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EUROTREFF/004: Interview mit dem Friedensaktivisten Roger Cole (SB)


Interview mit dem Friedensaktivisten Roger Cole

PANA-Vorsitzender erläutert die Bedeutung der irischen Neutralität


Roger Cole zählt seit Jahren zu den eifrigsten Verteidigern der irischen Neutralität. Die von ihm geleitete Peace And Neutrality Alliance (PANA) spielte eine nicht unwichtige Rolle bei der Mobilisierung, die am 12. Juni 2008 im Nein der irischen Wähler zum EU-Reformvertrag resultierte. Auch dieses Jahr führt Cole den Kampf gegen das Lissabon-Abkommen an, über das die Iren am 2. Oktober erneut abstimmen sollen. Über die Bedeutung dieses Kampfes sprach der Schattenblick mit Roger Cole am 27. Juli in einer der ältesten Kneipen Irlands, The Queen's zu Dalkey, am Südrand der Dubliner Bucht.

Dalkey Castle und daneben The Queen's Bar

Dalkey Castle und daneben The Queen's Bar

SB: Herr Cole, wann wurde die Peace And Neutrality Alliance gegründet und warum?

RC: Sie wurde 1996 gegründet. Nachdem Michail Gorbatschow in Moskau an die Macht gekommen war, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Paktes sowie der Sowjetunion, schienen die meisten Menschen davon auszugehen, daß die Gefahr eines Atomkrieges gebannt sei. Eine Reihe von Leuten, Carol Fox, ich und andere, die seit ein paar Jahren im Führungsgremium der Irish Campaign for Nuclear Disarmament aktiv waren, hatten aus dem Grund die Befürchtung, daß es über den ganzen Bereich der Militarisierung Europas keine Diskussionen oder Auseinandersetzung mehr geben würde. Da wir keine Spaltung innerhalb der CND verursachen wollten, beschlossen wir, eine neue Organisation mit Namen Peace And Neutrality Alliance zu gründen. Nun ist die irische CND seitdem der PANA angeschlossen, also gibt es da kein Problem. Unser Hauptmotiv, die PANA ins Leben zu rufen, war, daß wir die Aufmerksamkeit auf den Prozeß lenken wollten, über den unserer Analyse nach die politische Führung der Republik Irland versuchte - und versucht -, diesen Staat heimlich in die US/EU-Militärstrukturen zu integrieren.

SB: Und zu welchem Zeitpunkt sind Sie persönlich zu der Erkenntnis gelangt, daß die Europäische Union oder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie genannt wurde, eine Bedrohung für die irische Souveränität darstellt?

RC: Also, die Europäische Union war schon immer im wahrsten Sinne des Wortes eine Bedrohung für die irische Souveränität. Wogegen wir eintreten, ist nicht die Idee einer geteilten Souveränität. Wir haben nichts dagegen, mit anderen Staaten zu kooperieren, und wenn das ein gewisses Ausmaß an geteilter Souveränität erfordert, ist das kein schwerwiegendes Problem. Der Streitpunkt ist die Frage der Militarisierung der Europäischen Union sowie die Tatsache, daß sich das ganze Projekt nicht allein um geteilte Souveränität in grenzüberschreitenden Fragen wie Umwelt oder Verkehrswesen dreht, sondern darum, ganz real, sehr kontinuierlich, eine starke militärische Dimension zu entwickeln, von der wir nicht glauben, daß die Menschen in Irland sie wollen oder brauchen.

SB: Zu welchem Zeitpunkt wurde der Prozeß der Militarisierung offensichtlich?

RC: Noch bevor wir die PANA ins Leben riefen, haben wir zur Zeit der Einheitlichen Europäischen Akte eine Gruppe namens Alliance for Peace gegründet, denn da kam die Frage einer gemeinsamen Außenpolitik auf den Tisch. Der nächste wirklich große Antrieb war der Vertrag von Maastricht, und das erste Mal, daß wir dann mit einer Kampagne aktiv wurden, war zum Vertrag von Amsterdam. Wir wollten das gleiche erreichen wie die Dänen, nachdem sie den Maastricht-Vertrag abgelehnt hatten. Sie konnten in vier Punkten aussteigen, und was wir speziell wollten, war der Ausstieg aus der Militarisierung der Europäischen Union, der für Dänemark im Amsterdamer Vertrag vorgesehen war, was - wie wir argumentierten - auch für uns gelten sollte. Wir waren die einzige Gruppierung mit breiter Basis in Irland, die gegen den Vertrag von Amsterdam gekämpft hat, zu dem das Referendum am gleichen Tag im Sommer 1998 abgehalten wurde, wie das Referendum über das Karfreitagsabkommen.

In dieser Zeit lautete die Botschaft des Establishments: "Ja zum Frieden in Irland - Ja zum Frieden in Europa". Wir wendeten ein, das "Ja zum Frieden in Europa" sei nicht das Problem, sondern die Streitfrage drehe sich um die Militarisierung Europas, also das genaue Gegenteil davon. Den Frieden in Irland und ein militarisiertes Europa zu wollen, widerspricht sich im Grundsatz. Wenn man Frieden in Irland erreichen will, ist die vernünftige Schlußfolgerung, die Waffe aus der irischen Politik rauszunehmen. Aus dem gleichen Grunde wäre der vernünftige Schluß, die Androhung militärischer Gewalt aus der europäischen und der weltweiten Politik herauszunehmen, wenn man Frieden in Europa und weltweit erreichen will. Also waren wir der Meinung, daß es für uns nur folgerichtig war, uns dem Vertrag von Amsterdam zu widersetzen.

SB: Wie groß, meinen Sie, war der Anteil der Allianz für Frieden und Neutralität an dem Erfolg der Nein-zu-Lissabon-Kampagne im vergangenen Jahr?

RC: Es ist schwer, das wirklich zu sagen. Die PANA hat 2004 eine Konferenz organisiert, an der Friedensgruppen und Organisationen teilnahmen, die gegen die neoliberale Agenda kämpfen und in dem ganzen Bereich der Demokratie und demokratischen Rechte aktiv sind. Und aus dieser Konferenz entstand 2005 die sogenannte Campaign Against the EU Constitution (CAEUC), die auch Gruppen umfaßte, die größer waren als die PANA, was sich meiner Meinung nach stark ausgewirkt hat. Wenn man sich einmal ansieht, wie die Menschen im ersten Lissabon-Referendum genau gestimmt haben, dann zeigt sich, daß sie ihrer Klassenzugehörigkeit nach votierten. Man stellt fest, daß die Arbeiterklasse weitgehend mit Nein gestimmt hat und die Bessergestellten hauptsächlich mit Ja gestimmt haben.

