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JUSTIZ/662: Politposse um Aufnahme von Guantánamo-Häftlingen (SB)


Politposse um Aufnahme von Guantánamo-Häftlingen

Lawrence Wilkerson belastet Bush, Cheney und Rumsfeld


In Deutschland verschärft sich die peinliche Diskussion um die Aufnahme von Häftlingen aus Guantánamo Bay, seit am 10. April die Zeitung Bild meldete, daß die Hamburger Regierung, eine Koalition aus Christdemokraten und Grünen unter der Führung von Bürgermeister Ole von Beust, erwäge, einem Syrer und zwei Palästinensern, die derzeit im Sonderinternierungslager auf dem US-Marinestützpunkt auf Kuba einsitzen, ein neues Leben in der Hansestadt zu ermöglichen. Während Bundesinnenminister Thomas de Mazière den Vorstoß Hamburgs begrüßt, lehnen seine christdemokratischen Parteikollegen in Niedersachsen sowie die von der christsozialen Schwesterpartei in Bayern das Ansinnen strikt ab. In Hannover und München bedient man sich Stammtischressentiments mit der Behauptung, durch die Aufnahme von Guantanamohäftlingen geriete die Sicherheit Deutschlands in Gefahr.

Mit solchen Schwachsinnsargumenten kehren Populisten von der Union dem Christlichen im eigenen Parteinamen den Rücken - offenbar gilt für sie der Schutz von Hilfsbedürftigen nicht für Moslems - und begeben sich auf das Niveau reaktionärer Republikaner im US-Kongreß, die sich vehement den Plänen von Präsident Barack Obama bezüglich einer Schließung von Guantánamo Bay, der Freilassung aller Häftlinge, gegen die wegen Mangels an Beweisen keine Anklage möglich ist, und der Durchführung von Prozessen gegen die sechs mutmaßlichen Hintermänner der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 vor zivilen Gerichten auf dem amerikanischen Festland widersetzen. Recht erfolgreich hat seit einem Jahr die republikanische Opposition im Repräsentantenhaus und Senat einem nicht geringen Teil der US-Bevölkerung das Ammenmärchen aufschwatzen können, daß die Unterbringung von irgendwelchen Guantánamo-Häftlingen in dem einen oder anderen Hochsicherheitstrakt in den USA die nationale Sicherheit Amerikas gefährdete.

Wie wenig die politische Diskussion um die Guantánamohäftlinge, hinsichtlich derer alle Experten überzeugt sind und alle Politiker eigentlich wissen müßten, daß die überwiegende Mehrheit unschuldige Opfer eines von Washington im Rahmen des "globalen Antiterrorkrieges" betriebenen Aktionismus sind, mit der Wirklichkeit zu tun hat, zeigt die jüngste Enthüllung der Times of London. In einem Artikel, der am 9. April erschienen ist, hat Tim Reid, Times-Korrespondent in Washington, aus einer hochinteressanten, eidesstattlichen Erklärung zitiert, die Lawrence Wilkerson, der von 2001 bis 2005 als Stabschef von Außenminister General a. D. Colin Powell Mitglied der Regierung George W. Bushs war, zur Unterstützung des ehemaligen Guantánamohäftlings Adel Hassan Hamad abgegeben hat. Der Sudanese wurde von März 2003 bis Dezember 2007 auf Kuba illegal festgehalten. Während der Zeit soll er gefoltert worden sein und hat deshalb am 9. April bei einem Bundesgericht in den USA eine Klage auf Schadensersatz gegen eine Reihe amerikanischer Beamter und ehemaliger Regierungsmitglieder eingereicht.

Wilkerson hatte 31 Jahre bei der US-Armee gedient, bis Powell ihn ins State Department mitnahm. Nach Angaben von Reid heißt Powell, der über den mit Propagandalügen gefüllten Vortrag immer noch verärgert ist, den Bush jun., Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und CIA-Chef George Tenet ihn im Februar 2003 vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zum Thema der Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins haben halten lassen, die eidesstattliche Erklärung Wilkersons gut. In der Erklärung hat Wilkerson zu Protokoll gegeben, daß bereits 2002 Bush, Cheney und Rumsfeld wußten, daß die große Mehrzahl der ersten 742 Guantánamohäftlinge völlig unschuldig war, und dennoch aus Propagandagründen der Welt erzählten, daß es sich bei diesen armen Menschen um die "Schlimmsten der Schlimmsten" handelte. Derzeit sind auf Guantánamo Bay rund 180 Männer inhaftiert. Gegen die allermeisten von ihnen ist keine Anklage erhoben worden. Folgender entscheidender Abschnitt aus dem spektakulären Times-Artikel Tim Reids läßt die Verlogenheit der Diskussion hierzulande um die Aufnahme der Guantánamohäftlinge erkennen:

Oberst Wilkerson, seit langem ein Kritiker des Ansatzes der Bush-Administration bezüglich der Terrorbekämpfung und des Krieges im Irak, behauptete, daß die Mehrheit der Inhaftierten - darunter Kinder im Alter ab zwölf Jahren und Männer im Alter bis zu 93 Jahren - keinen einzigen US-Soldaten gesehen hätten, als sie gefangengenommen wurden. Er erklärte, sie wären von Afghanen und Pakistanern gegen eine Belohnung von bis zu 5000 Dollar ausgehändigt worden. Wenige bis gar keine Beweise wurden vorgelegt, warum man sie festgenommen hatte.

Er behauptete zudem, daß ein Grund, warum Herr Cheney und Herr Rumsfeld eine Freilassung der unschuldigen Häftlinge ablehnten, sei, daß dadurch "die Internierungsbemühungen als die unglaublich konfuse Operation entlarvt würde, welche sie war". Dies war "für die Administration inakzeptabel und wäre der Führung im DoD [Herrn Rumsfeld im Department of Defense] abträglich gewesen.

Hinsichtlich Herrn Cheneys behauptete Oberst Wilkerson ...: "Er machte sich keinerlei Gedanken, daß die große Mehrheit der Guantánamohäftlinge unschuldig war ... Sollten Hunderte unschuldige Individuen leiden müssen, um eine Handvoll Hardcore-Terroristen festhalten zu können, dann sollte es so sein."

Er behauptete, daß aus Sicht Herrn Cheneys und Herrn Rumsfelds "das jahrelange Leiden unschuldiger Leute in Guantánamo durch den breiteren Antiterrorkrieg und die kleine Anzahl von Terroristen, die für die Anschläge vom 11. September verantwortlich waren, gerechtfertigt" wäre.

Er fügte hinzu: "Ich habe das Thema der Guantánamohäftlinge mit Minister Powell diskutiert. Ich erfuhr, daß seiner Meinung nach nicht nur Vizepräsident Cheney und Minister Rumsfeld, sondern auch Präsident Bush alle Entscheidungen in Bezug auf Guantánamo trafen.

Laut Oberst Wilkerson hielten Herr Cheney und Herr Rumsfeld die Inhaftierung unschuldiger Männer für akzeptabel, solange einige echte Militante gefangengenommen würden, weil dies aus nachrichtendienstlicher Sicht ein besseres Bild vom Irak zu einem Zeitpunkt lieferte, als die Bush-Administration verzweifelt nach einer Verbindung zwischen Saddam Hussein und 9/11 suchte, "um die Pläne der Administration für einen Krieg gegen dieses Land zu rechtfertigen".

10. April 2010