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HISTORIE/297: Lösung der Kaschmirkrise war 2007 zum Greifen nahe (SB)


Lösung der Kaschmirkrise war 2007 zum Greifen nahe

Dreijährige Geheimverhandlungen Indiens und Pakistans enthüllt


Als einer der gefährlichsten Konfliktherde der Welt gilt Kaschmir, um das Indien und Pakistan seit 1947 drei Kriege geführt haben und sich bis heute unversöhnlich und nuklearbewaffnet gegenüberstehen. Wäre es nach dem Willen der Bevölkerung Kaschmirs, die mehrheitlich muslimischen Glaubens ist, gegangen, wäre die Provinz bei dem Abzug der Briten und der gleichzeitigen Gründung Indiens und Pakistans letzterem zugeschlagen worden. Doch der damalige Maharadscha, ein Hindu, entschied sich für den Anschluß an Indien. Angesichts dieser verwickelten Situation versuchten die Streitkräfte beider neuen Staaten das Fürstentum Jammu und Kaschmir gänzlich zu besetzten - was keinen von ihnen gelang. Wo die beiden Armeen aufeinandertrafen, verläuft die sogenannte Line of Control (LoC), die seit mehr als 60 Jahren de facto als Staatsgrenze gilt.

1948 haben sich die Vereinten Nationen mit der Sache befaßt und die Durchführung einer Volksbefragung über die Staatszugehörigkeit Jammu und Kaschmirs gefordert (In dem südlich von Kaschmir liegenden Jammu stellen die Hindus die Mehrheit). Dies hat die Regierung in Neu-Delhi verweigert und statt dessen den südöstlich der LoC liegenden, größten Teil von Kaschmir zusammen mit Jammu in den indischen Bundesstaat integriert. Nordwestlich der LoC gehört die Autonomieregion "Asad Kaschmir" oder "freies Kaschmir" zu Pakistan. In den letzten Jahren entzündete sich der Konflikt um Kaschmir immer wieder neu. Seit Anfang der achtziger Jahre lieferen sich islamistische Dschihadisten, die vom pakistanischen Geheimdienst und Militär unterstützt werden, mit den indischen Streitkräften in Kaschmir einen blutigen Kampf.

Nach einem schweren Anschlag islamistischer Selbstmordattentäter im Dezember 2001 auf das Parlament in Neu-Delhi machten die indischen und pakistanischen Streitkräfte mobil und standen sich monatelang in Alarmbereitschaft gegenüber. Nach dem mehrtägigen Überfall eines islamistischen Selbstmordkommandos Ende November letzten Jahres in der indischen Metropole Mumbai ist es fast zu einer ähnlich bedrohlichen Situation gekommen. Doch durch die rasche Bekundung der Kooperationsbereitschaft bei der Erfassung und Bestrafung der Hintermänner der spektakulären Aktion konnte Islamabad die Gemüter in Indien teilweise besänftigen. Dennoch bleibt die Lage hochgradig instabil. Solange der Streit um Kaschmir anhält, besteht die Gefahr eines Atomkrieges, der wegen der Bündnisverpflichtungen Chinas gegenüber Pakistan und der USA gegenüber Indien nicht zwangsläufig auf den indischen Subkontinent beschränkt bliebe.

Vor diesem Hintergrund sorgt die Nachricht, daß der Kaschmirstreit vor zwei Jahren kurz vor der endgültigen Beilegung stand, für Enttäuschung. Über die verpaßte Gelegenheit, welche eines Tages die Menschen nicht nur in Indien und Pakistan schwer bereuen könnten, berichtet Steve Coll in einen Artikel für die jüngste Ausgabe der Zeitschrift New Yorker. Der ehemalige Redakteur der Tageszeitung Washington Post wurde 2005 für das Buch "Ghost Wars" über die früheren Jahre des Kampfes der CIA und des Pentagons gegen das Al-Kaida-"Netzwerk" Osama Bin Ladens mit dem begehrten Pulitzerpreis ausgezeichnet und kennt sich in der Region Südasien bestens aus. Coll zufolge waren Indien und Pakistan bereit, das Kriegsbeil endgültig zu begraben, und hatten eine kreative Lösung des Kaschmirstreits gefunden, welche die Öffnung der LoC ermöglicht und den Weg für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten freigemacht hätte.