SB: Weil sie sich der neoliberalen wirtschaftlichen Implikationen des Vertrages bewußt waren?

RC: Ich denke, daß das mit hineingespielt hat. Mehr Menschen aus der Arbeiterklasse stimmten mit Nein, mehr Frauen stimmten mit Nein und mehr junge Menschen stimmten mit Nein; so handelte es sich bei den Leuten, die mit Ja stimmten, hauptsächlich um gutsituierte Männer höheren Alters, die traditionellerweise unsere Gesellschaft führen.

Was die Bedeutung der Rolle betrifft, welche die Peace And Neutrality Alliance für das erzielte Nein-Votum im letzten Jahr gespielt hat, sollte man sie wirklich nicht überbewerten. Die PANA bietet im Grunde allen möglichen Gruppierungen, die auf anderen Gebieten unterschiedlicher Meinung sein mögen, einen Rahmen, um zusammenzukommen und sich gemeinsam für ein bestimmtes Thema einzusetzen. Die Kampagne gegen die EU-Verfassung und ihre Nachfolgeorganisation Say No To Lisbon wären dafür gute Beispiele. Aber die Mittel, die dem Exekutivgremium der PANA zur Verfügung stehen, sind ziemlich beschränkt. Wir setzen im Jahr vielleicht 10.000 Euro um, sind also nicht groß. In Wirklichkeit ist es die Idee, die wir liefern, die Idee nämlich, daß wir in vielen Fragen vielleicht nicht übereinstimmen, aber daß dieses die eine wichtige Frage ist und daß wir uns zusammenschließen sollten und gemeinsam daran arbeiten. Und in der Folge sprechen jetzt alle möglichen Gruppen miteinander, die das vorher nie getan hätten.

Die Arbeit der PANA ist es, diese Art Prozeß zu erleichtern. In der Anti-Lissabon-Kampagne wird also an der Basis eine gewaltige Arbeit von Sinn Féin, Éirígí, People Before Profit, das People's Movement und allen möglichen anderen Arten von Gruppen geleistet, die ihre eigenen Kampagnen fortsetzen, während sie zugleich als Teil der PANA aktiv sind. Nehmen wir Richard Boyd Barrett von der Organisation People Before Profit als Beispiel. Er ist kürzlich mit 24 Prozent der Stimmen in den Kommunalrat von Dun Laoghaire gewählt worden, was ungewöhnlich ist für einen so wohlhabenden Teil Dublins und vielleicht ein Hinweis auf die allgemeine Stimmung im Land. Zur gleichen Zeit würde ich nie den Eindruck vermitteln wollen, die PANA sei für all das - abgesehen davon, daß sie die Bildung und Entwicklung einer neuen Allianz anregt, was im Grunde das ist, was uns ausmacht - verantwortlich.

SB: Auf welche Weise hat man Irlands Neutralität in den letzten Jahren bereits aufs Spiel gesetzt?

RC: Die irische Neutralität gibt es nicht mehr; ich meine, das muß man klar sehen. Neutralität ist nicht irgendein abstraktes Konzept. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war eine Reihe von Ländern aufgrund der wachsenden Rivalitäten zwischen den Großmächten so beunruhigt, daß sie ihre Neutralität in internationales Recht gefaßt sehen wollten. Daraus ist 1907 die Haager Konvention entstanden, in der das internationale Regelwerk für die Kriegführung festgelegt und Neutralität definiert wurde. Einer der Kernaspekte der Definition ist, daß kein Staat, der als neutral angesehen werden möchte, es zulassen darf, daß sein Territorium für einen Krieg genutzt wird. Es ist ihm untersagt, militärischem Personal der kriegführenden Parteien die Landung auf seinem Territorium zu erlauben oder die Benutzung der Häfen etc.

Als Irland also 1939 beschloß, im Zweiten Weltkrieg neutral zu bleiben, zitierte Éamon de Valera, der zu jener Zeit Taoiseach [Premierminister] war, die Haager Konvention von 1907 und erklärte, daß wir uns an ihre Definition der Neutralität halten würden. Also konnten den ganzen Krieg über keine US-amerikanischen oder britischen Flugzeuge oder Schiffe das Gebiet oder die Häfen des damaligen sogenannten Irischen Freistaates nutzen. Es gab allerdings ganz offenkundig einen gewissen Grad an Pragmatismus auf seiten der Dubliner Behörden. Wenn zum Beispiel ein britisches Flugzeug eine Bruchlandung in Irland machte, erlaubte man der Crew, nach Hause zurückzureisen, während Mitglieder der deutschen Streitkräfte wie beispielsweise Matrosen, deren U-Boote in irischen Gewässern gesunken waren und die sich an Land gerettet hatten, bis zum Ende des Konflikts interniert wurden. Mein Vater war während des Zweiten Weltkriegs Mitte vierzig, und wie er sich erinnerte, war jeder in Irland entschieden für die Neutralität, während man sich zur gleichen Zeit mehr oder weniger einen Sieg der Alliierten wünschte. Man darf nicht vergessen, daß der Unabhängigkeitskrieg nur 20 Jahre zurücklag, in dessen Verlauf die "Black und Tans" [britische Soldaten] die Stadt Cork niedergebrannt hatten.

SB: Ein wesentlicher Bruch der irischen Neutralität war die Nutzung des Flughafens Shannon an der Atlantik-Küste für den Transport von US-Soldaten und -Material nach Afghanistan und in den Irak und zurück. Stimmt das so?

RC: Ja, das war der entscheidende, der in dem Beschluß der irischen Regierung im Februar 2003 bestand, zwei Dinge umzusetzen: Erstens, es zu erlauben, daß Shannon für einen illegalen Krieg benutzt wird, und zweitens, eine Resolution des Dáil [Unterhaus des irischen Parlaments] über eine Verfassungsänderung zu kippen, die Neutralität festschreiben sollte. Sinn Féin und die Labour Partei hatten die Änderung gemeinsam vorgeschlagen - etwas, das die Friedensbewegung schon seit Jahren nachdrücklich fordert -, und dann stimmten die damaligen Koalitionspartner Fianna Fáil und die Progressiven Demokraten zusammen mit der Oppositionspartei Fine Gael dagegen. Das war so ziemlich zur gleichen Zeit, als Dublin den Amerikanern gestattete, Shannon für Militärtransporte in den und aus dem Irak zu benutzen. In meinen Augen ist Irland also kein neutraler Staat mehr.

