervorbringung massenhaften Elends im Zuge einer auf Ausbeutung gründenden Produktionsweise unmöglich Herr werden oder gar Einhalt gebieten.

Für alle Menschen erschwingliche Grundnahrungsmittel, ein kostenloses Gesundheits- und Bildungswesen, Erwerbsmöglichkeiten und Alterssicherung vermögen erst in ihrem Verbund ein Fundament zu legen, auf dem Hunger und tiefste Armut keine Wurzeln mehr schlagen können. Kuba stand mit diesem staatlicherseits durchgetragenen Entwurf jahrzehntelang allein auf weiter Flur. In jüngerer Zeit stießen Umwälzungen in Ländern wie Venezuela, Bolivien und Ecuador dazu, die eine Führerschaft bei dem tendenziellen Umbruch übernahmen, der heute zahlreiche Länder dieser Weltregion erfaßt hat.

Der traditionelle Umgang mit Straßenkindern ist demgegenüber von einer völligen Ausblendung der zugrundeliegenden Armut und Entwurzelung geprägt. Sie werden solange ihrem Schicksal überlassen, bis es den administrativen Kräften gefällt, sie als Störung der öffentlichen Sicherheit und Beeinträchtigung der wohlhabenderen Bürger auszuweisen und zu sanktionieren. Polizei und Todesschwadrone machen Jagd auf sie, wobei alle erdenklichen Arten der Drangsalierung bis hin zu Verschleppung und Mord keine Seltenheit sind. Gang und gäbe sind Prügel, Festnahmen, Verbote und Vertreibungen, die auf einer Doktrin der Kriminalisierung und Säuberung fußen.

Eine modifizierte Variante stellen jene Maßnahmen dar, die aufgegriffene Straßenkinder in Institutionen verfrachten, die den Charakter von Armenhäusern und Besserungsanstalten haben. Die Bezichtigung der Mittellosen, ihnen fehle es an Tugenden wie Ordnungsliebe, Disziplin und Leistungsbereitschaft, die man ihnen aufnötigen und anerziehen müsse, verhöhnt ihre Opfer und unterwirft sie der institutionellen Gewalt.

Die mexikanische Regierung bringt derzeit eine Gesetzesinitiative auf den Weg, die darauf abzielt, die Präsenz von Straßenkindern in den Städten und Ortschaften landesweit mit einem Verbot zu belegen. Demnach sollen Kinder, die als Straßenverkäufer arbeiten oder kleine Dienstleistungen wie das klassische Putzen der Windschutzscheibe erbringen, bei Strafe aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Zynischerweise soll ausgerechnet ein Bundesgesetz zum Kinderschutz dahingehend modifiziert werden, den regionalen und kommunalen Behörden die Pflicht aufzuerlegen, aufgegriffene Kinder unter 14 Jahren Einrichtungen des Sozialwesens zuzuführen. Kommen die zuständigen Dienststellen dieser Auflage nicht nach, droht ihnen ein Bußgeld von umgerechnet 421 Dollar. [1]

Befürworter des Entwurfs, der gegenwärtig in den Mühlen parlamentarischer Ausschüsse gewälzt wird, behaupten allen Ernstes, er richte endlich den Blick auf die Schwächsten der Gesellschaft und versuche, Kindern ein würdiges Aufwachsen in Klassenzimmern, bei Freizeitaktivitäten und mit Spielmöglichkeiten zu gewähren. Ausbeutung von Kindern sei heutzutage in Stadt und Land die Norm, was dazu führe, daß sie zu Tausenden der Schule fernblieben um zu arbeiten. Niemand mache ihnen einen Vorwurf, da sie schließlich die Opfer seien, doch müsse man dafür sorgen, daß sich jemand um sie kümmere. Vertreter der konservativen Regierungspartei PAN sprachen sich mit Nachdruck dafür aus, die Kinder von der Straße zu holen. Schließlich hätten auch sie ein Recht auf Familienleben, Gesundheit und Bildung. Am besten wäre es wohl, Fall für Fall zu prüfen und die Kinder zur Rückkehr in Familie und Schule zu bewegen. Staatliche Einrichtungen sollten immer nur das letzte Mittel sein, so die scheinheilige Abwiegelung.

Kritiker der Initiative sehen in der Behauptung, sie diene dem Schutz der Straßenkinder, mindestens eine Simplifizierung, im Grunde aber eine Verschleierung des Problems. Den komplexen Ursachen werde nicht Rechnung getragen, ja es gehe letzten Endes nur darum, die Kinder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden zu lassen. Daher handle es sich bei diesem Gesetzentwurf um einen weiteren Versuch, die Kinder wegzuschließen, die Städte von sozialen Problemen zu säubern und somit Armut zu kriminalisieren.

In Mexiko besteht seit 1992 Schulpflicht für alle Kinder bis zur neunten Klasse. Dessen ungeachtet nahm die Zahl der Schulabbrecher weiter dramatisch zu, weshalb die Regierung im Jahr 2000 die Initiative startete, in Zusammenarbeit mit verschiedenen sozialen Organisationen Lösungsansätze zu erarbeiten und umzusetzen. Immerhin war man damals noch bereit, armen Familien eine gewisse finanzielle Unterstützung zu gewähren, die ihre Kinder in die Schule schickten.

Wie eine Studie ausweist, die 2004 von staatlichen Stellen gemeinsam mit der UNICEF erstellt wurde, waren damals landesweit über 100.000 Kinder akut von der Gefahr eines Lebens auf der Straße bedroht. Schätzungen des nationalen Statistikamts zufolge müssen 3,6 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren arbeiten, wovon über 40 Prozent keine Schule besuchen. Schon jetzt lebt mehr als die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung in Armut, und im Gefolge der weltweiten Wirtschaftskrise, die Mexiko insbesondere wegen seiner weitreichenden ökonomischen Abhängigkeit von den USA in besonderem Maße zu schaffen macht, nimmt die aus der Not geborene Kinderarbeit dramatisch zu. Wenn die Regierung unter diesen Umständen eine fiktive Welt postuliert, in der keine Straßenkinder mehr zu sehen sein sollen, kann dies nur auf eine administrative Kampagne hinauslaufen, die Armut mehr denn je mit Repression ausgrenzen und zum Schweigen bringen will.

[1] http://www.csmonitor.com/2009/0601/p06s07-woam.html

5. Juni 2009