Die Vertreter beider Seiten haben nach Angaben Colls im Frühjahr 2004 Geheimverhandlungen aufgenommen, nachdem man zwei Jahre zuvor an den Rand eines Atomkrieges geraten war. Es kam zu rund zwei Dutzend Treffen, die in Hotelzimmern im Ausland stattfanden und deren Ziel in der Erstellung eines sogenannten "Null-Papiers" bestand. "Null-Papier" ist diplomatischer Jargon für einen ausgehandelten, detaillierten Vertragsentwurf, der keine Namen oder Unterschriften trägt und trotzdem bzw. gerade deshalb als Grundlage einer endgültigen Vereinbarung dienen kann. Laut Coll wußten die Regierungen Großbritanniens und der USA zwar von den geheimen Gesprächen, haben sich jedoch weitestgehend aus der Sache herausgehalten. "Schlußendlich müßte jedwedes Friedensabkommen die Unterstützung der Parlamente in beiden Ländern bekommen; erschiene dieses wie das Ergebnis amerikanischer oder britischer Einmischung, stieße es auf weniger Zustimmung", schreibt Coll.

Das Ergebnis der Verhandlungen sah die Schaffung einer autonomen Region, in der sich die Bewohner beider Teile des getrennten Kaschmirs hätten frei bewegen können, vor. Mit der Zeit wäre die LoC bedeutungslos geworden, und Islamabad und Neu-Delhi hätten ihre zu Zehntausenden jeweils an den Ausläufern des Himalajas stationierten Soldaten endlich abziehen können. Laut Coll hätte das Abkommen einen "Paradigmenwechsel" im Verhältnis zwischen Islamabad und Neu-Delhi weg von den Jahrzehnten der Feindseligkeiten hin zur Überwindung der gewaltsamen Trennung von 1947/1948 und zur Schaffung einer gemeinsamen Wirtschaftszone sein können. Dazu zitiert er einen ranghohen indischen Beamten wie folgt: "Es war eine sehr große Sache. Ich glaube, es hätte das Wesen des Problems grundlegend verändert. Man hätte dann die Freiheit gehabt, die indisch-pakistanischen Beziehungen neu zu gestalten."

Obwohl das Abkommen Anfang 2007 fast unterschriftsreif war, sind die Verhandlungen gescheitert. Dafür macht Coll den politischen Absturz des damaligen pakistanischen Präsidenten General Pervez Musharraf verantwortlich. Im März 2007, gerade als die Diplomaten in Islamabad und Neu-Delhi ein Gipfeltreffen zum Thema Kaschmir ins Auge faßten, löste Musharraf landesweite Proteste der pakistanischen Anwälte gegen sich aus, als er aus Verärgerung über einige Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs dessen Vorsitzenden Muhammed Iftikhar Chaudhry kurzerhand entließ. Von diesem Zeitpunkt an war Musharrafs politischer Stern am Sinken.

Im Juli desselben Jahres kam es zur umstrittenen Erstürmung der von muslimischen Extremisten besetzen Roten Moschee. Im nachfolgenden Oktober entließ Musharraf den kompletten Obersten Gerichtshof, als es danach aussah, daß das Gremium seine erneute Kandidatur für das Amt des Präsidenten in Frage stellen könnte. Diese unheilvolle Entwicklung hat zur politischen Demontage des vielleicht einzigen Mannes geführt, der in der Lage gewesen wäre, seinen Landsleuten die Schaffung einer Autonomieregion Kaschmir unter gemeinsamer indisch-pakistanischer Verwaltung zu verkaufen. 1999 hatte sich Musharraf durch die Kämpfe in der Kargil-Region Kaschmirs einen Namen als eifriger Verfechter pakistanisch-muslimischer Interessen gemacht. Im August letzten Jahres ist er aufgrund politischen Drucks zurückgetreten. Mit jedem Tag erscheint eine Lösung des Kaschmir-Konfliktes unwahrscheinlicher.

24. Februar 2009