SB: Aber war Irlands Neutralität nicht bereits durch die Nutzung von Shannon im Globalen Krieg gegen den Terror kompromittiert? Berichten irischer Medien zufolge fing Donald Rumsfelds Pentagon nach den Attacken vom 11. September 2001 im Oktober des gleichen Jahres an, Shannon zum Wiederauftanken von Flugzeugen zu nutzen, die an der Invasion in Afghanistan beteiligt waren, ohne zuvor überhaupt die Erlaubnis vom Außenministerium in Iveagh House zu erfragen.

RC: Nun, wir haben 2002 die erste Demonstration am Flughafen Shannon gegen den drohenden Irak-Krieg organisiert, protestieren also schon lange Zeit gegen den Mißbrauch des dortigen Flughafens. Das Kernproblem war, daß es, während wir die Invasion und Besetzung Afghanistans oder die Jagd auf Osama bin Laden als illegal ansahen, zu der Zeit auch stark die gegenteilige Auffassung gab, es sei legal. Die Operation lief unter UN-Mandat, also hatte sie ein gewisses Maß an rechtlicher Deckung.

SB: Um das Mandat vom Sicherheitsrat zu bekommen, versprach der damalige Außenminister, General Colin Powell, daß die Regierung von George W. Bush zu einem späteren Zeitpunkt Beweise für die Beteiligung von Bin Laden am 11. September liefern würde, was sie dann nie getan hat.

RC: Das stimmt. Aber es gab eine gewisse rechtliche Zweideutigkeit, die im Falle des Irak-Kriegs nicht länger zutraf. Ich meine dennoch, daß Ihr Argument stichhaltig ist. Die Nutzung von Shannon durch Truppen der Operation Enduring Freedom, war Teil des Prozesses, mit dem Irland in die US-EU-Kriegsmaschine eingebunden wurde.

SB: Gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, über den man sagen könnte: Also bis dahin war es Transport für den globalen Antiterrorkrieg, und danach landeten Flugzeuge in Shannon mit der Zustimmung der irischen Regierung zur Teilnahme am Irak-Krieg?

RC: Es ist schwierig, die beiden auseinanderzuhalten. Unsere Meinung war damals, daß die Landung von Flugzeugen in Shannon, bevor Amerika wirklich den Krieg gegen den Irak angefangen hatte, eigentlich nicht illegal war. Erst nachdem der Irak-Krieg begonnen hatte und die Flugzeuge weiterhin landeten, wurde es definitiv illegal. Sicher könnten einige Leute einwenden, daß das noch immer legal war, aber ich glaube, daß eine überwältigende Mehrheit den Standpunkt vertritt, daß es illegal war. Ich verstricke mich besser nicht in Fragen der Rechtsauffassung. Tatsache ist einfach, daß es jetzt mehr Soldaten aus den Vereinigten Staaten gibt denn je, die Shannon passieren.

SB: Medienberichten zufolge hat sogar eine Gruppe von ihnen vor kurzem ungeladen an einer Hochzeitsfeier in einem Hotel nahe des Flughafens teilgenommen.

RC: Ja, das zeigt einfach, wie normal das geworden ist. Und das ist wesentlicher Bestandteil der Entscheidung von Barack Obama, den Krieg in Afghanistan zu verstärken. Ich sehe Obama als den LBJ [Lyndon B. Johnson] des 21. Jahrhunderts: ein demokratischer Präsident, der aufgrund seines Reformversprechens einen Erdrutschsieg bei den Wahlen erzielt, und jetzt eskaliert er den Krieg in Afghanistan ins Ungeheure, vergrößert die US-Armee und erhöht die Militärausgaben über das Ausmaß hinaus, das George Bush erreicht hat. Ich bin überzeugt, daß das alles tränenreich enden wird - wie es mit Vietnam der Fall war.

SB: In welchem Maß meinen Sie, stellt die Nutzung von Shannon eine informelle Gegenleistung für Investitionen amerikanischer Unternehmen und für Washingtons jahrelanges Engagement im Nordirland-Friedensprozeß dar?

RC: Ich glaube, daß das mit eine Rolle spielt, aber es gibt auch einen Mangel an Prinzipien und Rückgrat auf der Seite der politischen Elite dieses Landes, die an nichts zu glauben scheint und die behaupten würde, daß sie sich aus den zwei Gründen, die Sie gerade genannt haben, den amerikanischen Wünschen beugen muß. Ich bin nicht der Meinung, daß die politische Elite in Washington derzeit aus Faschisten besteht oder besonders böse ist; ich meine nur, daß sie unglaublich pragmatisch ist und Entscheidungen fällt, die furchtbar für die Menschen in Amerika sind, und besonders furchtbar für die Menschen, die sich am anderen Ende der Bombe befinden wie die Iraker, die Pakistaner und die Afghanen. Sie sind diejenigen, die am meisten leiden - wie im Fall des Vietnamkriegs. Dort wurden, wenn ich es richtig erinnere, 56.000 Amerikaner getötet im Verhältnis zu zwei bis drei Millionen getöteten Vietnamesen.

Die Todesrate wird ähnliche Proportionen aufweisen, wenn die Kriege im Irak und in Afghanistan vorbei sind. Der Riesenunterschied ist, daß es, wenn die Amerikaner und die NATO - und wir mit ihnen - schließlich besiegt worden sind, immer noch dieses enorme Erbe des Hasses da geben wird, denn im Gegensatz zu nur 17 Millionen Vietnamesen gibt es rund 1,5 Milliarden Muslime. Ich glaube, daß die Entscheidung, mit der Invasion in Afghanistan und im Irak einen dauerhaften Angriff auf die muslimische Kultur und Tradition zu führen, eine absolute Katastrophe darstellt. Es macht keinen Sinn, weder für die Muslime noch für die Amerikaner noch für uns.

