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JUSTIZ/645: Großbritanniens MI5 versinkt im Foltersumpf (SB)


Großbritanniens MI5 versinkt im Foltersumpf

Schwere Vorwürfe gegen britischen Inlandsgeheimdienst


Auch wenn in der aktuellen Berichterstattung der Medien in Großbritannien die Empörung über die dubiosen, extrem generösen Spesenabrechnungspraktiken zahlreicher Abgeordneter im Londoner Parlament alles andere überlagert, so läßt sich nicht übersehen, daß sich seit einigen Wochen der britische Inlandsgeheimdienst MI5 immer tiefer in einen schwerwiegenden Folterskandal verstrickt. Auslöser des Skandals sind die Bemühungen des neuen US-Präsidenten Barack Obama, den "globalen Antiterrorkrieg" seines Vorgängers George W. Bush auf eine einwandfreie gesetzliche Grundlage zu stellen und - wenn auch nur nach außen hin - den schlimmsten Auswüchsen der amerikanischen Terrorismusbekämpfung ein Ende zu machen. Gleichwohl sind nicht alle der gegen den MI5 gerichteten Vorwürfe auf die Zusammenarbeit mit den Geheimdienstkollegen jenseits des großen Teichs, sondern zum nicht geringen Teil auf genuine Eigenleistungen zurückzuführen - auch wenn in diesem Zusammenhang die Verwendung letzteren Begriffs natürlich ironisch gemeint ist.

Begonnen hatte der MI5-Folterskandal in Februar mit der Freilassung des Äthiopiers Binyam Mohamed aus dem umstrittenen Gefangenenlager Guantánamo Bay auf dem Gelände des gleichnamigen US-Marinestützpunktes auf Kuba. Mohamed, der Anfang der neunziger Jahre als Jugendlicher nach Großbritannien gekommen war und zuletzt dort als offiziell anerkannter Flüchtling lebte, reiste 2001 zum Drogentzug nach Pakistan, wurde Anfang 2002 am Flughafen von Karatschi als "Terrorverdächtiger" von der Polizei festgenommen und der CIA übergeben, von dieser nach Afghanistan geflogen, dort mißhandelt und anschließend nach Marokko gebracht, wo man ihn unter anderem durch Schnitte an seinem Penis schwer folterte. 2004 wurde er nach Guantánamo gebracht, wo er wegen der unmenschlichen Bedingungen dort an mehreren Hungerstreiks teilnahm. Nachdem 2008 eine Anklage gegen Mohamed vor einem US-Militärtribunal in Guantánamo aus Mangel an Beweisen fallengelassen werden mußte, wurde der Äthiopier im Februar freigelassen und nach Großbritannien zurückgeflogen.

Dort hat Mohamed mit dem Vorwurf, bei seinen Mißhandlungen, durch die er zu diversen ihn selbst belastenden Aussagen wie zum Beispiel zum Bekenntnis der Mitgliedschaft im Al-Kaida-"Netzwerk" Osama Bin Ladens gezwungen wurde, sei das eine oder andere Mitglied des MI5 anwesend gewesen und habe den Folterknechten Hinweise gegeben, wonach diese "fragen" sollten, für Entsetzen gesorgt. Die sozialdemokratische Regierung von Premierminister Gordon Brown hat die Sache der Polizei übergeben, die derzeit gegen Unbekannt ermittelt. Dieser notwendige Schritt hat auch seine Nachteile, weil wegen der Ermittlungen die öffentliche Erörterung des Falls in gewisser Weise eingeschränkt ist. Als zum Beispiel Mohameds Anwalt Clive Stafford Smith, Leiter der Menschenrechtsorganisation Reprieve, am 19. Mai vor dem außenpolitischen Ausschuß des Londoner Unterhauses seine Erkenntnisse über die Verwicklung der britischen Geheimdienste in die Folterpraktiken der CIA und die Rolle der britischen, von den USA gepachteten und zum Militärstützpunkt ausgebauten Insel Diego Garcia im Indischen Ozean in diesem Zusammenhang darlegen wollte und von den Parlamentariern ausgefragt werden sollte, wurde die Sitzung praktisch in letzter Minute unter Hinweis auf die laufende Untersuchung der Polizei im Fall Binyam Mohamed gestrichen.

