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JUSTIZ/674: Staatsaffäre um Enthüllungsbuch in der Türkei (SB)


Staatsaffäre um Enthüllungsbuch in der Türkei

Türkische Journalisten im Fadenkreuz der Justiz


Laut dem neuesten Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sitzen in der Türkei im Augenblick 57 Journalisten in Haft, aber die Zahl könnte noch deutlich zunehmen, da viele Gerichtsverfahren noch laufen. Nach Angaben des Vereins der Journalisten der Türkei (TGC) befinden sich derzeit sogar über 60 türkische Pressevertreter im Gefängnis bei 2000 noch laufenden Verfahren und 4000 Untersuchungsverfahren. Die OSZE-Medienexpertin Dunja Mijatovic schätzt, daß bis zu tausend Journalisten von einer Inhaftierung und langjährigen Gefängnisstrafe bedroht seien. In einem offenen Brief an Außenminister Ahmet Davutoglu appellierte sie daher an die Regierung in Ankara, die türkischen Mediengesetze den OSZE-Richtlinien zur Pressefreiheit schnellstmöglich anzugleichen.

Allein im vergangenen Monat wurden in der Türkei sieben Journalisten wegen Verschwörung gegen die Regierung angeklagt. Zwar behaupten die Staatsorgane, daß sich der konspirative Vorwurf nicht gegen den Berufsstand an sich richte, also keineswegs die Absicht bestehe, regierungskritische Stimmen mundtot zu machen, aber es ist gerade die frappante Häufung der mit Anklagen und Verfahren überzogenen investigativen Journalisten, die den umgekehrten Schluß zuläßt. So beklagt das in Wien ansässige Internationale Presseinstitut (IPI) mit allem Nachdruck, daß in der Türkei kritische Journalisten mit juristischen Mitteln unter dem Vorwand der Terrorabwehr eingesperrt werden. Das Anti-Terror-Gesetz bedrohe maßgeblich die Pressefreiheit, erklärte vor kurzem auch der Vorsitzende des türkischen Komitees des IPI, Ferai Tinc, und forderte die Freilassung aller Journalisten, die wegen der Ausübung ihres Berufs inhaftiert sind. Des weiteren zeigte sich die Nicht-Regierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) in einer neuerlichen Stellungnahme besorgt über die drastische "Verschlechterung der Situation der Medienfreiheit" in der Türkei, da vor allem Journalisten, die über die Lage der kurdischen Minderheit im Lande berichten, verstärkt ins Visier der Behörden geraten. In der jährlich erscheinenden Rangliste der Pressefreiheit, die ebenfalls von der ROG herausgegeben wird, rutschte die Türkei von 178 vergebenen Plätzen auf den 138.

Der Umgang der Türkei mit der Meinungs- und Pressefreiheit wird insbesondere seit der Verhaftung der beiden Enthüllungsjournalisten Ahmed Sik und Nedim Sener international kritisiert. Beide arbeiten bei einer Zeitung aus dem Dogan-Konzern, Sik bei der linksliberalen Radikal und Sener beim Traditionsblatt Milliyet, und wurden am frühen Morgen des 3. März in ihren Privatwohnungen mit der wenig überzeugenden Begründung verhaftet, Mitglied der ultranationalistischen Untergrundorganisation Ergenekon zu sein, bestehend aus Militärs und geheimdienstlichen Kemalisten, die angeblich seit 2003 den Sturz der islamisch-konservativen AKP-Regierung von Premierminister Tayyip Erdogan verfolgten. Neben ranghohen Armeeoffizieren, die in das Komplott eingeweiht gewesen sein sollen, sitzen auch Wissenschaftler, Kulturschaffende und Journalisten auf der Anklagebank. Mittlerweile sind im Zusammenhang mit den Ergenekon-Ermittlungen insgesamt 531 Personen in Haft genommen worden.

Allein der Putschvorwurf gegen Sik mutet abstrus an, gehörte doch dieser im Zuge seiner journalistischen Recherchen zu jenen Redakteuren des Wochenmagazins Nokta, die bereits 2004 echte Umsturzpläne gegen die AKP-Regierung anhand von geheimen Tagebüchern eines ranghohen Admirals aufgedeckt hatten. Folgt man der lächerlichen Anschuldigung, so ergibt sich das Bild einer Verschwörung, die sich also selbst in den Schwanz beißt.