Roger Cole

Roger Cole

SB: Welche Aspekte des Lissabon-Vertrages repräsentieren Ihrer Meinung nach die größten Schritte auf dem Weg zur Militarisierung Europas?

RC: Also die Stärkung der Europäischen Verteidigungsagentur - oder der Kriegsagentur, wie ich sie gerne nenne -, dann gibt es die Solidaritätsklauseln und natürlich diese Geschichte, die sie strukturierte Kooperation nennen, die es bestimmten Staaten ermöglicht, auf dem Gebiet der gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik zusammenzuarbeiten und militärische Ad-hoc-Allianzen zu bilden. Irland ist mit einigen skandinavischen Ländern in einer europäischen Kampfgruppe. Die EU-Kampfgruppen sind kombinierte multinationale Militärkräfte, die binnen fünf Tagen wo auch immer einsatzbereit sein sollen.

Wie dem auch sei, die diesbezüglichen Pläne der Lissabon-Verfechter sind infolge der jüngsten Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts erschwert worden, weil es fast unmöglich ist, innerhalb von fünf Tagen die Zustimmung beider Häuser des Parlamentes in Berlin zu erlangen, Truppen irgendwohin in die Welt zu schicken. Darüber hinaus stellt das Urteil auch den Lissabon-Vertrag in Frage, demzufolge die Entsendung durch den Europäischen Rat einstimmig beschlossen werden muß - das sind die Regierungschefs der einzelnen Mitgliedstaaten. Aber jetzt ist ihnen das nicht möglich, weil - auch wenn alle anderen der Entscheidung zustimmen - der deutsche Kanzler bzw. die deutsche Kanzlerin seine oder ihre Zustimmung nicht geben kann, solange er oder sie nicht vom Bundestag und vom Bundesrat in Berlin das Mandat dafür erhält. Die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts war also ein wichtiger Sieg für die Demokratie und für jene von uns, die glauben, daß die Europäische Union eine Partnerschaft unabhängiger, demokratischer Staaten sein sollte. In der PANA würden wir etwas weitergehen und sagen, es sollte eine Partnerschaft demokratischer Staaten ohne militärische Dimension sein und daß wir in Irland, wenn die anderen eine solche militärische Dimension wollen, in der Lage sein sollten, auszusteigen.

SB: Im Verlauf der Lissabon-Kampagne im letzten Jahr wurde kolportiert, es gebe eine Verbindung zwischen Declan Ganley und dem Pentagon und daß Libertas [neoliberale irische Bürgerinitiative] möglicherweise ein Trojanisches Pferd für gewisse neokonservative Elemente aus den USA sei, welche die europäische Einheit oder eine militärisch leistungsfähigere EU mit Mißtrauen betrachteten. Gibt es irgendeine Grundlage für diese Behauptungen oder entspräche es mehr den Tatsachen zu sagen, daß Lissabon die NATO-Allianz eher stärkt, als ihr abträglich zu sein?

RC: Ich war immer der Meinung, daß Lissabon die NATO-Allianz stärkt, gleich welche Gerüchte es über Ganley und seine Pentagon- oder CIA-Verbindungen gibt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Ganley und Libertas vorhatten. Es machte für mich keinen rationalen Sinn. Ich verstehe es noch immer nicht. Es war eins der bizarrsten Dinge, die passiert sind. Wie auch immer, ich meine, daß der Lissabon-Vertrag erheblich zur Stärkung der Verbindung von NATO und europäischer Militärstruktur beiträgt.

SB: Weil die EU-Militärstrukturen denen der NATO untergeordnet sind?

RC: Ich würde sie nicht unbedingt als untergeordnet beschreiben, aber sie sind es im Endeffekt, was die Nutzung der militärischen Mittel betrifft. Die große Mehrheit der EU-Mitgliedsländer ist ohnehin Mitglied der NATO, und im Lissabon-Vertrag heißt es in der Tat, er werde einen "belebenden" Effekt auf die Nordatlantische Allianz haben.

SB: Norwegen zum Beispiel, das nicht einmal EU-Mitglied ist, ist Teil der skandinavischen Kampfgruppe, in der sich auch Irland befindet.

RC: Genau, das ist ein anderer Hinweis auf die Verbindung der beiden. All das wurde vor kurzem in der Tatsache versinnbildlicht, daß das Eurocorps die Ehrengarde bei der Eröffnungszeremonie der neuen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments in Straßburg stellte. Auf der Eurocorps-Website heißt es ausdrücklich, daß es sich um eine Militäreinheit für Europa und für die NATO handelt. Die Annahme, daß es da keine Verbindung gibt, ist also schlicht nicht wahr. Wir werden also nicht nur in ein militarisiertes Europa integriert, sondern auch, wie ich ganz zu Beginn dieses Interviews gesagt habe, in die US-EU-NATO-Militärstruktur.

SB: Ohne übermäßig dramatisieren zu wollen - in Anbetracht der Annäherung zwischen der EU und den USA, im Verlaufe derer Nicolas Sarkozy kürzlich das französische Militär zurück unter die NATO-Kommandostruktur gebracht hat, angesichts dessen, daß der Demokrat Obama die US-Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, sowie in Anbetracht der offiziellen Verlautbarungen von seiten der britischen Labour-Partei, sie würden Tony Blair als künftigen EU-Präsidenten unterstützen -, erhöhen diese Entwicklungen nicht die Gefahr, daß, sollte Irland Lissabon im Oktober zustimmen, Washington und Brüssel kurz danach im Streit über Teherans Nuklearprogramm möglicherweise vereint Druck auf den Iran ausüben, in dessen Folge, wenn die Wirtschaftssanktionen nicht die gewünschten Ergebnisse bringen, militärische Feindseligkeiten ausbrechen könnten?

RC: Ich glaube, daß ein solches Szenario unglücklicherweise eine sehr reale Möglichkeit darstellt. Diese Dinge vorherzusagen, ist nie einfach, aber es scheint mir, daß, angesichts der Entwicklungen, die Sie gerade erwähnt haben, eine solche Wendung der Ereignisse leichter zustandekommt, als man sich ausmalt. Ich weiß nun, daß die jüngsten öffentlichen Meinungsumfragen in den Vereinigten Staaten von Amerika zeigen, daß nicht nur eine erhebliche Mehrheit der Amerikaner gegen den Krieg im Irak ist, sondern daß jetzt zum ersten Mal überhaupt auch eine Mehrheit gegen den Krieg in Afghanistan ist, und es ist sicherlich das gleiche in Britannien. Was mich also beunruhigt, ist die Bereitschaft der politischen Eliten in Washington, London und anderenorts, Menschen gegen ihren Willen in mehr und mehr Kriege hineinzuzerren.

