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HISTORIE/311: USA ziehen bedenkliche Lehren aus dem Vietnamkrieg (SB)


USA ziehen bedenkliche Lehren aus dem Vietnamkrieg

Hillary Clinton und Henry Kissinger verklären die sechziger Jahre


Für die USA, vor allem für die politische Elite in Washington, bleibt Vietnam bis heute ein traumatisches Ereignis. "Closure", in dem populär-psychologischen Sinne, daß die US-Politikerkaste mit dieser Episode irgendwann einmal abgeschlossen hätte, ist nicht in Sicht. Aus geschichtsideologischen Gründen kann bzw. will man sich offenbar nicht mit der Tatsache abfinden, daß die Supermacht USA, deren demokratische Staatsform in ihrer Vorbildfunktion für die restliche Welt seit mehr als 200 Jahren der Menschheit angeblich den Weg in eine friedliche und gerechte Zukunft weist, wo alle Menschen Brüder und Schwester sind und sich in Harmonie und gegenseitiger Achtung begegnen, in Indochina eine verheerende militärische Niederlage erlitten hat.

Deswegen zum Beispiel halten republikanische Ewiggestrige an einer abstrusen Dolchstoßlegende fest, wonach die US-Streitkräfte den Krieg in Vietnam ohne weiteres gewonnen hätten, hätten sich die Demokraten im Kongreß und die liberalen Kommentatoren in den Medien von der Friedensbewegung, die ohnehin von anti-amerikanischen Anarchisten und Kommunisten durchsetzt gewesen sein soll, nicht beeindrucken lassen und einfach mehr Mumm gezeigt. Die Verfechter jener These blenden natürlich die Tatsache aus, daß die wichtigsten Impulse für die Antikriegsbewegung von den heimkehrenden Soldaten kamen, denen nach dem Einsatz in Vietnam nicht einsichtig war, was der industrielle Massenmord in Indochina mit der Verteidigung der USA zu tun hatte.

In dem neuen Buch "Obama's Wars" über die ersten eineinhalb Jahre Barack Obamas als US-Präsident schildert Bob Woodward die Unfähigkeit des jungen Ex-Senators aus Illinois, sich gegenüber der eigenen Generalität durchzusetzen und diese zur Durchführung des von ihm favorisierten Abzugs des größten Teils der US-Streitkräfte aus Afghanistan zu bewegen. Statt der von Obama erbetenen Studie hinsichtlich der Möglichkeit eines hauptsächlich per Drohnenangriffe und Einsatz von Spezialstreitkräften durchgeführten "Antiterrorkriegs" gegen Al Kaida legten im Herbst 2009 Verteidigungsminister Robert Gates, der Generalstabchef Admiral Michael Mullen, der CENTCOM-Chef General David Petraeus und der ISAF-Oberkommandeur General Stanley McChrystal dem Präsidenten ihre eigene Eskalationsstrategie zur Absegnung vor. Der Oberkommandierende der Streitkräfte durfte lediglich die Anzahl der zu entsendenden Soldaten - 20.000, 30.000 oder 40.000 Mann - bestimmen und hat sich bekanntlich für die zweite Option ausgesprochen. Und das, obwohl laut Woodward Vizepräsident Joseph Biden, der Stabschef Rahm Emanuel und Karl Eikenberry, der US-Botschafter in Kabul, der zwei Einsätze als Armeegeneral in Afghanistan während der Präsidentschaft von George W. Bush aufweisen kann, Obama wiederholt vor einem zweiten Vietnam warnten. Über die damaligen Beratungen über den künftigen Kurs in Afghanistan schwebten laut Woodward "die Geister von Vietnam": "Manche Teilnehmer brachten ihre Sorge zum Ausdruck, daß sie dabei waren, jene Geschichte zu wiederholen, indem sie den Militärs erlaubten, die Truppenstärke zu bestimmen."

Daß sich Obama auf das eigene Urteil der katastrophalen militärischen Lage in Afghanistan nicht verlassen, auf die Warnungen Bidens und Emanuels nicht gehört und sich nicht über die Rücktrittsdrohungen von Mullen, Petraeus und Konsorten hinweggesetzt hat, überrascht nicht. Der letzte US-Präsident, der gegen den Willen seiner Militärberater einen Abzug amerikanischer Truppen aus einem Kampfgebiet befohlen hat, war John Fitzgerald Kennedy. 1963 hat JFK die Heimholung von 1200 US-Militärberatern aus Vietnam bis Ende des Jahres und aller übrigen Soldaten - zwei Bataillons der US-Marineinfanterie, die den Flughafen Danang schützten - bis 1965 angeordet. Am 22. November 1963 wurde Kennedy auf offener Straße in Dallas unter bis heute ungeklärten Umständen erschossen. Erst unter seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson konnte das US-Militär den Krieg in Indochina richtig entfachen.