Eine verquere Logik, die allerdings im Falle von Ahmed Sik, der momentan im Gefängnis Metris bei Istanbul einsitzt, auf einen anderen Hintergrund verweist. Vor seiner Verhaftung hatte der 41jährige an einem Buch mit dem plakativen Titel "Imamin Ordusu" ("Die Armee des Imans") gearbeitet, das sich mit verdeckten Netzwerken in der türkischen Polizei befaßt, die aus Anhängern des in den USA lebenden, der AKP-nahestehenden Islampredigers Fethullah Gülen bestehen sollen. Sonderstaatsanwalt Zekeriya Öz ließ das Erscheinen des Buches durch ein Strafgericht in Istanbul am 23. März verbieten und schickte Hunderte von Polizisten zur Beschlagnahmung aller Exemplare mit der Begründung aus, es handele sich um ein Beweismittel im Verschwörungsprozeß. So kam es bei der Redaktion der liberalen Tageszeitung Radikal und beim Verlag Ithaki, der das Buch im Mai veröffentlichen sollte, zu Hausdurchsuchungen, Computer wurden entweder beschlagnahmt oder alle Kopien auf Festplatten gelöscht. Schon der bloße Besitz des Manuskripts wurde unter Strafe gestellt als "Werbung für eine terroristische Organisation".

Der gegen Sik gerichtete Vorwurf lautet, er habe das Buch im Auftrag oder im Einklang mit Anweisungen der Ergenekon-Putschisten verfaßt, um die Türkei zwei Monate vor den Parlamentswahlen durch öffentliche Unruhe zu destabilisieren. Daß die Verdachtsmomente gegen Sik nur einen geringen Nährwert besitzen, bestätigte auch sein Anwalt Fikret Ilkiz, der ohne Erfolg gegen das Verbot der Buchveröffentlichung Einspruch eingelegt hatte. Nach dessen Einschätzung geht es bei der Drangsalierung Siks weniger um den Inhalt des Buches oder eine angebliche Verstrickung in den subversiven Ergenekon-Geheimbund, als vielmehr um die juristische Einschränkung der Meinungsfreiheit, die mit der jüngsten Verhaftungswelle noch verstärkt wurde. Ohnehin müßten Journalisten, sofern sie nicht regierungskonform schreiben, ständig unter Androhung strafrechtlicher Verfolgung arbeiten, so Ilkiz.

Angesichts der mitunter jahrelangen Prozesse stellt die Inhaftierung von Journalisten, auch wenn sie schließlich freigesprochen werden, im Grunde eine Strafe ohne Urteil dar. So ist beispielsweise der Journalist Mustafa Balbay seit mehr als 750 Tagen im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul inhaftiert. Überdies hat das journalistische Gewerbe in der Türkei viele Todesopfer zu beklagen, die häufig unter nicht gänzlich geklärten Umständen ums Leben gekommen sind. So war der Herausgeber und Chefredakteur der einzigen türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos, Hrant Dink, am 19. Januar 2007 von einem ultranationalistischen Meuchelmörder in Istanbul auf offener Straße erschossen worden, wie auch die beiden renommierten Journalisten Abdi Ipekci 1979 und Ugur Mumcu 1993 durch politisch motivierte Attentate umgekommen sind.

Doch das Buchverbot konnte nicht verhindern, daß soziale Netzwerke angebliche Rohfassungen des Buches im Internet verbreiteten. Hunderttausende Downloads machen seitdem die staatsanwältlichen Bemühungen um eine Unterdrückung des Buchinhalts zunichte. Das Werk ist mittlerweile so in aller Munde, daß die Justizbehörden von einer Ermittlung gegen die Konsumenten der Digitalversion des Buches Abstand nehmen mußten. Die Protestwelle ließ sich ohnehin nicht mehr eindämmen. Nach den Festnahmen von Sik und Sener waren Tausende Journalisten und Anhänger laizistischer Oppositionsparteien auf die Straße gegangen, um Unterstützung für ihre Kollegen und gegen das Vorgehen der Staatsanwälte zu demonstrieren. In Istanbul fand zudem im Stadtteil Mersin eine öffentliche Lesung aus dem Manuskript statt. Ein Kritiker erklärte dazu, daß die Türkei nicht genügend Gefängnisse habe, um alle "Mitwisser" wegzusperren. Um die Empörung bei Teilen der Gesellschaft wenigstens zu beschwichtigen, hat das Justizministerium zwar den verantwortlichen Sonderstaatsanwalt Öz von seinem Aufgabenbereich entbunden, aber weder die angeblichen Beweise gegen Sik und Sener öffentlich gemacht noch das Verfahren gegen die beiden eingestellt.