SB: Besteht das Problem der Friedensbewegung, besonders in Amerika und in Britannien, aber auch in anderen Ländern der NATO-"Einflußsphäre", darin, daß die Kriegstreiber, sobald die Öffentlichkeit eines bestimmten Konfliktes müde wird, einen Grund finden, irgendwo anders zu intervenieren? Wenn man zum Beispiel die amerikanische Öffentlichkeit lange genug mit dem Schreckgespenst der bösen Mullahs im Besitz der Atombombe bombardiert, könnte man sie sehr leicht mobilisieren, einen Krieg gegen den Iran zu unterstützen. Mit den Briten und der Öffentlichkeit in den anderen NATO-Staaten wäre das nicht so leicht, weil sie nicht die Demütigung des 444 Tage währenden Geiseldramas 1979 in der US-Botschaft in Teheran erlebt haben, aber in Amerika könnte unter bestimmten Bedingungen die ganze "Tie a Yellow Ribbon Round the Ole Oak Tree"-Hysterie wieder ausbrechen.

RC: (lacht) Da haben Sie recht, aber dann wiederum ist die Möglichkeit, daß so etwas passieren kann, der Grund dafür, daß Gruppen wie die PANA existieren. Deshalb haben wir Verbindungen mit Friedensbewegungen aufgenommen, insbesondere mit der CND in Britannien, und aus dem Grund halten wir am 5. September in Shannon eine große Konferenz ab, zu der wir neben anderen Leuten John Feffer eingeladen haben, den Vizedirektor von Foreign Policy in Focus, einem Projekt des Institute for Policy Studies in Washington, einem der führenden Think-Tanks mit Verbindungen zur amerikanischen Friedensbewegung. Wir sind absolut davon überzeugt, daß die Nein-Seite nicht die Spur einer Chance hat, das Lissabon-Referendum zu gewinnen, außer wir bekommen ausländische Unterstützung. Das ist einfach keine Option. Wenn nicht die Menschen in den anderen europäischen Ländern und in den USA erkennen, daß das nicht nur ein irischer Kampf ist, sondern daß ihr eigener Friede, ihre eigene Sicherheit auch auf dem Spiel stehen, und uns unterstützen, glaube ich nicht, daß wir gewinnen werden.

SB: Weil man Sie von jetzt an bis zum 2. Oktober als antieuropäisch darstellen wird, und es das ist, wogegen Sie sich behaupten müssen?

RC: Ganz genau. Einige von uns haben vor einem Monat oder so England besucht, und es wird dort bald eine neue Website namens Europe says no geben, um Unterschriften von Menschen aus ganz Europa zu sammeln, die Einspruch gegen den Lissabon-Vertrag einlegen, weil das natürlich kein irischer Kampf ist; es ist ein europäischer Kampf, der auf irischem Boden ausgetragen wird. Wir sehen das im Grunde als einen gesamteuropäischen Kampf zwischen den gewöhnlichen Menschen und den politischen und wirtschaftlichen Eliten. In Irland versuchen sie uns völlig zu zertreten: Sie haben das National Forum on Europe abgeschafft; sie versuchen die Entscheidungen des Obersten Irischen Gerichtshofes zu ignorieren und zu negieren; seit dem letzten Nein-Votum ist alles, was von den Konzernmedien kommt, ein anhaltender Angriff auf die Demokratie. Politiker und Großkapital haben die Wirtschaftskrise verursacht, und trotzdem geben sie uns die Schuld dafür.

Unter diesen Umständen ist die Aussicht, daß die Ja-zu-Lissabon-Seite gewinnen könnte, für mich keine große Überraschung, ich denke nur immer, daß diese Leute unterschätzen, wie mächtig der Wunsch der Menschen in Irland nach nationaler Unabhängigkeit wirklich ist. Sie werden wirklich sauer bei dem Gedanken, losziehen zu müssen, um anderer Leute Kriege zu kämpfen - wieder. Ich meine, das letzte Mal, als wir eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik hatten, war Irland noch mit Großbritannien ein Teil des Vereinigten Königreichs. In dieser zurückliegenden Zeit starben Tausende junge Iren, die in Afghanistan und in anderen fremden Ländern die Uniform des britischen Regiments trugen. Man sollte denken, daß einmal reicht. In vielen Debatten, an denen ich als Teil des National Forum on Europe teilnahm, habe ich ununterbrochen an das erinnert, was ich das historische Gedächtnis des irischen Volkes nenne, und habe Worte gebraucht wie: "Vielleicht erinnert ihr das nicht, aber ganz sicher haben eure Großväter und Urgroßväter und eure Urururgroßväter genug dieser Kämpfe im imperialen Krieg anderer Völker geführt - und einmal ist genug." Und ich konnte immer eine absolut phantastische Resonanz auf diese Äußerung feststellen.

SB: Der Widerstand der gewöhnlichen Menschen gegen militärische Abenteuer im Ausland wurde am 15. Februar 2003 deutlich, knapp einen Monat vor dem Beginn der Feindseligkeiten im Irak, als es die größte Demonstration in der Geschichte Britanniens gab, mit fast zwei Millionen Menschen auf der Straße, die gegen den bevorstehenden Krieg demonstrierten.

RC: Ja, und am gleichen Tag nahmen an der Demonstration in Dublin, die PANA gemeinsam mit dem Irish Anti-War Movement und der NRO Peace Alliance organisiert hat, über hunderttausend Menschen teil. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl war das in der Tat eine der größten Demonstrationen auf der Welt gegen den Irak-Krieg. Grund für die hohe Beteiligung war, daß wir in Irland eine sehr starke antiimperialistische Tradition haben. Das Nein zu Lissabon war im Grundsatz eine Niederlage für den Imperialismus. Und ein weiteres Nein-Votum wäre eine noch größere Niederlage für den Imperialismus. Umgekehrt wäre es ein Sieg für den Imperialismus, wenn die Ja-Seite diesmal gewinnen sollte. Aber dann handelt es sich auch um einen Kampf, der seit Hunderten von Jahren im Gange ist, und er wird nicht am 2. Oktober beendet, gleich, wer das Referendum gewinnt.