Wie vor einigen Jahren für Historiker freigegebene Audioaufnahmen aus dem Weißen Haus inzwischen belegen, glaubte Johnson nicht an den Krieg in Vietnam, wußte sich jedoch nicht anders zu helfen, als dem Pentagon alle Wünsche zu erfüllen. Auf den Bändern ist Johnson unter anderem mit Richard Russell, damals demokratischer Senator aus Georgia, im Gespräch zu hören, wie er deklamiert, daß er wisse, daß Vietnam den USA "gar nichts" bedeute, er aber nicht als erster Präsident Amerikas, der einen Krieg verloren habe, in die Geschichtsbücher eingehen wolle. Leider hing Johnson ebenfalls an der "Glaubwürdigkeit" der USA, die unter keinen Umständen Einbußen zu erleiden hätte. Entgegen allen Szenarien der Militaristen haben die USA den erzwungenen Abzug 1975 ohne nennenswerten Schaden überlebt. Es trat nicht nur nicht die befürchtete "Domino-Theorie" in Kraft - wonach nach dem Fall Südvietnams an den kommunistischen Norden das restliche Asien "rot" werden würde -, sondern die USA haben den Kalten Krieg auch gewonnen und erleben können, wie zwischen 1989 und 1991 der Warschauer Pakt zerbrach und sich die Sowjetunion in ihre Einzelteile auflöste.

Für die Hartnäckigkeit des "Traumas" Vietnam für die politische Elite in Washington spricht die Konferenz, die am 29. September im US-Außenministerium in Washington zum Thema des damaligen Krieges stattfand und an der die Amtschefin Hillary Clinton und, als besonderer Gast, Dr. Henry Kissinger, Grand Seigneur der amerikanischen Diplomatie, teilnahmen. Über die Konferenz berichtete am selben Tag die Nachrichtenagentur Associated Press unter der Überschrift: "Kissinger: Vietnam failures our own fault". Der Bericht an sich und die darin kolportierten Erläuterungen Clintons und Kissingers machen eines deutlich. Das absolut Einzige, was die bestimmenden Kräfte in den USA am Vietnam bereuen, ist, daß sie verloren haben. Zu den "Fehlern" aus denen man etwas lerne könnte, gehöre auf gar kein Fall, das Genfer-Abkommen von 1954, das die friedliche Wiedervereinigung des geteilten Landes vorsah, torpediert zu haben und in Südvietnam einmarschiert zu sein.

Kissinger präsentierte die Niederlage als Resultat eines fehlenden Willens auf Seite Washingtons: "Amerika wollte einen Kompromiß. Hanoi wollte den Sieg." Als einzigen Fehler seinerseits nannte er, den Wunsch der Vietnamesen zu Wiederherstellung der nationalen Einheit unterschätzt zu haben. Er bedauert den damaligen Streit zwischen Kriegsbefürwortern und -gegnern in den USA. Der habe "den Glauben der Amerikaner aneinander zerstört", so Kissinger. Auch Clinton erinnerte in ihrer Eröffnungsrede als Gastgeberin im State Department an die "vielen langen, schmerzhaften, qualvollen Gespräche", die sie als Studentin damals mit ihren männlichen Kommilitonen führte, von denen einige zum Kriegsdienst in Vietnam gingen, während sich andere verweigerten. Im AP-Bericht ist von einem "Krieg, der 58.000 US-Militärgehörigen das Leben kostete" die Rede. Nirgendwo in der Meldung sind Angaben über die Millionen von getöteten Vietnamesen, Laoten oder Kambodschaner zu finden.

Die Meldung und die Konferenz setzten die seit Jahren betriebene Nabelschau der Amerikaner zum Thema Vietnam fort. Nur ihr Trauma, ihre Toten, ihre Verletzten, ihre Agent-Orange-Opfer sind von Bedeutung. Indochina war lediglich Kulisse einer der schmerzhaftesten Episoden der Nationalgeschichte der USA. Die Menschen dort nahmen, ohne es zu wissen, als Statisten am großen amerikanischen Drama à la "Apocalypse Now", "Platoon" und "The Deerhunter" teil. Warum soll daher AP zum Beispiel erwähnen, daß bei den illegalen Luftangriffen auf Kambodscha mehr Bomben auf das kleine Land abgeworfen wurden als im gesamten Zweiten Weltkrieg? Über Clintons und Kissingers Appell, die Amerikaner sollten sich in Zukunft mehr um die nationale Einigkeit bemühen, kann man eigentlich nur lachen, war doch der spätere Friedensnobelpreisträger diejenige Person, die 1968 als Eingeweihter der demokratischen Regierung die Geheimgespräche Johnsons mit Hanoi an den Republikaner Richard Nixon verriet und die Bestrebungen um eine frühzeitige Beendigung des Krieges zunichte machte. Dafür wurde Kissinger von Nixon zunächst mit dem Posten des Nationalen Sicherheitsberaters und später mit dem des Außenministers belohnt. Bekanntlich starb der überwiegende Teil der Kriegsopfer nach dem Ende der Amtszeit Johnsons, als Nixon und Kissinger mittels massiver Eskalation für die USA einen "Frieden mit Ehre" herbeizubombardieren versuchten.

1. Oktober 2010