Dessen ungeachtet sind seitdem weitere Informationen aufgetaucht, die ernsthafte Zweifel an der Einhaltung britischer und internationaler Gesetze durch den MI5 aufkommen lassen. Am 22. Mai berichtete die Tageszeitung Independent von sechs britischen Moslems, die meisten von ihnen Jugendarbeiter, die der MI5 durch Erpressung und Drohungen zum Spitzeldienst zu bewegen versucht haben soll. Laut dem Independent hatte sich bereits im letzten September der langjährige Labour-Abgeordnete Frank Dobson bei seiner Parteikollegin Innenministerin Jacqui Smith über die Schickanierung der Männer, von denen offenbar die meisten in seinem Nordlondoner Wahlkreis leben, beschwert. Smith hat sich jedoch geweigert, in der Sache aktiv zu werden. Die Männer waren zum Beispiel bei Reisen auf Flughäfen im Ausland - offenbar jeweils nach einem entsprechenden behördlichen Anruf aus London - vorübergehend festgenommen und nach Großbritannien zurückgeschickt worden. Bei der Ankunft wurden sie von Vertretern des MI5 bezichtigt, islamistische Extremisten zu sein. Man hat ihnen für den Fall, daß sie die Zusammenarbeit mit dem Inlandsgeheimdienst verweigerten, damit gedroht, sie oder Mitglieder ihrer Familie abzuschieben oder sie als "Terrorverdächtige" anzuschwärzen. Vertreter der muslimischen Gemeinde Großbritanniens haben ihre tiefste Enttäuschung über diese Vorgänge zum Ausdruck gebracht und ihrerseits Innenministerin Smith bezichtigt, die Erpressungspraktiken des MI5 gutzuheißen.

Am 27. Mai wartete der Londoner Guardian mit dem spektakulären Fall des Jamil Rahman auf, der in Südwales aufwuchs und 2005 nach Bangladesh, in das Land seiner Vorväter, gegangen ist, um dort zu heiraten und sich ein neues Leben aufzubauen. Am 1. Dezember 2005 wurde Rahman zusammen mit seiner Frau vom Geheimdienst Bangladeshs verhaftet und drei Wochen festgehalten. In den darauffolgenden zwei Jahren wurde er immer wieder vom Geheimdienst durch Mißhandlungen sowie die Drohungen, seine Frau zu vergewaltigen und umzubringen, zu dem falschen Geständnis gezwungen, Chefplaner der Bombenanschläge auf das öffentliche Verkehrssystem Londons gewesen zu sein, die am 7. Juli 2005 56 Menschen das Leben gekostet hatten. An den fraglichen Vernehmungen nahmen auch mehrere Briten - vermutlich zwei Vertreter des MI5 und drei Ermittler des Scotland Yard - und einer Frau aus den USA - vermutlich eine Agentin der CIA - teil. Die Scotland-Yard- Polizisten wollten, daß Rahman belastende Aussagen zuungunsten anderer Personen in Verbindung mit den Londoner Anschlägen macht. Letztes Jahr kehrte der heute 31jährige Rahman nach Großbritannien zurück. Vor kurzem sind seine Frau und eines seiner Kinder nachgezogen, weshalb Rahman nun Strafanzeige gegen den britischen Staat gestellt hat. Seine Anwälte sollen über diverses Beweismaterial - Telefonnummer der betroffenen MI5-Mitarbeiter, medizinische Gutachten und Aussagen anderer Zeugen -, verfügen, welche die Tortur Rahmans belegt.

Angesichts der Leidensgeschichte Rahmans, der mittels Folter dazu gebracht werden sollte, sich selbst und andere zu belasten, überrascht es nicht, daß die Familienangehörigen der Opfer und die Überlebenden der Anschläge auf die Londoner U-Bahn den am 19. Mai veröffentlichte Untersuchungsbericht des Intelligence and Security Committee des britischen Parlaments als "Vertuschungsmanöver" bezeichneten. In dem Bericht kamen die Parlamentarier - trotz zahlreicher Gegenbeweise - zu dem Schluß, daß der MI5 und die Londoner Polizei nichts hätten tun können, um die Anschläge zu verhindern. Bedenkt man das Ausmaß, in dem der MI5 - nachzulesen im ISC-Untersuchungsbericht - die islamistische Szene in Großbritannien unter Beobachtung hält und zum Teil unterwandert hat, wäre es keine Überraschung, wenn die Behörden die Anschläge deshalb nicht verhinderten, weil sie selbst auf die eine oder andere Weise darin verwickelt waren.

29. Mai 2009

Siehe hierzu im SCHATTENBLICK unter POLITIK\REPORT:

INTERVIEW/022: Ex-MI5-Agentin Annie Machon (SB)