SB: In den letzten Jahren scheinen sich verschiedene Teile der Elite in Irland zu bemühen, das Problem des Klimawandels dafür zu nutzen, die Frage der Kernenergie in Irland wieder auf den Tisch zu bringen - eine Debatte, die sie Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger glorreich verloren hatten, als Pläne für ein Atomkraftwerk in Carnsore Point aufgrund des öffentlichen Widerstandes aufgegeben werden mußten. Jüngst hat ein Sprecher auf der MacGill-Sommerschule in Donegal nahegelegt, daß Irland, wenn es sein eigenes Atomkraftwerk bauen und in Betrieb nehmen will, an das britische Stromnetz gehen müßte. Auf welche Weise passen die Bemühungen, die Debatte über Atomkraft in Irland wiederzubeleben, zusammen mit den Bemühungen, das Land in die Militärstrukturen von NATO und EU zu integrieren?

RC: Ich würde mich der Vorstellung, daß jeder, der Atomkraft befürwortet, automatisch auch den Militarisierungsprozeß in Europa unterstützt, nicht anschließen, aber in der Regel ist jeder, der die Militarisierung unterstützt, auch für Atomkraft. Ich denke, es könnten triftige Gründe für Atomkraft sprechen. Es gibt neue Technologien, die zu der Zeit, als Sellafield, das damals Windscale hieß, gebaut wurde, nicht existierten. Allgemein gesagt wäre ich eher für umweltfreundlichere Technologien in der Stromproduktion wie Wellenkraft oder Windkraft neben vermehrter Einsparung von Energie. Ich meine, wenn nachgewiesen wird, daß wir ein Atomkraftwerk bauen und betreiben könnten, das wirklich sicher ist, und wir noch dazu Mechanismen entwickelt hätten, den Abfall loszuwerden etc., könnte das eine Möglichkeit darstellen. Aber wie sich die Lage zur Zeit darstellt, bin ich dagegen.

SB: Nach dem Scheitern des Lissabon-Vertrags im letzten Jahr gab es Andeutungen von der Ja-Seite, die britischen Boulevardblätter, die in Britannien traditionellerweise eine sehr europaskeptische Haltung einnehmen, hätten mit ihren irischen Ausgaben eine Rolle gespielt und ihre Leserschaft, die viele Menschen aus der Arbeiterklasse umfaßt, beeinflußt, mit Nein zu stimmen. Meinen Sie, daß an dieser Unterstellung etwas Wahres dran ist?

RC: Ich denke schon, ja. Man sollte nicht vergessen, daß 42 Prozent der irischen Bevölkerung jeden Morgen eine englische Zeitung, wenn auch die irische Ausgabe, lesen. Wir sprechen nicht nur über Menschen aus der Arbeiterklasse, die The Sun lesen. Viele Mittelklassefrauen lesen The Mail of Sunday, während eine Menge Männer aus der Mittelklasse die Sunday Times lesen. Es stimmt also in jeder Beziehung. Und die britischen Zeitungen haben eine andere Tendenz als die irischen, insbesondere was die EU betrifft. In Britannien ist die Ablehnung einer größeren Integration in die EU absolut überwältigend. Sie liegt bei 80%. Gäbe es ein Referendum in England zu Lissabon, würde es rundweg abgelehnt. Davon geht man im allgemeinen aus.

Ich habe auf mehreren Versammlungen in London gesprochen, die von Menschen organisiert wurden, die man hier im Land als rechte Tories ansehen würde, und ich bin aufgestanden und habe gesagt: "Ich bin irischer Republikaner. Möglicherweise haben Sie davon gehört, daß die Iren etwas gegen Imperien haben." Und als ich das sagte, wartete ich auf irgendeine Art von Negativreaktion, da ich die Abneigung der englischen Konservativen gegenüber IRA und Sinn Féin kenne. Aber weit davon entfernt - es gab donnernde Zustimmung und anhaltenden Applaus. Weil sie wußten, daß wir Teil ihres Imperiums waren und sie nicht Teil eines anderen sein wollten. Mit anderen Worten, auch wenn der Widerstand gegen die EU in Britannien hauptsächlich von Menschen kommt, die traditionellerweise Tories sind, ist es im Grunde ein Ausdruck von Demokratie, des öffentlichen Willens.

Das Problem ist, daß es riesige Landstriche in Nordengland gibt, in denen die Konservativen in Wahlen nie erfolgreich waren, wo die Menschen ihr ganzes Leben lang Labour gewählt haben, Generation auf Generation, und jetzt wechseln sie zur neofaschistischen British National Partei (BNP) oder zur euroskeptischen United Kingdom Independence Party (UKIP), weil sie nie im Traum für die Tories stimmen würden. Ich weiß nicht, wie stark die UKIP in Nordengland wirklich ist, ich glaube, sie hat ihre Basis mehr im Süden.

Britannien ähnelt den USA darin, daß es historisch die Feinheiten und die Sorten von Wahlmustern, die man in Irland durch das Verhältniswahlrechtsystem und die übertragbare Einzelstimme bekommt, nicht gibt. Das Mehrheitswahlrecht entpolitisiert die Bevölkerung in ganzen Regionen des Landes. Die meisten Wahlkreise wurden über Jahrzehnte hinweg entweder von Labour oder den Konservativen gehalten. So hat man in den meisten Wahlkreisen, auch schon bevor die Wahl stattfindet, eine ziemlich gute Vorstellung davon, welche Partei oder welcher Kandidat gewinnen wird. Es gibt in der Regel eine Handvoll Sitze, sogenannte Wechselsitze, die für jeden zu erringen sind. Aber jetzt hat man eine Situation in Britannien, wo in den jüngsten Europawahlen die UKIP den zweiten Platz nach den Konservativen und vor der regierenden Labour-Partei errungen hat, was ein phänomenales Resultat ist. Es zeigt einfach, daß man den Menschen ihre demokratischen Wünsche nicht auf Dauer abschlagen kann, denn sie werden am Ende die Geduld verlieren und sich ins Extrem bewegen, sei es auf der linken oder auf der rechten Seite.

