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LATEINAMERIKA/2198: Pogrom im Zeichen der "mexikanischen Grippe" (SB)


Phantom der Pandemie - Zwanghafter Drang zur Bezichtigung


Das ungreifbare und selbst in seinem Verschwinden noch immer rätselhafte Phantom der Pandemie nährt einen geradezu zwanghaften Drang, eine Herde von Sündenböcken einzugrenzen und abzustrafen, da dies angesichts der unbewältigten Probleme unendlich viel greifbarer, sinnvoller und erfolgversprechender anmutet. So spricht man in Kreisen der USA, denen mexikanische Einwanderer ein Dorn im Auge sind, inzwischen von der "mexikanischen Grippe", worin eine weitgefaßte Bezichtigung und ominöse Drohung mitschwingt, die in letzter Konsequenz immer auf eine Pogromstimmung abzielt. Wenngleich katastrophenmedizinische und andere administrative Notstandsmaßnahmen in ihrem regulativen Charakter wie das genaue Gegenteil eines rasenden Mobs anmuten mögen, den zu verhindern ihr vordringliches Ziel ist, korrespondieren die beiden Seiten doch in ihrem fehlgeleiteten Grundverständnis miteinander: Wenn man schon der Viren nicht Herr werden kann, so doch einzelner Mexikaner, die man fernhalten, isolieren, zu Paaren treiben oder einsperren kann.

Ungehalten warf Mexikos Präsident Felipe Calderón am Wochenende von ihm nicht namentlich genannten Ländern vor, sie handelten auf der Grundlage von Ignoranz und Desinformation und ergriffen repressive, diskriminierende Maßnahmen. Deutlicher wurde Außenministerin Patricia Espinosa, die ihren Landsleuten dringend riet, sich China und Hongkong fernzuhalten. Während die auf den Influenzavirus A(H1N1) zurückgeführte Krankheit den Höhepunkt ihrer Ausbreitung bereits überschritten zu haben scheint und inzwischen als weniger gefährlich als zunächst befürchtet eingeschätzt wird, steuert der Wellenschlag administrativer Bezichtigung einer hoffentlich letzten Eskalation zu.

Wie ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums erwiderte, seien die ergriffenen Quarantänemaßnahmen angesichts der raschen Ausbreitung des neuen Grippevirus gerechtfertigt. Er hoffe, daß auch die mexikanische Regierung im gemeinsamen Interesse an einer Eindämmung der Krankheit verstehe, warum diese Maßnahmen notwendig sind, und die Angelegenheit objektiv und ruhig behandle. (New York Times 05.05.09)

Zuvor hatten chinesische Behörden begonnen, Mexikaner zu Dutzenden in Hotels und Krankenhäusern einzuquartieren, wobei die nichtsahnenden Menschen mitunter mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und zu einem medizinischen Test gebracht wurden. Wie es zur Begründung hieß, versuche man Passagiere zu isolieren, die sich in einem Flugzeug mit mindestens einer infizierten Person befunden hätten. Wenngleich man nachvollziehen kann, daß die Chinesen nach den Erfahrungen der SARS-Epidemie, der 2003 mehr als 700 Menschen zum Opfer fielen, und der Vogelgrippe diesmal um eine besonders rasche und umfassende Reaktion bemüht sind, mutet die Quarantäne doch reichlich überzogen an.

Der infizierte Fluggast an Bord einer Maschine der AeroMexico wird derzeit in einem Krankenhaus Hongkongs behandelt. Er hatte sich kurzzeitig in einem Hotel aufgehalten, in dem nun rund 300 Gäste und Angestellte eine Woche lang festgehalten werden. In Peking wurden zehn mexikanische Staatsbürger in ein Hotel gebracht, das sich direkt hinter dem zur Grippepandemieklinik erklärten Krankenhaus befindet. Betroffen sind jedoch nicht nur Mexikaner, da in der nordchinesischen Stadt Changchun 29 Austauschstudenten der Universität von Montreal unter Quarantäne gestellt wurden.

Vermutlich hätte sich die Verstimmung auf Seiten Mexikos in Grenzen gehalten, wären die chinesischen Behörden weniger rigoros und in Abstimmung mit den konsularischen Vertretungen vorgegangen. Den Angaben zufolge wurden auch etliche Fluggäste mit mexikanischem Paß, die sich seit Monaten nicht mehr in ihrem Heimatland aufgehalten hatten, in die Maßnahme einbezogen. Davon betroffen war auch ein Mitarbeiter des Konsulats in Guangzhou, der nach der Rückkehr aus Kambodscha vorübergehend festgehalten und einem medizinischen Test unterzogen wurde. Zudem befanden sich unter den Personen, die aus ihren Hotels abgeholt wurden, auch Familien mit kleinen Kindern. Ihnen wurde zunächst mitgeteilt, sie würden lediglich auf das H1N1-Virus getestet, worauf sie sofort wieder in ihr Hotelzimmer zurückkehren könnten. Später erfuhren sie jedoch, daß man sie eine Woche lang unter Quarantäne halten werde. Sie wurden daraufhin vom Konsulat mit Lebensmitteln beliefert, doch war es dem diplomatischen Personal nicht gestattet, mit den Landsleuten zu sprechen. In Anbetracht dieser weitreichenden Maßnahmen und der mangelnden Kooperation hat die mexikanische Regierung angekündigt, sie werde die verhängte Quarantänezeit nicht abwarten, sondern die betroffenen Staatsbürger ihres Landes umgehend mit einer Chartermaschine nach Hause holen.

Obgleich die Reaktion chinesischer Behörden die bislang harscheste gegen Mexikaner ist, haben auch andere Länder Maßnahmen ergriffen, die in Mexiko als Bezichtigung und Diskriminierung aufgefaßt werden müssen. Die vier lateinamerikanischen Länder Argentinien, Ecuador, Peru und Kuba haben alle Flüge aus Mexiko gestrichen und chilenische Sportfunktionäre zwei mexikanischen Fußballmannschaften das Gastrecht entzogen. Im letztgenannten Fall hat Mexikos Gesundheitsminister José Angel Córdova allerdings eigenen Angaben zufolge eine Entschuldigung aus Chile erhalten.

Wie man hinzufügen muß, spielt sich auch in diesem Fall die Neigung zum Pogrom nicht nur zwischen Nationen, sondern ebenso innerhalb der Bevölkerung eines Landes ab. So bewarf eine aufgeregte Menschenmenge im Bundesstaat Guerrero vor wenigen Tage Autos mit Nummernschildern von Mexiko-Stadt mit Steinen, da man die Ankunft von Bewohnern der Hauptstadt, in der die Influenza die meisten Opfer gefordert hatte, gewaltsam verhindern wollte.

Längst hat es die mexikanische Regierung nicht nur mit medizinischen und administrativen Problemen bei der Eindämmung einer Pandemie, sondern zugleich mit einer Propagandaschlacht zu tun, bei der weit mehr als eine Infektionskrankheit abgehandelt wird. Gesundheitsminister Córdova stellt in seinen täglichen Presseerklärungen klar, daß die ersten Fälle in den Vereinigten Staaten und Mexiko entdeckt worden waren, wobei er die beiden Länder stets in dieser Reihenfolge nennt. Unterdessen erwidern einige mexikanische Radiomoderatoren das Störfeuer aus dem Norden, indem sie in ihren Sendungen gezielt von der "kalifornischen Grippe" sprechen.

5. Mai 2009