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ASIEN/829: Kundus, Taliban melden sich spektakulär zurück (SB)


Kundus, Taliban melden sich spektakulär zurück

"Wiederaufbau"-Mission der NATO in Afghanistan kolossal gescheitert


Die Annahme, wonach sich die Taliban nach Bekanntwerden des vor bereits zwei Jahren erfolgten Todes ihres legendären Anführers Mullah Mohammad Omar in interne Machtkämpfe verstricken und durch den Übertritt mehrerer Rebellenverbände zum Islamischen Staat (IS) ihre Macht in Afghanistan einbüßen würden, hat sich durch den spektakulären Fall von Kundus am 28. September als unzutreffend erwiesen. Es sieht eher so aus, als wäre durch die Einnahme der fünftgrößten Stadt Afghanistans und das offensichtliche Versagen der afghanischen Streitkräfte trotz westlicher Militärhilfe, die Eroberer wieder zu verjagen, die NATO-Mission am Hindukusch endgültig gescheitert. Der bislang unaufgeklärte Umstand, daß die US-Luftwaffe bei der versuchten Rückeroberung in der Nacht zum 3. Oktober ein Krankenhaus der Ärzte ohne Grenzen bombardierte und mindestens 22 Menschen tötete, zeigt als mögliches Versehen, welches die Grenzen militärischer Macht - selbst die der nach eigenen Angaben "stärksten Allianz der Menschheitsgeschichte" - sind oder Schlimmeres.

Mitte September haben die Taliban den im Juli ausgebrochenen Streit um die Nachfolgeschaft Omars beilegt, als dessen Familie nach anfänglichem Zögern die Führungsposition von Mullah Aktar Mansur öffentlich anerkannte. Mansur, dem von Verfechtern einer militärischen Lösung vorgeworfen worden war, zu sehr auf die diplomatischen Offerten Kabuls einzugehen, zögerte nicht lange, seine Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen. Anläßlich des Endes der Fastenzeit Ramadan gab Mansur am 22. September eine Erklärung heraus, in der er die Dauerforderung der Taliban nach einem Abzug aller ausländischen Soldaten aus Afghanistan erneuerte und von Präsident Aschraf Ghani die Aufkündigung des im vergangenen September von ihm unterzeichneten Truppenstationierungsabkommens mit den USA als Grundbedingung für ein Ende des Krieges verlangte. Des weiteren bezichtigte Mansur diejenigen unter den Aufständischen, welche sich in den zurückliegenden Monaten von den Taliban distanzierten, um sich dem IS anzuschließen, den Widerstand gegen die Invasoren zu schwächen und deren Arbeit zu verrichten.

Nicht einmal eine Woche nach Mansurs erster offizieller Stellungnahme als Nachfolger Omars wehte die Fahne des Islamischen Emirats Afghanistan über Kundus, während jubelnde Taliban-Kämpfer mit erbeuteten Panzerfahrzeugen der afghanischen Armee durch das Stadtzentrum fuhren und mit Mobiltelefonen Selfies von sich schossen. Die Einnahme von Kundus, die offenbar von langer Hand geplant und bestens vorbereitet war, stellt den größten militärischen Erfolg der Taliban dar, seit sich die Führungsriege der Organisation vor dem Ansturm der NATO und der Nordallianz im Dezember 2001 fluchtartig aus Kabul zurückzog und in die afghanisch-pakistanische Grenzregion absetzte.

Die Eroberung von Kundus weckt Erinnerungen an die schlagartige Einnahme von Mossul durch IS-Freiwillige im Juni 2014. In beiden Fällen übergaben die Verteidiger die jeweilige Stadt fast kampflos an die Angreifer. In Kundus haben sich mehr als 5.000 afghanische Soldaten von rund 500 Taliban-Kämpfern bezwingen lassen. Berichten zufolge waren Taliban-Mitglieder bereits Tage vor dem eigentlichen Angriff als Zivilisten verkleidet in die Stadt eingesickert. Womöglich gab es auch noch Taliban-Sympathisanten unter den Sicherheitskräften. Während viele Soldaten einfach flohen, sollen sich mindestens 110 Polizisten nach der Eroberung von Kundus den Taliban angeschlossen haben. Darüber hinaus haben die Taliban 600 Häftlinge, darunter 100 eigene Kampfgenossen, aus dem Zentralgefängnis der Stadt befreit.

Der Fall von Kundus ist aber noch in anderer Hinsicht von besonderer Bedeutung, denn die Stadt liegt im Norden Afghanistans und nicht in den hauptsächlich von Paschtunen bewohnten Provinzen im Süden und Osten des Landes. Wie Joseph Goldstein am 1. Oktober in der New York Times unter der Überschrift "A Taliban Prize, Won in a Few Hours After Years of Strategy" berichtete, haben die Taliban ihre Rekrutierungsbemühungen unter den anderen nicht-paschtunischen Volksgruppen in den letzten zwei Jahren verstärkt - und das offensichtlich mit Erfolg. Dies hat zur Folge, daß sich in den Reihen der Taliban-Einheiten, die Teile von Kundus nach wie vor halten sowie inzwischen die Verbindungsstraße zu Masar-i-Scharif und weitere Bezirke Nordafghanistans kontrollieren, viele Tadschiken, Usbeken und Hasara befinden. Gemessen an den 65 Milliarden Dollar, welche seit 2001 allein in den Wiederaufbau der afghanischen Polizei und Armee investiert wurden, haben die USA wenig vorzuweisen. Ob die 13.000 westlichen Soldaten, die nach dem offiziellen Abzug der NATO-Kampftruppen im vergangenen Jahr in Afghanistan geblieben sind, den Vormarsch der Taliban noch stoppen können, ist zweifelhaft.

5. Oktober 2015


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