Roger Cole mit einem Vertreter der SB-Redaktion

Roger Cole mit einem Vertreter der SCHATTENBLICK-Redaktion

SB: Trotz des ganzen Lärms, den die Tories jetzt veranstalten - wenn Irland im Oktober Lissabon zustimmt und der Vertrag durchkommt, wird sich David Cameron wahrscheinlich mit der Situation abfinden, sollten die Konservativen wie erwartet die nächsten allgemeinen britischen Wahlen gewinnen und sollte er Premierminister werden. Es ist kaum anzunehmen, daß Britannien den Lissabon-Vertrag in Frage stellt, außer Irland stimmt tatsächlich mit Nein.

RC: Da haben Sie wahrscheinlich recht. Aber aus den Kontakten, die ich habe, würde ich sagen, daß der Widerstand in Britannien gegen den Lissabon-Vertrag und das ganze Projekt der europäischen Integration überwältigend ist. Ich würde die Konservativen da mit einschließen, weil Cameron mit den Tories kürzlich aus der Europäischen Volkspartei, der christdemokratischen Fraktion im Europaparlament, ausgetreten ist und gemeinsam mit den euroskeptischen Parteien aus Polen und Tschechien die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten gebildet hat. Das ist ein guter Hinweis auf die Gefühlslage in Britannien. Die proeuropäische Sektion der Tory-Partei, vertreten von Leuten wie Kenneth Clarke, gibt es noch, hat aber keinerlei Bedeutung, einfach deswegen, weil die Opposition gegen das Projekt so verbreitet ist, daß das in diesem Stadium fast unumkehrbar ist.

SB: Der Wechsel der Tories zu einer neuen Allianz im Europäischen Parlament wurde von einer ähnlichen Entwicklung in Irland gespiegelt. Fianna Fáil hat kürzlich eine kleine nationalistische Gruppierung im Europäischen Parlament mit Namen Union für das Europa der Nationen verlassen, um mit den Liberalen zusammenzugehen. Wenn man das kombiniert mit den katastrophalen Ergebnissen von Fianna Fáil in den jüngsten Kommunal- und EU-Wahlen, ihrem augenscheinlichen Desinteresse an der nationalen Frage seit dem Karfreitagsabkommen und ihrem mangelnden Engagement, die irische Sprache wiederzubeleben, scheint es möglich, daß die von Éamon de Valera gegründete Partei in Richtung der Progressiven Demokraten mutiert?

RC: Ich bin der Auffassung, daß sie im Grunde seit einigen Jahren schon eine progressive demokratische, d.h. neoliberale Partei ist, die jedoch mit Hilfe ihrer Organisationsstruktur und seit langer Zeit bestehender Familientraditionen immer noch in der Lage war, einen bedeutenden Anteil der Stimmen der werktätigen Bevölkerung zu erringen.

SB: Aber das scheint für sie nicht mehr zu funktionieren.

RC: Ja, ich glaube, daß Fianna Fáil zerfällt, ein Prozeß, den der kürzlich erschienene McCarthy-Bericht über mögliche Kürzungen in den öffentlichen Ausgaben, die geplanten Staatsgarantien für die Banken und der bevorstehende extreme Sparhaushalt nur beschleunigen können. Im Grundsatz ist das, was wir in Irland im Moment erleben, ein Klassenkrieg, eine Situation, in der die regierende Klasse, also die Reichen und die Mächtigen, beschlossen haben, die werktätige Bevölkerung bis aufs Blut zu schinden und sie für die Krise zahlen zu lassen, die sie selbst verursacht haben. Dabei werden sie von den Konzernmedien und der Ja-zu-Lissabon-Lobby unterstützt, die auf ihrer Seite stehen. Aus dem Grund, glaube ich, wird das zweite Lissabon-Referendum genauso den Charakter eines Klassenkampfes haben, wenn nicht noch mehr, als es beim ersten Mal der Fall war, weil der Ärger da draußen über die Regierung, die Banken, die Baugesellschaften und den ganzen sogenannten "Goldenen Kreis" [die 10 anonymen Vorzugskunden des Pleitiers Anglo Irish Bank] einfach enorm ist.

SB: Aber wird sich das in ein Nein-Votum übersetzen oder wird das Argument, daß Irland mit Ja für Lissabon stimmen sollte, damit Europa bei der aktuellen Finanzkrise hilft oder Rettung bringt, den Ausschlag geben?

RC: Nun, das ist natürlich eine Option. Es ist sehr wohl möglich, daß die Menschen soviel Angst haben, daß sie mit Ja stimmen. Auf der anderen Seite sind sie auch so verdammt sauer über die aktuelle wirtschaftliche und politische Lage, daß sie mit Nein stimmen könnten. Aus dem Grund müssen wir die Botschaft vermitteln, daß Lissabon eine europäische Schlacht ist, die auf irischem Boden stattfindet. Das ist der Grund, warum wir in der PANA eine Menge Zeit und Mühe darauf verwandt haben, Verbindungen in ganz Europa zu knüpfen. Und deshalb setze ich auch meine Hoffnungen in den Start der Website Europe says No, so daß wir eine richtige Mobilisierung in Britannien und in den anderen europäischen Staaten in Gang bringen. Die Leute, die die Website planen, kommen von einer Gruppe in England namens Democracy Movement. Sie ist nicht allzu groß, aber sie hat Verbindungen hier in Irland und auf dem Kontinent und zwei ausgesprochen vernünftige, kluge Menschen, die sich in Vollzeit der Arbeit an dieser Kampagne widmen. Die PANA selbst hat Kontakte zur Linkspartei in Deutschland und zu den Anti-Lissabon-Parteien in Frankreich und in Holland. Wir hatten sogar den Generalsekretär der niederländischen sozialistischen Partei hier in Irland, der sich deutlich gegen den Lissabon-Vertrag ausgesprochen hat.

SB: Mitglieder der Linkspartei, Tobias Pflüger zum Beispiel, werden auf der Friedenskonferenz Anfang September in Shannon erwartet, die PANA und die irische Antikriegsbewegung organisiert haben.