Sener ist den Behörden nicht minder ein Dorn im Auge, war er es doch, der den Mordfall Dink akribisch recherchiert und die zahlreichen Ungereimtheiten in seinem Buch "Dink Cinayeti ve Istihbarat Yalanlari" ("Mord an Dink und die Lügen des Geheimdienstes") veröffentlicht hatte. Offenbar waren in die Beseitigung Dinks neben Militärs, die den Genozid an der armenischen Minderheit während des 1. Weltkriegs lieber im Dunkel der Geschichte verwahrt sehen wollen, auch der Gülen-Bewegung zugerechnete Polizeioffiziere beteiligt. 2009 hatte die Staatsanwaltschaft drei Verfahren gegen Sener eingeleitet bei einer drohenden Haftstrafe von 32 Jahren, während im Vergleich für den Mörder Dinks nur 20 Jahre Haft gefordert wurden.

Das scheinbar Willkürliche hat durchaus Methode, denn die AKP-Regierung benutzt die Fälle, um oppositionelle Kräfte im Land mehr und mehr einzuschüchtern. Schließlich finden im Juni Parlamentswahlen statt, bei denen Erdogan seine Mandatsmehrheit verteidigen will. In Wahlkampfreden ereifert sich der türkische Regierungschef darin, vor den Feinden der Demokratie zu warnen und die öffentliche Meinung auf die Bedrohung durch den "tiefen Staat", dem angeblich existierenden Netzwerk aus kemalistischen Ultrarechten, Geheimdienstlern und Kriminellen, einzuschießen, auch wenn der Machteinfluß des alteingesessenen Militärestablishments durch die demokratischen Kräfte inzwischen längst zurückgedrängt wurde. Der Ergenekon-Prozeß ist in diesem Sinne durchaus als politisches Verfahren zu verstehen. Da kommt der seit neun Jahren regierenden AKP ein Buch mit dem Reizthema einer schleichenden Unterwanderung der staatlichen Behörden, von Polizei und Justiz durch die Anhänger Gülens natürlich ungelegen.

Als der türkische Premierminister sich im September letzten Jahres nach dem positiven Ausgang des Referendums offenherzig und voll warmen Gefühls beim islamischen Prediger Gülen für dessen bereitwillige und tatkräftige Unterstützung bedankte, war die Befürchtung breiter Schichten der in- und ausländischen Intelligenz groß: Über dem türkischen Staate wehe das grüne Banner des Propheten. Der AKP-Vorsitzende, der einst über die Gülen-Bewegung den politischen Einstieg genommen hatte, gibt sich hingegen gerne als Befürworter eines gemäßigten Islam mit liberal-reformistischen Anstrich.

Anders als Gülen, der eine islamische Gesellschaftsform mit Verankerung in den traditionellen Auslegungen des Koran-Textes anstrebt, will Erdogans AKP die staatlichen Institutionen zwar islamisieren, aber nur insoweit, wie die Atatürksche Doktrin von der laizistischen Zurichtung des Staatswesens aufgelockert wird. Wie sein geistiger Ziehvater Gülen ist auch der Berufspolitiker Erdogan marktwirtschaftlich orientiert. Doch anders als der Prediger aus dem Dorfe Korucuk strebt der türkische Regierungschef keine Erneuerung des anatolischen Volksislams an, geschweige denn die Errichtung eines Gegenmodells zur globalisierten Welt. Die AKP steht vielmehr für die Aufhebung eines von der kemalistischen Elite immer wieder künstlich konstruierten Konflikts zwischen der Moderne und den Geboten der Religion.

