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HISTORIE/305: Britische Irakkriegsdokumente belasten Tony Blair (SB)


Britische Irakkriegsdokumente belasten Tony Blair

Vertrauliche Mitteilungen des britischen Justizministers werden publik


In Großbritannien hat sich der politische Streit um den Irakkrieg immer noch nicht ausgetobt. Noch vor dem Einmarsch der angloamerikanischen Streitkräfte in das Zweistromland am 19. März 2003 kam es am 15. Februar in London und anderen Großstädten zur größten politischen Demonstration in der britischen Geschichte - gegen den drohenden Überfall auf den Irak. Millionen von britischen Bürgern kauften ihrem damaligen Premierminister Tony Blair die Begründung für den Krieg, die "Massenvernichtungswaffen" Saddam Husseins bzw. die Verbindungen des Baath-"Regimes" zum Al-Kaida-"Netzwerk" Osama Bin Ladens, nicht ab. Deshalb gilt der 2007 als Regierungschef zurückgetretene Blair im eigenen Land als Lügenbaron, der wegen seiner Einschätzung der Bedeutung der "special relationship" Londons zu Washington am Volk, Parlament und Kabinett vorbei Großbritannien in einen illegalen Angriffskrieg gestürzt hat.

Wegen der anhaltenden Kontroverse in Großbritannien um den Irakkrieg hat Ende letzten Jahres Gordon Brown, Blairs Nachfolger als Premierminister und Vorsitzender der sozialdemokratischen Labour-Partei, eine Kommission unter der Leitung des Richters Sir John Chilcot mit der Untersuchung der Hintergründe der britischen Teilnahme am Anti-Saddam-Hussein-Feldzug der USA beauftragt. Einige am 30. Juni veröffentlichte britische Regierungsdokumente aus der Zeit beleuchten eine der bislang spannendsten Fragen im gesamten Komplex, nämlich wie der damalige Justizminister Lord Goldsmith am Vorabend des Waffengangs seine bis dahin vertretene Meinung plötzlich revidierte und eine Beteiligung der britischen Streitkräfte an der Invasion für völkerrechtlich vertretbar erklärte. Jahrelang hatte sich Blair geweigert, diese Dokumente zur Veröffentlichung freizugeben. Die neue liberal-konservative Regierung hat ihre überraschende Entscheidung, im Fall der fraglichen Goldsmith-Expertisen mit den traditionellen Geheimhaltungspraktiken für solche Regierungsdokumente zu brechen, mit ihrem "einzigartigen Status" und dem öffentlichen Interesse an der Arbeit der Chilcot-Untersuchungskommission begründet.

Bereits 2005 war die Expertise, mit der Goldsmith unmittelbar vor dem Kriegsbeginn die Anwendung militärischer Gewalt für legitim erklärte, veröffentlicht worden. Darüber hinaus hat Goldsmith vor der Chilcot-Kommission seine letztgültige Schlußfolgerung persönlich erläutert. Demnach wäre er nach einem Besuch in Washington und Gesprächen mit Vertretern des US-Außen- und des Justizministeriums Anfang März 2003 zu der Ansicht gelangt, daß der Einmarsch durch die Resolution 1441 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom November 2002 mandatiert wäre und daß keine zweite Resolution notwendig wäre. Hierbei verwies er auf die Teilnahme der britischen Luftwaffe Ende 1998 an der Operation Wüstenfuchs gegen den Irak und im Frühjahr 1999 beim sogenannten Kosovo-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Auch in diesen beiden Fällen hatte es keine ausdrückliche Mandatierung für den Militäreinsatz gegeben; den hatten Washington und London nach eigenem Gutdünken aus bestehenden Resolutionen abgeleitet.

Aus den jetzt freigegebenen Dokumenten wird deutlich, wie damals Goldmiths juristische Beurteilung der Lage "sich entwickelte" ("evolved"), um die Formulierung des Lords selbst zu gebrauchen. Am Tag vor dem Flug Blairs in die USA zu einem Treffen mit US-Präsident George W. Bush am 31. Januar 2003 erhielt der Premierminister eine Mitteilung aus dem Justizministerium, in der Goldsmith, offenbar irgendwelche umstrittenen Vereinbarungen zwischen London und Washington zum Sturm auf den Irak fürchtend, warnte, daß nach seiner Analyse die Resolution 1441 keine Waffengewalt autorisiere und daß dafür eine zweite Resolution zwingend notwendig wäre. Das Dokument enthält die handschriftliche Reaktion eines offenbar genervten Blairs auf die eindeutige Aussage des eigenen Justizministers: "Ich verstehe das einfach nicht." Ergänzt wird das Dokument durch die handschriftliche Notiz eines unbekannten Mitarbeiters des Premierministers, der die Position Blairs wie folgt zu Protokoll gibt: "Sagte ausdrücklich, daß wir keinen weiteren Rat in dieser Angelegenheit bräuchten." Das stimmt. Denn zu diesem Zeitpunkt erhielt Blair in den USA seinen Marschbefehl. Bush jun. setzte ihn in Kenntnis, daß die US-Streitkräfte auch ohne zweite UN-Resolution den Irak angreifen würden. Goldsmith beugte sich am 17. März der sich entwickelnden Realität mit jener Expertise, in der er Blair zuliebe die Teilnahme der britischen Streitkräfte an dem unmittelbar bevorstehenden Krieg auch ohne zweite UN-Resolution für legitim erklärte.

Interessant ist auch eine Mitteilung Goldsmiths vom 30. Juli 2002, in der er Blair über das Recht auf Selbstverteidigung aufklärte. Zu behaupten, Saddam Hussein entwickele Massenvernichtungswaffen, mit denen er irgendwann einmal Großbritannien bedrohen könnte, sei als Begründung für einen präemptiven Angriff nicht ausreichend. Die vom Irak Saddam Husseins ausgehende Gefahr eines Angriffs müsse "zwingend" sein. Diese Informationen haben Blairs PR-Berater Alastair Campbell und andere benutzt, um einen abstrusen Verteidigungsfall zu konstruieren, der im September durch die Veröffentlichung in einem entsprechenden "Dossier" aus der Downing Street Schlagzeilen nicht nur in der britischen Boulevardpresse, sondern auch weltweit machte. Demnach verfügten die irakischen Streitkräfte im Westen ihres Landes über mit Giftgasgranaten bestückte Scud-Raketen, mit denen sie "innerhalb von 45 Minuten" nach Erhalt eines entsprechenden Befehls aus Bagdad die britischen Militärstützpunkte auf Zypern beschießen könnten. Ende letzten Jahres hat man im Rahmen der Chilcot-Untersuchungskommission erfahren, daß Blairs engste Mitarbeiter in der Downing Street Nummer 10 das vollkommen durchsichtige Bedrohungsszenario aus den Angaben eines Bagdader Taxifahrers zusammenbastelten, der 2001 in seinem Wagen ein entsprechendes Gespräch zweier irakischer Militärs aufgeschnappt haben wollte, aber den selbst der britische Auslandsgeheimdienst MI6 als "nachweislich unverlässige" Quelle eingestuft hatte.

1. Juli 2010