RC: Wir arbeiten schon lange daran. Das passiert nicht über Nacht. Frank Keoghan zum Beispiel vom People's Movement und ich sind kürzlich nach Berlin eingeladen worden, um vor dem Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten der Linkspartei zu sprechen. Einer der Unterschiede zur Kampagne im letzten Jahr ist, daß Sinn Féin damals, wann immer wir darauf drängten, Repräsentanten aus anderen Ländern einzuladen, dagegen war. Aber wie ich es jetzt verstehe, haben sie ihre Politik geändert und sind jetzt auch stark dafür. Die PANA ist mit vielen Gruppen und Parteien assoziiert, aber das heißt nicht, daß sie alle automatisch mit unserer Analyse übereinstimmen. Wir setzen uns im Exekutivgremium der PANA zusammen, diskutieren die Fragen und beschließen dann eine bestimmte Strategie. Die angeschlossenen Gruppen ziehen mit, wenn sie damit einverstanden sind, wenn nicht, sehen sie davon ab. Die Grüne Partei Irlands zum Beispiel ist Mitglied bei der PANA.

SB: Trotz der Tatsache, daß sich die Grünen auf ihrem jüngsten Sonderparteitag Ende Juli dafür mehrheitlich ausgesprochen haben, mit Ja zu Europa zu stimmen?

RC: Ja, aber sie sind noch immer mit uns assoziiert. Wir haben keine Mechanismen, noch streben wir welche an, Mitgliedsgruppen auszuschließen. Unsere Begründung ist, daß diesen Leuten am Ende ein Licht aufgehen wird und sie sich zurück in unsere Richtung bewegen. Wir können falsch liegen, aber trotzdem ist das unser Standpunkt. Ich meine, im Grunde kann es nicht ein militarisiertes und ein Grünes Europa zur gleichen Zeit geben; sie widersprechen sich gegenseitig. Man kann nicht herumlaufen und sagen: "Ich bin für ein Grünes Europa, und Atomwaffen sollten grün angemalt werden, bevor sie Menschen töten." Ich glaube nicht, daß das bei den Wählern gut ankommt. Das ist der Grund, wieso die Grüne Partei bei den jüngsten EU- und Kommunalwahlen in Irland so katastrophal abgeschnitten hat, weil die Menschen ihnen nicht mehr glauben. Wegen der ganzen Kompromisse, die sie in der Koalition mit Fianna Fáil eingegangen sind, haben sie jede Glaubwürdigkeit verloren und sind zunehmend bedeutungslos geworden. Was die Grünen empfehlen, wird also nicht so ausschlaggebend für die Abstimmung über Lissabon sein.

SB: Aber die Unterstützung für Sinn Féin, die im letzten Jahr viel zur Kampagne für ein Nein-Votum beigetragen hat, stagniert zur Zeit in der Republik. Besteht nicht die Gefahr, daß sie nicht in der Lage sein wird, soviele Menschen zu mobilisieren, oder daß sie nicht mehr effektiv genug wird, um das Nein-Votum diesmal zustandezubringen?

RC: Es steckt etwas Wahres in dem, was Sie sagen, aber der Hauptgrund, dafür, daß die Leute Sinn Féin verlassen, hat nichts mit dem Lissabon-Vertrag zu tun. Es liegt daran, daß sie nicht genügend republikanisch und sozialistisch ist. Alle Parteimitglieder, die Sinn Féin derzeit verlassen, werden gegen den Lissabon-Vertrag mobilisieren.

SB: Sie treten Gruppen wie Éirígí bei.

RC: Ja, und sie werden noch immer sehr aktiv für die Ablehnung kämpfen. Wir werden also nicht wirklich an Boden verlieren; es werden viele derselben Leute dabei sein, einige von ihnen einfach nur in anderen Gruppen. Sinn Féin wird für ein Nein-Votum kämpfen, und so werden es alle Menschen, die die Partei verlassen, um anderen Gruppen beizutreten wie der, die sie gerade erwähnt haben. Éirígí ist auch Mitglied der PANA, gemeinsam mit 33 weiteren Gruppen, von der CND bis Pax Christi, über die Irish Missionary Union, die Grüne Partei zu Sinn Féin und zur Irisch Republikanischen Sozialistischen Partei.

SB: Sie haben früher erwähnt, daß Sie Mitglied der Labour Partei waren. Sind Sie das noch immer?

RC: Ja, absolut.

SB: In welchem Ausmaß gibt es eine Opposition gegen den Lissabon-Vertrag innerhalb der Labour-Partei, oder folgen die meisten Mitglieder der Linie der Parteiführung?

RC: Sie neigen dazu, unglücklicherweise. Aber ich war kürzlich auf der Tom-Johnson-Sommerschule der Labour Partei, die von der Labour Jugend organisiert wird, und es ist so, daß eine ganze Gruppe junger Kandidaten der Labour Partei in den jüngsten Kommunalwahlen erfolgreich war, besonders in Dublin, und sie haben auf ihrer Konferenz in diesem Jahr gegen den Lissabon-Vertrag gestimmt.

SB: Also ziehen sie los und kämpfen auch für das Nein-Votum.

RC: Ja. Es muntert mich irgendwie auf, wo ich langsam meine altersschwachen Tage erreiche, eine neue Welle junger, von James Connolly inspirierter Sozialisten in der Partei aufsteigen zu sehen. Es bestätigt mich in meiner Überzeugung, daß dies ein ständiger Kampf ist - ein Kampf zwischen dem Imperialismus und den Menschen, die an die irische Demokratie glauben. Er geht zurück auf Wolfe Tone, der in einem Pamphlet, das er 1790 über einen möglichen Krieg zwischen dem British Empire und dem Spanischen Imperium geschrieben hat, empfahl, daß Irland neutral bleiben solle. Dieser Kampf findet also schon seit langer Zeit statt und wird auch nicht am 2. Oktober zu Ende sein. Es wird ganz einfach weitergehen. Für mich steht das außer Frage. Aber was ich ermutigend finde, ist, daß dieser spezielle Konflikt an eine neue Generation weitergegeben wird. Es freut mich zu wissen, daß die Bastarde nicht gewinnen werden. Die Reichen glauben, daß es vorbei ist und daß sie bereits gewonnen haben, aber das stimmt nicht. Es ist ein ständiger, sich selbst erneuernder Kampf der irischen Menschen, die an die irische Unabhängigkeit, irische Demokratie und irische Neutralität glauben, die ihn Hunderte von Jahren geführt haben und niemals aufgeben werden. Wir werden uns nie geschlagen geben, nie den Kampf aufgeben und deshalb werden sie uns niemals besiegen.

SB: Roger Cole, vielen Dank für das Interview.

Dalkey Island und dahinter die Irische See

Dalkey Island und dahinter die Irische See

25. August 2009