Erdogan mag auf Gülen aufbauen, der in den achtziger Jahren mit seiner Förderung der Bildung durch Privatschulen und Studentenheime, um so ein weltweites Netz muslimischer Intelligenz heranzubilden, vor allem in der gebildeten Mittel- und Oberschicht sowie im Verwaltungs- und Polizeiapparat eine große Resonanz hervorrief, aber die AKP-Regierung in Ankara wird sich von keinem islamischen Chauvinismus in ihrem wirtschaftlichen Hegemonialanspruch über die arabischen Anrainerstaaten beirren lassen.

Nach dem Verbot der Refah Partisi Necmettin Erbakans - der Vorgängerorganisation der im Vergleich dazu gemäßigten AKP - war es im Rahmen einer Untersuchung über eine angebliche Unterwanderung des Militärs durch Islamisten zu einem Eklat genommen, als 1999 eine Rede Gülens im Fernsehkanal ATV ausgestrahlt wurde. Darin hatte dieser seine Anhänger aufgefordert, den türkischen Staatsapparat in allen Verfassungsorganen zu übernehmen. Doch Gülen war vorgewarnt und reiste vor der Fernsehausstrahlung in die USA, wo er seitdem im Bundesstaat Pennsylvania zurückgezogen im Exil lebt, auch wenn das Gerichtsverfahren wegen Republikverrats 2006 mit seinem Freispruch endete.

Im Verlauf des Demokratisierungsprozesses der seit 2002 regierenden AKP Erdogans hat es immer wieder versteckte und offene Attacken gegeben, den Ministerpräsidenten als Aufweichler der laizistischen Grundverfassung des Staates zu diskreditieren. Kritik hagelte nicht nur aus Kreisen des nationalistisch-kemalistischen Militärs im Verbund mit der reaktionären Rechten, sondern auch von Seiten des Pressekonzerns des mächtigen Medienmoguls Aydin Dogan. Die an sich konträren Interessengruppen einte der gemeinsame Wunsch, das konservativ-islamische Lager mit dessen sichtbarer Spitze, der Regierungspartei Erdogans, im Ringen um die politische Macht im Lande auszustechen. Daß die Tageszeitung Hürriyet, das Flaggschiff des Dogan-Konzerns, inzwischen zum Verkauf angeboten wird, nachdem die Regierung dem Verlagshaus eine Steuerschuld von mehreren Milliarden auferlegt hat, läßt den Verlierer auf der kleinasiatischen Landkarte erkennen.

Als im Juli 2008 mehrere Generäle als vermeintliche Putschisten in der Türkei verhaftet wurden, vermutete man als Drahtzieher hinter der Entmachtung des Militärs die Fethullahcis, wie die Anhänger Gülens genannt werden. So gesehen, scheint Ahmed Sik mit seiner Recherche über die "Armee des Imans" den Finger in eine offene Wunde gelegt zu haben. Nicht nur in der AKP, auch im Staatsapparat und der Polizei hat die Gülen-Bewegung inzwischen hohe Positionen eingenommen, und ihr Einfluß mag sogar bis hinein in die Abteilung des mächtigen Inlandsgeheimdienstes reichen.

So hat es den Anschein, daß der Vorwurf, zum Ergenekon-Netzwerk zu gehören, inzwischen politisch instrumentalisiert wird, um aus Sicht der AKP unliebsame Personen des öffentlichen Lebens ohne Urteil auf Jahre hinaus hinter Gittern zu bringen und damit ihrer Kritik an der Regierung die Flügel zu stutzen. Hanefi Avci, der im Herbst 2010 ein Buch zur Gülen-Bewegung geschrieben und darin die schleichende Zersetzung der vor fast einem Jahrhundert vom Staatsgründer Kemal Atatürk initiierten Säkularisierung der Türkei dokumentiert hatte, war früher selbst Polizeichef von Eskisehir und Gefolgsmann Gülens gewesen. Avcis Buch "Die Simons vom Goldenen Horn" verkaufte sich fast eine Million Mal. Dafür sitzt er allerdings seit November letzten Jahres als angeblicher Unterstützer einer linksradikalen Terrororganisation in Untersuchungshaft.

13. April 2011